Zum 60. Geburtstag vereinigten sich in einer Festschrift die unterschiedlichsten Geister von Rang, von Gerhart Hauptmann bis Alfred Kubin, um einen der bedeutendsten Kunsthistoriker– er nannte sich selbst „Kunstschriftsteller“ – und Kulturhistoriker unseres Jahrhunderts zu würdigen. Damals, im Jahre 1927, waren bereits die wichtigsten Bücher Meier-Graefes herausgekommen. Er selbst hatte sich neben seinen kunstgeschichtlichen Kompendien und Essays auch als Literat mit Werken verschiedenen Ranges, so mit den von seinem Freunde und Gefährten in der russischen Kriegsgefangenschaft, Heinrich Graf Luckner, den er zur Malerlaufbahn ermunterte, mit Steinzeichnungen illustrierten, ironischen Novellen „Geständnisse meines Vetters“, dem Lustspiel „Heinrich der Beglücker“ und dem Roman „Dostojewski, der Dichter“ einen Namen gemacht. Julius Otto Bierbaum hat ihn als Bohemien in seinem Werk „Stilpe“ in der Gestalt des Zungenschnalzers porträtiert. Aus dem literarischen Œuvre ist noch der Roman „Nach Norden“ (Erstlingswerk 1893) hervorzuheben.
Julius Meier-Graefe wurde 1867 in Reschitza im Banat als Sohn eines Generaldirektors geboren. Er studierte in Berlin, München, Lüttich und Zürich. 1895 war er in Berlin Mitbegründer der Zeitschrift „Pan“, im Zentrum der damaligen geistigen und künstlerischen Bewegung, von 1896 bis 1900 in Paris und Herausgeber der programmatischen Reihe „L’art décoratif“. 1900 gab er die Zeitschrift „Germinal“ heraus. In engagierter, bildhafter Sprache setzte er sich nachdrücklich und manchmal mit genialischer Einseitigkeit für die Künstler ein, in denen er nicht nur Höhepunkte der Entwicklung, sondern auch die wesentliche Verkörperung der Kunst sah. Vor allem wurde er zum Verfechter des Impressionismus und zum Streiter für eine Reihe von Begabungen, die andere in ihrer Bedeutung nicht so früh erkannten. Man erinnert sich an die Superlative, die er etwa für den heute wiederentdeckten pommerschen Maler Paul Kleinschmidt fand („ein Prolet und Hymnensänger“), dem er zum Durchbruch verhalf. Mit sachlicher Schärfe und Präzision, aber auch in geradezu balladeskem Stil wußte er in seinen Monographien Hans von Marées (drei Bände), Cezanne, Vincent van Gogh, Delacroix, Courbet, Renoir oder Corot zu würdigen. Symptomatisch sind Titel wie etwa der seines Buches „Der Fall Böcklin“ (1905). Im Zentrum seines Werkes stehen die drei Bände „Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst“, die er von der ersten Auflage 1904 bis zur vierten Auflage 1924 immer wieder, sich selbstkritisch korrigierend, bearbeitete. Über die kunsthistorischen Aspekte hinaus war er von offener, mutiger und leidenschaftlicher Selbstaussage und Deutung der Zeit der Umbrüche vom Wilhelminismus bis zum sich anbahnenden „Dritten Reich“, auch ein Beobachter und Richter seiner Umgebung und der deutschen Welt. So muten uns manche Äußerungen zur Abfolge der Generationen und Gesinnungen höchst aktuell an. Neben leidenschaftlichen Stellungnahmen gibt es dann wieder charakterisierende ironische und aus kritischer Distanz niedergeschriebene Bücher, wie das 1927 erschienene „Pyramide und Tempel, Notizen während einer Reise nach Ägypten, Palästina, Griechenland und Stambul“.
Zu seinem heute nicht immer leicht nachvollziehbaren, auch zu hymnischenÄußerungen bereiten Stil gehören Bilder, deren Anschaulichkeit zukunftweisend ist, z.B. die Kennzeichnung von Adolph von Menzel: „Der kleine Mann versprach jenen Realismus, aus dem das Klassische hervorgeht.“ Über Corot schreibt er: „Die Lerche, die sich klein dünkte neben dem Adler Rousseau, stieg höher. Sie schwirrte über ConstablesÄcker und Gehöfte hinweg und nahm kreisend das alte Holland.“ Über Rembrandt ist zu lesen: „Rembrandt sieht man mit einem Glasscherben in der Hand, in den er hineinblickt, um sein Gesicht zu studieren. Ein halb dunkles, liederliches Gemach, zerbrochene Fensterscheiben, geborstene Möbel. Auf einem Kasten zwischen Farben und zerkautem Pinsel liegt, wie ein gestohlenes Gut, ein Kranz von Perlen. Den versteckt er, sobald einer hereinkommt. Er kann stundenlang so sitzen und starren, ohne eine Miene zu verziehen. Judengören grölen vor den Fenstern. Die Leute zeigen ihn sich wie eine Sehenswürdigkeit des Viertels. Es sitzt und starrt in den Scherben. Dann geht er an die Staffelei in der Ecke und malt eine Heiligenlegende.“
Max Liebermann hat er gerühmt, Lovis Corinth in seiner Einmaligkeit begriffen, Klossowski früh in seiner Bedeutung erkannt, Braque vor und gegen Picasso gesetzt, um nur einige ganz unterschiedliche Beispiele seiner Liebe oder Ablehnung zu nennen.
Drängte sich auch häufig der Literat in ihm zu sehr vor den Kunsthistoriker, so mag man lieber das in Kauf nehmen als Fehlurteile oder Akademismen.
Nach einer gewissen Renaissance, die zugleich manche Distanz bedeutete und auch Neuauflagen brachte, zum 100. Geburtstag, so vor allem die Neuausgabe des Hauptwerkes in zwei Bänden durch Benno Reifenberg und Annemarie Meier-Graefe-Broch, ist eine Aufbereitung seiner Lebensleistung in durchaus kritischer Sicht fällig.
Immer wieder nachzulesen und zu bedenken bleibt der Satz aus dem Kapitelüber Cezanne: „Kunst ohne Welt ist Wahnsinn.“
Werke:„Nach Norden“. Eine Episode, Berlin 1893; „Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst“. Erste Fassung, Stuttgart 1904. Zweite Fassung, München 1914 (Bd. I/II), 1924 (Bd. III); „Der Fall Böcklin und Die Lehre von den Einheiten“, Stuttgart 1905; „Der junge Menzel“, München 1906; „William Hogarth“, München 1907; „Impressionisten“ (Guys, Manet, Van Gogh, Pissarro, Cezanne), München 1907; „Die großen Engländer“, München 1908; „Hans von Marées“, Drei Bände, München 1909/ 1910; „Spanische Reise“, Berlin 1910; „Paul Cezanne“, München 1910,Endgültige Ausgabe 1923; „Vincent van Gogh“, München 1910; „Auguste Renoir“, München 1911; „Hans von Marées“, München 1912; „Edouard Manet“, München 1912; „Eugene Delacroix“, München 1913; „Camille Corot,“ München 1913; „Der Tscheinik“, Berlin 1918, (Später als: Die weiße Straße.); „Cezanne und sein Kreis“, München 1918; „Edgar Degas“, München 1920; „Gustave Courbet“, München 1920; „Vincent“, Zwei Bände, München 1921; „Geständnisse meines Vetters“, Novellen, Berlin 1923; „Der Zeichner Hans von Marées“, München 1925; „Dostojewski, der Dichter“, Berlin 1926; „Pyramide und Tempel“, Berlin 1927; „Renoir“, Leipzig 1929; „Der Vater“, Roman, Berlin 1932; „Geschichten neben der Kunst“, Berlin 1933.
Lit.: Benno Reifenberg. Das Abendland gemalt, Frankfurt 1950; Julius Meyer-Graefe: Grundstoff der Bilder, ausgewählte Schriften. Hrsg. von Carl Limfert, München 1959.