Biographie

Middendorff, Alexander Theodor von

Herkunft: Baltikum (Estland, Lettland, Litauen)
Beruf: Naturwissenschaftler, Forschungsreisender, Landwirt
* 6. August 1815 in St. Petersburg
† 16. Januar 1894 in Hellenorm/Livland

Alexander war ein Sohn des deutschbaltischen Lehrers Theodor Johann Middendorff, der in St. Petersburg zum Direktor des dortigen Pädagogischen Hauptinstituts aufstieg. Seine Mutter Sophie hingegen entstammte der Verbindung eines baltischen Gutsherrn mit einer leibeigenen Estin, und der Junge verbrachte mit der Mutter seine Kindheit, verborgen gehalten, in Estland, bis die Eltern nach der Sicherung der Karriere des Vaters 1824 heiraten konnten. Nach häuslichem Privatunterricht in Reval besuchte Alexander nun in St. Petersburg ein Gymnasium, um anschließend eine Zeitlang beim russischen Finanzministerium tätig zu sein. Ab 1832 aber studierte er in Dorpat.

Die deutsche Universität Dorpat war zu jener Zeit die beste im Russischen Reich. Middendorff studierte dort Medizin und schloss dies 1837 mit der Promotion ab, er erhielt an dieser Alma Mater aber auch viele sonstige Anregungen. Ein Zeichen seiner Verbundenheit stellt es dar, dass er später Inseln und sonstige geographische Gegebenheiten, die er in Sibirien entdeckte, nach Professoren und hervorragenden Absolventen von Dorpat benannte. Wie viele andere in Dorpat Examinierte vervollkommnete Middendorff seine Ausbildung noch durch einen anschließenden Besuch westlicher Universitäten.  Er hielt sich in Berlin und in weiteren mitteleuropäischen Universitätsstädten auf, wo er sich aber nicht der Medizin, sondern den Naturwissenschaften, namentlich der Zoologie, widmete. Erst 1839 kehrte er nach St. Petersburg zurück.

Aufgrund einer Empfehlung durch den bekannten Zoologen Karl Ernst von Baer (vgl. OGT 1992, S. 38-40) erhielt Middendorff im Herbst 1839 eine Stelle als Adjunkt-Professor an der Universität Kiew. Er hielt dort zoologische und ethnographische Lehrveranstaltungen ab. Obwohl er in anderen deutschen Lehrkräften dieser jungen Universität gute Freunde fand, fühlte er sich dort nicht heimisch, und nachdem Baer Mittel für eine Expedition bewilligt erhalten hatte, folgte er gern dessen Angebot, ihn zu begleiten. Die Reise, die von Mai bis Oktober 1840 dauerte, ging nach Russisch-Lappland und an die Weißmeerküste. Middendorff konzentrierte sich hier auf ornithologische Beobachtungen, sammelte Material zur sonstigen Tier- sowie zur Pflanzenkunde und stellte u.a. fest, dass der Fluss Kola auf der gleichnamigen Halbinsel eine andere Laufrichtung hatte als bislang angenommen.

Anschließend erstrebte Middendorff die Entlassung aus dem Dienst in Kiew, wo man ihn aber gern behalten wollte und zum Außerordentlichen Professor ernannte. Eine Entscheidung fiel, nachdem ein Antrag von Baer auf eine große Sibirien-Expedition positiv beschieden worden war. In Anbetracht der überzeugenden Leistungen Middendorffs während der gemeinsamen Lappland-Reise schlug Baer ihn zum Leiter der Expedition vor.  So kam es zu dessen Reise nach Ostsibirien, die vom November 1842 bis zum März 1845 dauerte. Die räumlichen Ziele bildeten dort die bisher so gut wie unerforschte Tajmyr-Halbinsel, die das am weitesten im Norden gelegene Festlandgebiet der Erde darstellt, ferner das Land am Amur und die Küste des Ochotskischen Meeres. Vorgenommen wurden Messungen zum Dauerfrostboden und Erdmagnetismus, ebenso stand die Verbreitung der Flora und Fauna im Aufmerksamkeitsfeld, beachtet wurden aber auch die einheimischen ethnischen Gruppen und ihre Sprachen.  Die Auswertung dieser Beobachtungen und die Untersuchung des in großem Umfang gesammelten Pflanzen- und Tiermaterials beanspruchten eine lange Zeit. Die für die Sibirienkenntnis höchst wichtigen Ergebnisse finden sich vor allem in vier großen Bänden, die Middendorff zwischen 1847 und 1875 unter Mitarbeit von Spezialisten herausgab. Aufgrund früher Berichte stand aber schon 1845 fest, dass die Expedition ein großer Erfolg war.

Bereits im Jahre seiner Rückkehr aus Sibirien wurde Middendorff zum Adjunkten der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften gewählt, in deren Rahmen er nun tätig wurde und 1850 zum Außerordentlichen Mitglied, 1852 zum Ordentlichen aufstieg.  Mit einem Schwergewicht auf der Zoologie publizierte er zu verschiedenen Wissensgebieten in deutscher und russischer Sprache. Im Jahre 1850 heiratete er Hedwig Elisabeth von Hippius, die einer in St. Petersburg ansässig gewordenen estländischen Familie angehörte. Aus diesem Anlass kaufte sein Vater für ihn das Gut Helllenorm im Gebiet von Dorpat. Hierhin siedelte der Sohn mit seiner Familie im Jahre 1860 über, doch blieb er mit St. Petersburg verbunden. Sein dortiges hohes Ansehen kam darin zum Ausdruck, dass Middendorff 1865 zum Ehrenmitglied der Akademie der Wissenschaften gewählt wurde und man ihn aufgrund seiner Kenntnisse und Erfahrungen wiederholt zur Begleitung von Angehörigen der Zarenfamilie auf Reisen im Ausland und in Russland heranzog. Bei diesen Reisen verfolgte er auch wissenschaftliche Erkenntnisziele. Auf diese Weise entstand ein großer Aufsatz von ihm über die Natur der Steppe Baraba in Westsibirien, während Messungen bei einer Seefahrt vom russischen Norden nach Island die Grundlage einer Publikation über den östlichen Ausläufer des Golfstroms bildeten. Im Jahre 1878 unternahm er eine Reise nach Turkestan, und in einer umfangreichen Arbeit über das dortige Ferghanatal bot er nicht nur eine eindringliche Beschreibung der Natur und des Wirtschaftslebens, sondern auch Empfehlungen für eine sinnvolle Verwaltungspolitik in diesem kürzlich von Russland eingenommenen Gebiet.

Die Verlegung des Wohnsitzes der Familie nach Hellenorm führte aber doch zu einer hohen Beanspruchung durch dortige Aufgaben. Middendorff, der 1861 in die Livländische Ritter­schaft aufgenommen wurde, bewirtschaftete seinen Besitz als engagierter Landwirt und tat darüber hinaus viel für die Entwicklung der Landwirtschaft in den russischen Ostseeprovinzen. Von 1862 bis 1882 war er Präsident der Livländischen Gemeinnützigen und Ökonomischen Sozietät, einer ursprünglich exklusiven Organisation des Adels, deren Wirkungsfeld er durch landwirtschaftliche Ausstellungen, die Gründung von Zweiggesellschaften und die Heranziehung von lettischen und estnischen Bauern erweiterte. Anregungen für ihre Tätigkeit erhielten die Letzteren ferner durch eine estnischsprachige Zeitung, deren Erscheinen Middendorff förderte. Ihm ist neben manchem Weiteren auch die Züchtung der baltischen roten Rinderrasse zu verdanken.

Radikal waren seine Vorstellungen zur Reform der Landesverfassung. Middendorff hielt es für notwendig, die Privilegierung der Ritterschaft, die auf dem Lande die Alleinherrschaft besaß, zu begrenzen und Repräsentanten der Städte sowie Esten und Letten an der Arbeit des Landtages zu beteiligen. Ein Zusammengehen der Deutschbalten mit den Esten und Letten betrachtete er als Voraussetzung für eine gute Zukunft des Landes. Die Angehörigen der Ritterschaften waren aber generell zu sehr auf ihre Privilegien fixiert und der neue Nationalismus der Esten und Letten führte zu einer zu starken antideutschen Haltung, als dass Middendorff seine politischen Ziele hätte erreichen können.  Dies stand im Gegensatz zu seinen großen Erfolgen auf wirtschaftlichem Gebiet und vor allem als ungewöhnlich vielseitiger Wissenschaftler, der in Russland und im Ausland – etwa als Ehrenmitglied wissenschaftlicher Gesellschaften – höchste Anerkennung fand.

Werke: Bericht über die ornithologischen Ergebnisse der naturhistorischen Reise nach Lappland während des Sommers 1840, in: Beiträge zur Kenntnis des Russischen Reiches und der angränzenden Länder Asiens 8 (1843), S. 187-258. – (Hrsg.) Reise in den äußersten Norden und Osten Sibiriens während der Jahre 1843 und 1844 mit allerhöchster Genehmigung auf Veranstaltung der Kaiserlichen Akademie zu St. Petersburg ausgeführt, 4 Bde., St. Petersburg 1847-1875. – Die Barabá, St. Pétersbourg 1870. – Der Golfstrom ostwärts vom Nordkap, in: Dr. A. Petermann᾽s Mitteilungen aus Justus Perthes᾽ Geographischer Anstalt 17 (1871), S. 25-34. – Einblikke in das Ferghana-Thal, St. Pétersbourg 1881. – Auf Schlitten, Boot und Rentierrücken, bearb. und hrsg. v. Gerold Alschner, Leipzig 1953.

Lit.: Theodor Lackschewitz, Alexander von Middendorff (1815-1894). Forschungsreisender und Landwirt, in: Jahrbuch des baltischen Deutschtums 1961 (Lüneburg 1960), S. 112-118. – Jana Turza, Alexander Theodor von Middendorff und die naturwissenschaftliche Erschließung Sibiriens, in: Der Beitrag der Deutschbalten und der städtischen Rußlanddeutschen zur Entwicklung des Russischen Reiches von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, hrsg. v. Boris Meissner und Alfred Eisfeld, Köln 1999, S. 175-185. – Erki Tammiksaar, Alexander Theodor von Middendorff und die Entwicklung der livländischen Gesellschaft in den Jahren 1860 bis 1865, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 59 (2010), S. 147-185. – Eva-Maria Stolberg, Alexander von Middendorff und sein Beitrag zur Erforschung Sibiriens (1842-1844), in: Deutsch-Baltisches Jahrbuch 62 (2014), S. 63-79. – N[atal᾽ja]  G[eorgievna] Suchova , Ė[Erki] Tammiksaar, Aleksandr Fedorovič Middendorf. K dvuchstoletiju so dnja roždenija [Alexander Middendorff. Zum 200. Jahrestag der Geburt], 2. Aufl., Sankt-Peterburg 2015.  – Marcus Rohn, Die wissenschaftliche Erschließung des Zarenreichs. Der Beitrag Alexander von Middendorffs in Wort und Bild, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 66 (2017), S. 515-537.

Bild: Theodor Lackschewitz, Alexander von Middendorff.

Norbert Angermann