Biographie

Moltke, Helmuth James Graf von

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Jurist, Widerstandskämpfer
* 11. März 1907 in Gut Kreisau/Niederschlesien
† 23. Januar 1945 in Berlin-Plötzensee

Zum 100. Mal jährt sich am 11. März 2007 der Geburtstag Helmuth J. Graf von Moltkes, des Initiators und Hauptes des nach dem niederschlesischen Familiengut der Moltkes benannten Kreisauer Kreises. Aus Anlass des 50. Jahrestages seiner Hinrichtung am 23. Januar 1945 in der Richtstätte Berlin-Plötzensee ist der Person Moltkes und den Stationen seiner Biographie an dieser Stelle (Ostdeutsche Gedenktage 1995, S. 34-38) bereits hinreichend gedacht worden. So soll in der folgenden Betrachtung zu seinem 100. Geburtstag der Schwerpunkt auf dem liegen, wofür Helmuth von Moltkes Name im öffentlichen Gedächtnis bis heute steht: dem Geist und dem Denken jenes um seine Person zentriertenKreisauer Kreises. Wofür standen Moltke und die Kreisauer, wie war ihr Verhältnis zum ,20. Juli‘ und welches war ihr historischer Ort im deutschen Widerstand? Von wenigen kritischen Einsprüchen abgesehen, herrscht bis heute einBild vor: das Bild der auf Selbstbesinnung, moralische Läuterung und eine geistige Erneuerung Deutschlands zielenden Vereinigung großteils jugendbewegter, religiös-humanistischer Idealisten aus bildungsbürgerlichem und aristokratischem Milieu. Das unbestritten hohe moralische Ethos wirkte hemmend auf die Bereitschaft zur politischen Tat. Kühne Visionen einer fernen deutschen und europäischen Zukunft nach einem verlorenen Krieg und einer in ihrer Dauer nicht absehbaren Besatzungsherrschaft standen auf der Tagesordnung der Kreisauer, nicht konkrete Umsturzpläne zur Abwendung des drohenden Unheils einer totalen Niederlage in „letzter Stunde“. Als den „Hamlet des Widerstands“ hat vor einigen Jahren der amerikanische Historiker Theodore Hamerow mit leicht abschätzigem Unterton Helmuth von Moltke charakterisiert,„ständig in Gewissenskämpfe verstrickt, unaufhörlich im Ringen mit den Forderungen und Widersprüchen einer Zeit, die aus den Fugen war“. Gleich ihm, so Hamerow, auch die anderen Kreisauer wie letztlich der bürgerliche Widerstand insgesamt:„Wie der Prinz von Dänemark waren sie unfähig, zu entscheiden zwischen Sein oder Nichtsein.“ Das Bild vom theoretisierenden Debattierclub junger intellektueller Moralisten in behaglich-feudalem Ambiente, die „nichts getan“ und „nur gedacht“ hätten, war nicht zuletzt von Moltke selbst im denkwürdigen Abschiedsbrief an seine Frau aus der Tegeler Haft vom 10. Januar 1945, dem Tag vor seiner Verurteilung durch den Volksgerichtshof, begründet worden. „Wir haben keine Gewalt anwenden wollen – ist festgestellt: wir haben keinen einzigen organisatorischen Schritt unternommen […] Wir haben nur gedacht“, hatte es dort geheißen, und wenige Zeilen weiter: „Wir sind aus jeder praktischen Handlung heraus, wir werden gehenkt, weil wir zusammen gedacht haben.“

In einer kritischen Auseinandersetzung mit Gerrit van Roons’ umfassender Studie über den Kreisauer Kreis (Neuordnung im Widerstand) hat der damalige Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier, einer der wenigen Überlebenden aus der engeren Umgebung Moltkes, im Jahre 1967 dieses angeblich von Lionel Curtis, Moltkes englischem Freund aus gemeinsamen Oxforder Tagen, nach dem Krieg verbreitete Bild eines„Märtyrers der Gewaltlosigkeit“ als eine „fatale Idealisierung der Kreisauer, insbesondere Moltkes“ bezeichnet und diesbezüglich gar von einer „Mythologisierung“ gesprochen. Curtis und, durch ihn vermittelt, die Nachwelt seien einer Legendenbildung aufgesessen, die die juristische Verteidigungsstrategie der angeklagten Kreisauer vor dem Volksgerichtshof für allzu bare Münze genommen habe. „Zwischen unserer Verteidigungsthese und dem, was wir wirklich wollten und taten“, so Gerstenmaier wörtlich, „war jedoch ein profunder Unterschied. Wir können nicht geltend machen, jenem Gericht ,die Wahrheit‘ gesagt zu haben. Wir taten das Gegenteil […] Es ging um die Fortsetzung des Kampfes mit anderen Mitteln. Es ging um unseren Kopf und die Köpfe vieler anderer.“ Gerstenmaiers nachträgliche – sollte man sagen – „Ehrenrettung“? Moltkes und seiner eigenen Kreisauer Freunde aus dem Makel der notorischen „Denker und Planer“ war deutlich von dem Wunsch diktiert, sie näher an den ,20. Juli‘ heranzurücken, an jenes Datum und an jene Tat, mit der „der Widerstand seine Existenz sichtbar vor aller Welt bezeugt hatte“ (Bodo Scheurig). Dies entsprach genau dem Weg, den er selbst zusammen mit Peter Graf York und Fritz Dietlof von der Schulenburg nach dem organisatorischen Ende des Kreises infolge der Verhaftung Moltkes im Januar 1944 gegangen war – den Weg des Anschlusses an die Umsturzbewegung des ,20. Juli‘ um Ludwig Beck, Carl Goerdeler und die Militäropposition, die Bejahung des Attentats, des militärischen Staatsstreichs und aller möglichen Konsequenzen daraus eingeschlossen. Der lähmende„Widerstand im Wartestand“, den Moltke, der die Hoffnung auf ein Handeln der Militärs spätestens seit Anfang 1943 aufgegeben hatte, nach Gerstenmaiers Einschätzung zur „Tugend zu machen“ im Begriff war, sollte durch einen„neuen Zug“, wie er sich in der Person Stauffenbergs verkörpert fand, und einen letzten Aufbruch zur Tat überwunden werden.

Damit wären wir bei jenem Punkt angelangt, der auch in den Überlegungen von Beck und Goerdeler, um so mehr aber noch für eine weniger pragmatische Natur wie Helmuth von Moltke, eine zentrale Rolle gespielt hat; der Zusammenhang zwischen erklärtem Anspruch und gewählter Methode beim Griff nach der Macht. Der hohe Anspruch, nicht nur die politische, sondern mehr noch die moralische Alternative zu Hitler und seinem Regime zu verkörpern, verlangte, dass die gewählte Methode zur Erringung der Macht in glaubwürdiger Weise mit den proklamierten Zielen in Übereinstimmung stand. Unbeschadet aller persönlichen und generationsbedingten Gegensätze zwischen ihnen hießen sowohl für Moltke wie für Goerdeler die vorrangigen Ziele nicht Demokratie, konstitutionelle Monarchie oder irgendeine andere politische Herrschaftsform,sondern Rechtsstaatlichkeit, Verantwortungsbewusstsein, „Anstand“ und eine christlich-humane Werteordnung. Wer in feierlichem Pathos „die Wiederherstellung der vollkommenen Majestät des Rechts“, die Vermeidung jeder Willkür und die Wiederaufrichtung der Moral „auf allen Gebieten des privaten wie öffentlichen Lebens“ zur „ersten Aufgabe“ erklärte, wie im Entwurf einer Regierungserklärung der Verschwörer an das deutsche Volk geschehen, hatte sich zwangsläufig in der Wahl seiner Mittel gebunden. Ein erklärtes Rechtsstaatsziel, das in einem politischen Mord – und womöglich in einer ganzen Kette davon – seinen Ausgangspunkt nahm, drohte sich und diejenigen, die dafür einstanden, selbst in Frage zu stellen. Das war – jenseits aller anderen moralischen und religiösen Bedenken eine eher politisch-pragmatische Überlegung – niemandem klarer als Helmut von Moltke. Sollte das „andere“Deutschland, das schließlich und vor allem das bessere Deutschland sein wollte, Adolf Hitler mit dessen eigenen Waffen schlagen, zur Not mit den Mitteln eines skrupellosen und brutalen Machiavellismus? Wer, wie der zitierte amerikanische Autor, beklagt, insbesondere Moltke sei, bei aller Anerkennung seiner moralischen Lauterkeit„zu zartbesaitet, zu skrupulös für jene Gewalt und jenes Blutvergießen“ gewesen, „deren es bedurfte, um das Dritte Reich zu stürzen“, dabei jedoch die so gern gebrauchte Metapher vom„anderen“Deutschland pflegt, sollte sich des darin enthaltenen Widerspruchs bewusst sein. Ungesetzliche Verhaftungen und eine Kette gezielter Mordaktionen, die nachträglich als Akte der Staatsnotwehr gerechtfertigt werden, wie Hitler dies bei seiner blutigen Ausschaltung der SA-Spitze im Juni 1934 vorexerziert und damit dem Rechtsstaat in Deutschland den „Todesstoß“ versetzt hatte: sollte sichso das Antlitz des „anderen“Deutschland vor dem eigenen Volk und der Welt präsentieren? Gesetzt den Fall, man hätte sich zu diesem Weg entschlossen,„den Nationalsozialismus bekämpfen und seine Methoden der Vergewaltigung Andersdenkender und des Terrors anwenden“ (Hans Graf von Hardenberg), es wäre – Erfolg hin oder her womöglich jenes Urteil geschichtsmächtig geworden, das Winston Churchill in seiner Unterhauserklärung vom 2. August 1944 zu den deutschen Vorgängen vom 20. Juli gefällt hatte. Es handele sich bloß um blutige Ausrottungskämpfe innerhalb des Naziregimes im Angesicht seiner sicheren militärischen Niederlage. Helmuth von Moltke, in dessen Person, ähnlich wie bei Adam von Trott, das strenge Pflichtethos preußischer Vorfahren mit dem mütterlichen Erbe eines weltläufigen angelsächsischen Liberalismus verflochten waren, verband, wie ein guter Freund später beschrieben hat, ein „tiefreligiöses Gefühl für seine Mitmenschen“ mit dem „schärfsten Juristenintellekt“. Die Bedeutung des Religiösen für die Politik hatte sich ihm, dem anfänglichen „Freigeist“ in dieser Sache, erst durch die Erfahrung der totalitären Diktatur in ihrer ganzen Dimension erschlossen. Anders als für viele seiner späteren Mitstreiter, vor allem im Kreis des ,20. Juli‘, bedurfte es bei ihm keiner Desillusionierung über den Charakter des NS-Regimes und seiner Methoden, um den Weg in die Opposition zu finden. Seine Haltung war seit 1933 klar und ohne Schwanken. Selbst Hitlers spektakuläre militärische Erfolge vom Sommer 1940 erschienen ihm als nichts anderes als ein „Triumph des Bösen“. Dennoch hat er das Attentat auf den Diktator und den darauf folgenden, voraussichtlich blutigen Staatsstreich aus den verschiedensten Gründen bis zuletzt abgelehnt.„Kann durch eine solche Handlung etwas eingeleitet werden, das zum Segen wird?“, zitierte nach dem Krieg der norwegische Bischof Eivind Berggrav, die Überlegungen Moltkes, mit dem er im März 1943 in Oslo zusammengetroffen war, zur Attentatsfrage. Und weiter:„Gehörte nicht die Methode selbst dem Bereich des bösen Feindes zu? Würde eine solche Handlung […] nicht Konsequenzen nach sich ziehen und die ganze folgende Entwicklung und damit das neue System, das man in Deutschland aufbauen wollte, in die Verdammung hinunterziehen?“ Dabei ging es ihm nicht nur um die heutzutage reichlich abstrakt wirkende Frage nach einer christlichen Rechtfertigung des Tyrannenmordes aus dem Munde eines ausländischen Bischofs und Theologen, sondern, so Berggrav weiter, um die Chancen einer effektiven Regierung nach dem Attentat: „Die Frage der Verantwortung für das Volk war wie ein Feuer in ihm.“

Helmuth von Moltke also doch ein zwischen ewigen Fragen und Skrupeln zerrissener Hamlet? Skrupel zu haben und sich zu ihnen bekennen, statt skrupellos zu sein, ist eines jeden Menschen, insbesondere eines erklärten Christen, würdig. Ohne sie wäre der Widerstand in Deutschland und besonders der ,20. Juli‘ niemals zu einer moralischen Instanz geworden, auf deren Vermächtnis der demokratische Neubeginn nach 1945 hätte gründen können. „Erst wägen, dann wagen“, lautete seit 1870, den Tagen seines Urgroßonkels, des großen Strategen der deutschen Einigungskriege, der Wahlspruch des Moltke’schen Familienwappens. Obgleich nicht Offizier, sondern Jurist (vielleicht gerade deshalb?) hat wohl – man werte es, wie man mag – kein anderer aus seinem berühmten Geschlecht wie Helmuth James Graf von Moltke dieses Motto nicht bloß kalkülhaft, sondern auch im menschlichen Sinne verstanden, in seiner Person verkörpert.

Lit.: Kurt Finker: Graf Moltke und der Kreisauer Kreis, Berlin 1993. – Eugen Gerstenmaier: Der Kreisauer Kreis, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 15 (1967), Heft 3, S. 221-246. – Ders.: Streit und Friede hat seine Zeit. Ein Lebensbericht, Frankfurt/M.-Berlin-Wien 1981. – Theodore S. Hamerow: Die Attentäter. Der 20. Juli – von der Kollaboration zum Widerstand, München 1999. – Der Kreisauer Kreis. Portrait einer Widerstandsgruppe. Begleitband zu einer Ausstellung der Stiftung preußischer Kulturbesitz, Berlin 1985. – Helmuth James von Moltke: Briefe an Freya 1939-1945, hrsg. von Beate Ruhm von Oppen, München 1988. – Ger van Roon: Neuordnung im Widerstand. Der Kreisauer Kreis innerhalb der deutschen Widerstandsbewegung, München 1967. – Hermann Weiß: Helmuth James Graf von Moltke, in: Ostdeutsche Gedenktage 1995, S. 34-38.

Bild:Kohlezeichnung aus dem Jahr 1931.