Biographie

Moltke, Helmuth James Graf von

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Jurist, Widerstandskämpfer
* 11. März 1907 in Gut Kreisau/Niederschlesien
† 23. Januar 1945 in Berlin-Plötzensee

Moltke gehörte zweifellos zu den lautersten Gestalten des deutschen Widerstandes gegen die Naziherrschaft. Er war ein Urgroßneffe des preußischen Feldmarschalls Helmuth von Moltke, des "großen Schweigers", dem der schlesische Stamm der weit verzweigten Familie von Moltke nicht nur das Gut Kreisau, sondern auch den Grafentitel verdankte.

Mit vier Geschwistern und dem Vetter Carl Dietrich von Trotha in der liberalen Atmosphäre von Kreisau aufgewachsen, wurde ihm von den Eltern, Anhängern der "Christian Science", frühzeitig das Gefühl für soziale Verantwortung vermittelt. Während der Studienzeit in Wien – Moltke studierte Rechts- und Staatswissenschaften, daneben Politikwissenschaft und Geschichte – vertieften sich sein Wissen und seine Vorstellungen auf diesem Gebiet durch die Bekanntschaft mit dem Ehepaar Eugenie und Hermann Schwarzwald und ihrem Kreis. In den beiden letzten Studienjahren in Breslau hörte er bei dem Staats- und Verwaltungsrechtler Hans Peters, der mit Moltke, Trotha und dessen Freund Horst von Einsiedel zum Kreis um den Soziologen Eugen Rosenstock-Huessy gehörte, einem der führenden Theoretiker und Praktiker der Erwachsenenbildung, speziell der Arbeiterbildung. Mit diesen Freunden gehörte Moltke auch zu den Mitbegründern der schlesischen Arbeitslagerbewegung, die aus der Erlebniswelt der Jugendbewegung (Schlesische Jungmannschaft) heraus und unter dem Vorzeichen eines religiös überhöhten Sozialismus die Spannung zwischen den sozialen Schichten abzubauen trachtete und Studenten mit jungen Arbeitern und Bauern zusammenbrachte. Einer der Referenten auf dem Arbeitslager vom Frühjahr 1928 war Adolf Reichwein.

Im Herbst 1929, dem Jahr seines Referendarexamens, mußte der 22jährige Moltke den mit der Bewirtschaftung seiner Güter in Schwierigkeiten geratenen Vater unterstützen und die Leitung des Betriebs übernehmen. In wenigen Jahren sanierte er die Güter, setzte aber zugleich als Referendar an Amtsgerichten seiner schlesischen Heimat die juristische Ausbildung weiter fort. 1931 heiratete er Freya Deichmann, eine Kölner Bankierstochter, mit der er zur Beendigung der Ausbildung im Oktober 1932 nach Berlin zog. Zusammen mit seiner Frau, inzwischen promovierte Juristin, und dem angesehenen Juristen Karl von Lewinsky gründete er dort 1935 eine eigene, auf Völkerrecht und internationales Privatrecht spezialisierte Anwaltskanzlei. Neben der anwaltlichen Tätigkeit, die es ihm ermöglichte, einige der aus politischen oder rassischen Gründen auswanderungswilligen Deutschen zu beraten, betrieb er während seiner regelmäßigen Studienaufenthalte in England die Ausbildung zum barrister. Bei einer dieser Gelegenheiten lernte er 1937 in Oxford den Rhodes-Stipendiaten Adam von Trott zu Solz kennen. Besonders enge Beziehungen pflegte er zu Mitarbeitern des Royal Institute of Foreign Affairs wie Michael Balfour und Lionel Curtis.

Nach dem Barrister-Examen in London und dem Eintritt in die Kanzlei von Paul Leverkühn in Berlin Ende 1938 erbte er durch den Tod des Vaters im März 1939 die Familiengüter. Moltkes Plan, seine Beziehungen zu England zu einer zeitweisen Mitarbeit in einer Londoner Anwaltskanzlei auszubauen, scheiterte am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.

Die regelmäßigen Studienaufenthalte in England, die bereits 1935 durchgeführten Studienreisen zu internationalen Organisationen wie dem Völkerbund in Genf oder dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag und die vielen Bekanntschaften mit Persönlichkeiten aus den Führungseliten des Auslands hatten nicht nur die von den Freunden schon an dem jungen Moltke bewunderte Weltläufigkeit gefördert, sondern auch die kritische Distanz begünstigt, mit der er den vom Nationalsozialismus propagierten Staats- und Gesellschaftsvorstellungen gegenüberstand. Wenige Tage nach der "Kristallnacht" im November 1938 schrieb er seinem Freund Curtis nach England: "Wenn dieser Kontinent für längere Zeit unter die Herrschaft der Nazis geriete, würde unsere in Jahrhunderten aufgebaute und letztlich auf das Christentum und die Klassik gegründete Zivilisation verschwinden, und wir wissen nicht, was statt dessen entstände". Diese Betonung der traditionellen abendländischen Werte gegen den Rückfall in die Barbarei eines entindividualisierten und entzivilisierten Menschen- und Gesellschaftsbildes entsprang bei Moltke nicht so sehr dem traditionellen Standesbewußtsein des Aristokraten, als vielmehr einem sehr persönlichen Bedürfnis, das in mehr als einer Beziehung stärker vom englischen Liberalismus bestimmt war als vom landläufigen preußischen Junkertum. So definierte er die Rolle des Staates nicht als die eines Herrschers über den Menschen, sondern sah in ihm einen "Hüter der Freiheit des Einzelmenschen" (Brief an Peter Graf Yorck vom 17.6.1940). Für seine seit 1938 deutlich werdende grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen Nationalsozialismus suchte er nach Gesinnungsgenossen. Er nahm den Kontakt zu den Freunden aus den Tagen der schlesischen Jugendbewegung wieder auf und pflegte seit Januar 1940 einen regen Gedankenaustausch mit Peter Graf Yorck von Wartenburg, der im sogenannten Grafenkreis zusammen mit den Vettern Fritz Dietlof von der Schulenburg und Ulrich Wilhelm von Schwerin-Schwanenfeld ebenfalls 1938 damit begonnen hatte, nach Möglichkeiten der Überwindung des Nationalsozialismus zu suchen.

Moltke war bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges als Sachverständiger für Kriegs- und Völkerrecht in das Amt Ausland/Abwehr und dessen Sonderstab für Fragen des Handelskrieges und wirtschaftliche Kampfmaßnahmen (HWK) imOberkommando der Wehrmacht (OKW) versetzt worden. Den Sonderstab nutzte er nun als Ort für Besprechungen und Beratungen mit seinen Freunden, ab Sommer 1940 auch das Gut Kreisau, das als häufigster Treffpunkt für die Diskussionsrunden und Tagungen der Gruppe – neben "Moltke-Kreis" – namengebend wurde in den Protokollen und Berichten der Gestapo. Es war vor allem Moltke, der neben Yorck die Arbeit des Kreises systematisch durch Experten auf den verschiedensten Gebieten des Staates und der Gesellschaft in all ihren moralischen, rechtlichen und kulturellen Aspekten zu erweitern suchte. Seine vielen alten Kontakte und weitreichenden Beziehungen, die über Reichwein auch ins sozialistische Lager reichten, waren dabei von großem Vorteil.

Dieses geradezu methodische Vorgehen und das Drängen auf eine umfassende Planung und Diskussion der Grundlagen und praktischen Ausformungen eines deutschen Staatswesens nach dem "Dritten Reich" machten Moltke nicht nur in den Augen der Gestapo, sondern auch seiner Mitstreiter zur zentralen Figur des "Kreisauer Kreises". Unter Ausnützung von Dienstreisen in die besetzten Gebiete Skandinaviens, Westeuropas und Polens nahm er zwischen 1941 und 1943 Verbindung mit dortigen Widerstandskreisen auf, wobei er sich wie auch in Deutschland häufig kirchlicher Verbindungen bediente. Bei dienstlichen Reisen in die Türkei und nach Schweden nutzte er alte Kontakte nach England und den USA, um die Westalliierten auf die Existenz einer deutschen Widerstandsbewegung und damit eines "anderen Deutschlands" aufmerksam zu machen. Auch wenn Moltke seit 1941 von der Notwendigkeit eines Staatsstreiches überzeugt war, konnte er sich aufgrund seiner religiösen Überzeugungen und seines Abscheus vor jeglicher Gewaltanwendung wie viele aus dem Kreisauer Kreis freilich nicht zu einem Attentat auf Hitler durchringen. So fiel die Zustimmung zum Attentat im Kreisauer Kreis erst nach Moltkes Verhaftung.

Bei Verhören von Angehörigen des Solf-Kreises hatte die Gestapo herausbekommen, daß Moltke seinen Freund Kiep vor der Telefonüberwachung durch die Gestapo gewarnt hatte. Am 19. Januar 1944 wurde er deshalb verhaftet und nach wenig ergiebigen Verhören in die "Schutzhaft" des Konzentrationslager Ravensbrück "entlassen", wo ihm nach einiger Zeit die Wiederaufnahme seiner Dienstgeschäfte gestattet wurde. Moltke konnte daher hoffen, daß die Existenz des Kreisauer Kreises und sein Anteil daran nicht entdeckt würden. Nach dem Juli-Attentat wurde seine Rolle innerhalb der Verschwörung jedoch schnell aufgedeckt. Im August wurde er nach Berlin überstellt und am 11. Januar 1945 vom Volksgerichtshof zum Tod verurteilt. Die unübliche Verschiebung der Hinrichtung bis zum 23. Januar erfüllte ihn noch einmal mit Hoffnung. Seine letzten Briefe, die der Gefängnispfarrer Harald Poelchau, ein unerkannt gebliebenes Mitglied des Kreisauer Kreises, herausschmuggelte, zeigen noch einmal den ganzen Menschen Moltke in seiner beherrschten Geistes-Gegenwart, seinem Stolz und seiner Demut in wahrhaft christlichem Sinn. Im Abschiedsbrief an seine Frau Freya schrieb er: "…mein Leben ist vollendet… Das ändert nichts daran, daß ich gerne noch etwas leben möchte, daß ich Dich gerne noch ein Stück auf dieser Erde begleitete. Aber dann bedürfte es eines neuen Auftrags Gottes. Der Auftrag, für den Gott mich gemacht hat, ist erfüllt." Von seinen beiden Söhnen hatte er sich schon im Oktober 1944 mit der aus heutiger Sicht zeitlos erscheinenden Rechtfertigung verabschiedet: "Ich habe mein ganzes Leben lang… gegen den Geist der Enge und der Gewalt, der Überheblichkeit, der Intoleranz und des Absoluten, erbarmungslos Konsequenten angekämpft, …der seinen Ausdruck in dem nationalsozialistischen Staat gefunden hat. Ich habe mich auch dafür eingesetzt, daß dieser Geist mit seinen schlimmen Folgeerscheinungen wie Nationalismus im Exzeß, Rassenverfolgung, Glaubenslosigkeit, Materialismus überwunden werde. Insoweit und von ihrem Standpunkt aus haben die Nationalsozialisten recht, daß sie mich umbringen."

Lit.: Helmuth James von Moltke: Briefe an Freya. 1939-1945. Hrsg. von Beate Ruhm von Oppen, München 1988. – Freya von Moltke, Michael Balfour, Julian Frisby: Helmuth James von Moltke, 1907-1945, Stuttgart 1975. – Ger van Roon: Neuordnung im Widerstand. Der Kreisauer Kreis innerhalb der deutschen Widerstandsbewegung, München 1967.

Bild: Moltke am 10. Januar 1945 vor dem Volksgerichtshof in Berlin; Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz.

 

  Hermann Weiß