Biographie

Mühler, Heinrich von

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: preußischer Kultusminister
* 4. November 1813 in Brieg/Schlesien
† 2. April 1874 in Potsdam

Schlesien hat im langen 19. Jahrhundert insgesamt vier preußische Kultusminister hervorgebracht: Heinrich v. Mühler, Adalbert Falk, Robert v. Zedlitz-Trützschler und Konrad v. Studt. Keiner amtierte mit so wenig Geschick und Glück wie der zuletzt genannte.

Heinrich v. Mühler wurde am 4. November 1813 als Sohn des Oberlandesgerichtsrates Heinrich Gottlob Mühler in der niederschlesischen Kreisstadt Brieg geboren. Beide Eltern stammten aus alteingesessenen schlesischen Familien. Nach Zwischenstationen in Halberstadt und Breslau wurde sein Vater nach Berlin versetzt, wo der Sohn nach dem Besuch des Friedrichsgymnasiums an der dortigen Universität das Studium der Rechtswissenschaften begann, das er in Berlin fortsetzte und mit Staatsexamen sowie Promotion abschloss. In Breslau trat er der Studentenverbindung der Raczeks bei und in Berlin der literarischen Gesellschaft „Tunnel über der Spree“, der mancher Dichter und Schriftsteller, u. a. Theodor Fontane und Max Ring, angehörte. In ihren Memoiren setzen beide dem jungen Mühler, der dort durch sein dichterisches Talent auffiel, ein literarisches Denkmal. So manche seiner Gedichte wurden vertont, z. B. das sehr bekannt gewordene vierstrophige Zechlied mit dem Titel „Bedenklichkeiten“, dessen erste Strophe wie folgt lautet:

„Grad’ aus dem Wirtshaus komm’ ich heraus.
Straße, wie wunderlich siehst Du mir aus!
Rechter Hand, linker Hand, beides vertauscht.
Straße, ich merke wohl, Du bist berauscht!“

Der Jurist Mühler reiht sich würdig ein in die Reihe der „666 Dichter“, die Schlesien nach Ansicht von Detlev v. Liliencron hervorgebracht haben soll. Wurde er durch seine mehrmals aufgelegten Gedichte überraschend schnell bekannt, so vollzog sich seine berufliche Laufbahn mehr in der Stille. Als begabter und tüchtiger Jurist brauchte er sich nicht allzu sehr anzustrengen, um in seiner Karriere Stufe für Stufe aufzusteigen. Denn schon durch seinen Vater, der 1832-1844 das Amt des preußischen Justizministers bekleidete, wurde ihm der Weg in die höchsten Berliner Regierungskreise geebnet. Über seine Schwester, die Karl Gustav v. Gossler, den Vater der beiden Minister Gustav (Kultur) und Heinrich (Krieg) heiratete, lernte er seine Frau Adelheid, geb. Goßler, kennen, eine sehr selbstbewusste und energische Dame, die nicht selten in seine Dienstgeschäfte einzugreifen wagte.

Im Jahre 1840 trat Heinrich v. Mühler ins preußische Kultusministerium ein, wo er sich mit kirchlichen Verfassungsfragen beschäftigte. Das Ergebnis seiner Forschungen veröffentlichte er 1846 in dem Buch „Die Geschichte der evangelischen Kirchenverfassung in der Mark Brandenburg“. Vier Jahre später wurde er in den neu gegründeten Evangelischen Oberkirchenrat berufen, dem er 12 Jahre angehörte. Nachdem sich Mühler insgesamt 22 Jahre überwiegend mit kirchlichen Fragen beschäftigt hatte, ernannte ihn König Wilhelm I. im März 1862 zum „Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten“, wie der amtliche Titel des Kultusministers lautete. Ein halbes Jahr später trat Bismarck sein Amt als Reichskanzler an. Mit ihm blieb Mühler nun im Staatsministerium ein volles Jahrzehnt verbunden.

Die Zusammenarbeit der beiden Politiker mag anfangs harmonisch gewesen sein, doch wurde sie von Jahr zu Jahr schwieriger. Der erzkonservative Mühler bewies nicht genug Durchsetzungskraft, um längst fällige Reformen voranzutreiben, besonders in der von den Liberalen argwöhnisch beobachteten Schulpolitik. Die Lehrer brachte er gegen sich auf, weil er mit seiner sparsamen Haushaltsführung deren Gehälter nicht erhöhte. Aus lauter Toleranz und Friedensliebe nahm er als evangelischer Christ zu viel Rücksicht auf die Wünsche der Kirchen, insbesondere auf die der katholischen. 1865 wurde die „Katholische Abteilung“ des Kultusministeriums gegründet, deren Leitung er seinem Landsmann Adalbert Krätzig anvertraute. Bismarck vermutete wohl nicht zu Unrecht, dass unter dem Deckmantel dieser Abteilung versteckte „polnische Agitation“ betrieben wurde, gerade von den geistlichen Schulräten.

Einen seiner größten Fehler – wenn nicht gar seinen größten – beging Heinrich v. Mühler, als er nach monatelangen Verhandlungen in den Jahren 1865/66 gegen den energischen Einspruch des Posener Oberpräsidenten Carl v. Horn die Ernennung des weltgewandten Grafen Ledóchowski zum Erzbischof von Gnesen-Posen durchsetzte. Die preußische Regierung er-wartete von diesem polnischen Geistlichen, dem Kandidaten des Papstes, dass er sich von der polnischen Nationalbewegung fernhielt. Das tat er zunächst auch, doch bald betonte er mit Nachdruck den mit seinem erzbischöflichen Stuhl verbundenen Ehrentitel „Primas Poloniae“, der das letzte Band des dreigeteilten Polen symbolisierte. Vollends zum Bruch mit der Regierung kam es gleich zu Beginn des Kulturkampfes im Sommer 1871.

Dieser Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche stand der friedliebende, vom Pietismus beeinflusste Kultusminister von vornherein ablehnend gegenüber. Deshalb setzte er auch die staatlichen Maßregeln nur zögernd durch. Die erste betraf im Juli 1871 die Auflösung der erst sechs Jahre zuvor gegründeten Katholischen Abteilung, die zweite den sog. Kanzelparagraph, der den Geistlichen verbot, sich von der Kanzel oder anderswo in politische Angelegenheiten einzumischen. Die Verabschiedung des Schulaufsichtsgesetzes vom 11. März 1872, das die geistliche durch die staatliche Schulaufsicht ersetzte, musste er seinem Nachfolger Falk überlassen, da ihm die erbetene Entlassung bereits zwei Monate zuvor gewährt worden war. Für die Anwendung der Kulturkampfgesetze brauchte Bismarck einen energischen und durchsetzungsfähigen Kultusminister.

Obwohl durch verwandtschaftliche und innerkirchliche Beziehungen gut vernetzt, hatte sich Mühler in den letzten Jahren seiner Amtszeit immer mehr isoliert. Nicht nur die liberale Presse attackierte ihn wegen seiner erzkonservativen und kirchlichen Einstellung. Zwar ertrug der Minister alle Kritiken und Angriffe mit bewundernswerter Geduld, doch kränkten sie ihn sehr. Eine mehrmals aufgelegte Schmähschrift mit dem Titel Ein Kultusminister, der seinen Beruf verfehlt hat traf ihn besonders hart. Hinzu kam, dass seine ihn stark beeinflussende Gattin Adelheid immer wieder reichlich Stoff für die humoristischen und satirischen Blätter der Reichshauptstadt lieferte.

Sicherlich etwas enttäuscht, zog sich Mühler ins Privatleben zurück. Er kandidierte auch nicht mehr für den Reichstag, dem er als Fraktionsloser von August 1867 bis März 1871 für den Wahlkreis Oppeln-Stadt angehört hatte.

Am 2. April 1874, gerade zwei Jahre nach seinem Rücktritt, starb er im Alter von 60 Jahren in Potsdam. Fest steht, dass dieser dichtende Kultusminister einer der wenigen weitsichtigen Politiker war, die vor dem Kulturkampf gewarnt hatten. Leider hat Bismarck nicht auf ihn gehört.

Lit.: Herman v. Petersdorff, Heinrich von Mühler, in: Schlesische Lebensbilder III, 1928, S. 265-281. – Walter Reichle, Zwischen Staat und Kirche. Das Leben und Wirken des preußischen Kultusministers Heinrich v. Mühler, Berlin 1938. – Helmut Neubach, Vier preußische Kultusminister aus Schlesien, in: Schlesien 11 (1966), S. 14-17. – Ders.: Mühler, Heinrich von, in: Neue Deutsche Biographie 18 (1997), S. 469-470. – Gerhard Besier, Preußische Kirchenpolitik in der Bismarckära, Berlin 1980.

Bild: Stadtmuseum Berlin – https://sammlung-online.stadtmuseum.de/ Details/Index/531314.

Helmut Neubach