Biographie

Mueller-Graaf, Carl Hermann

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Diplomat
* 8. Mai 1903 in Schwientochlowitz/Oberschlesien
† 20. Dezember 1963 in Bern/Schweiz

Mueller-Graaf gehörte zur ersten Generation der Diplomaten des Bonner Auswärtigen Dienstes, in den er, wie viele andere in den frühen fünfziger Jahren, als Seiteneinsteiger gekommen war. Als Sohn eines Arztes im Hüttenrevier Oberschlesiens geboren, besuchte er die humanistischen Gymnasien zu Kattowitz, Naumburg a. S. und Königshütte und studierte Rechtswissenschaften in Gießen und Breslau, wo er Staatsexamen (1926) und Doktorprüfung (1927) ablegte, trat danach als Amtsgerichtsrat beim traditionsreichen Kammergericht in Berlin und 1931 in den Ministerialdienst ein. Bis 1940 war er Referent im Reichswirtschaftsministerium, von 1940 bis 1942 ins Auswärtige Amt abgeordnet und mit internationalen Wirtschaftsfragen befaßt, danach als Oberregierungs- und Ministerialrat beim Generalinspekteur für Wasser und Energie. Beim Zusammenbruch 1945 flüchtete er ins Berner Oberland, später nach Genf, wo er sich vier Jahre lang ausschließlich schriftstellerisch betätigte und ein Buch, Irrweg und Umkehr. Betrachtungen über das Schicksal Deutschlands, schrieb, das er Ende 1946 in Basel unter Pseudonym und Ende 1948 unter seinem Namen auch in Deutschland herausbrachte. Darin forderte er einen radikalen Neubeginn in Deutschland im Geist eines christlichen Konservativismus und einer um Wahrheit bemühten historischen Versicherung der Gründe für die deutsche Katastrophe.

Mueller-Graaf trat Mitte 1949 als Referatsleiter bei der Verwaltung für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebietes ein, die im Bundesministerium für Wirtschaft aufging, und war wieder auf seinem eigentlichen Fachgebiet, der Außenhandelspolitik, tätig, zuletzt als Abteilungsleiter im Range eines Ministerialdirigenten. Als im November 1953 eine Deutsche Wirtschaftsdelegation in Wien eingerichtet wurde, um wenigstens auf Wirtschaftsebene geregelte Beziehungen mit Österreich zu pflegen, übernahm Mueller-Graaf deren Leitung und wurde ins Auswärtige Amt übernommen. Er war dazu wie kein anderer berufen, da er seit 1949 alle Wirtschaftsverhandlungen mit Österreich geführt hatte. Doch lag die eigentliche Herausforderung der Wiener Mission Mueller-Graafs (ohne Akkreditierung) darin, die in Folge der „Anschluß“-Frage und ihrer in Bonn und Wien völkerrechtlich verschiedenen Beurteilung gespannten Beziehungen zunächst atmosphärisch, später auch substantiell zu verbessern. Gleichzeitig sollte Mueller-Graaf auf dem nach Südosten vorgeschobenen Posten die angrenzenden Satrapenstaaten Moskaus beobachten, zu denen die Bundesrepublik keine diplomatischen Beziehungen unterhielt. Nach Abschluß des österreichischen Staatsvertrages im Mai 1955, der mit seinen Regelungen über das deutsche Eigentum in Österreich und auch unter sicherheitspolitischem Aspekt für Adenauer eine Provokation darstellte, sank das deutsch-österreichische Verhältnis auf seinen Tiefpunkt. Mueller-Graaf, zunächst aus Protest gegen den Staatsvertrag abberufen, nach Aufnahme diplomatischer Beziehungen Ende 1955 zum Botschafter ernannt, hat in jahrelangen Delegationsverhandlungen, die in eine Reihe von Verträgen und Abkommen mündeten, die Grundlage für eine gedeihliche Entwicklung der beiderseitigen Beziehungen mitgelegt. Er hat darin zu Recht sein eigentliches Lebenswerk gesehen. Ungewöhnlich lange, bis Juni 1961, blieb er auf seinem Posten. Mit seinem geistigen Habitus paßte Mueller-Graaf in das traditionsverhaftete Wien der fünfziger Jahre, an dem sein Herz hing. Mit seiner besonnenen, die Empfindlichkeiten der politischen Klasse Österreichs (welche die jüngste Geschichte des Landes noch längst nicht aufgearbeitet hatte) schonenden Art hat er sich viel Sympathie erworben. Bundeskanzler Raab und Außenminister Figl sahen in ihm einen wahren Freund. Um so mehr hat es ihn verbittert, als er zum Schluß einer der in Wien stets zu gewärtigenden Presseintrigen zum Opfer fiel, deren Urheber er im engsten Umkreis des jungen Außenministers Kreisky ortete, dessen Ideen eines gezähmten, liberalen Sozialismus, der West- und Osteuropa versöhnen und den Rahmen für eine Lösung der deutschen Frage bieten sollte, er entgegengetreten war.

Auch mit Adenauer, der in den Österreichern einen notorisch unzuverlässigen deutschen Volksteil sah, der sich aus der Schicksalsgemeinschaft mit Deutschland davonstehlen wollte, und der wohl lieber einen energischeren Vertreter deutscher Interessen in Wien gesehen hätte, verband Mueller-Graaf kein Verhältnis besonderer Sympathie. So sehr er mit den außenpolitischen Grundlagen von Adenauers Politik der Westintegration übereinstimmte und auch alle Versuche des ostzonalen Regimes, im neutralen Österreich diplomatisch Fuß zu fassen, abwehrte, so wenig überzeugte ihn Adenauers Ostpolitik, die die Frage der Grenzen zu Polen offenhalten wollte. Mueller-Graaf setzte vielmehr auf Aussöhnung und Zusammenarbeit zwischen Polen und Deutschen, ohne dies mit einer Revisionspolitik zu verknüpfen. In Wien, wo er sich gerne darauf berief, als Schlesier eigentlich ein Untertan der Habsburger zu sein, hat er sich allen Versuchen entzogen, sich vor Vertriebenen-Verbänden zu exponieren.

Mueller-Graaf hat seinen letzten Posten als Leiter der Vertretung bei der OECD in Paris, deren rein bürokratische Aufgaben ihm nach dem langen, schönen Wiener „Zwischenspiel" nicht zusagten, nur kurze Zeit ausgeübt, schon von schwerer Krankheit gezeichnet.

Schriften: Carl Hermann Müller: Die rechtliche Natur der Zwangsversteigerung. Jur. Diss. Breslau [1927]. – Constantin Silens: Irrweg und Umkehr. Betrachtungen über das Schicksal Deutschlands. Basel: Birkhäuser 1946. – Carl H. Mueller-Graaf: Irrweg und Umkehr. Betrachtungen über das Schicksal Deutschlands. Stuttgart: Reclam 1948 (Auflage: 20000). – Ders.: Die Rolle der OECD in der Wirtschaftspolitik der freien Welt (Vortrag vor dem Industrie-Club Düsseldorf)- Düsseldorf: Industrie-Club 1963.

Lit.:Matthias Pape: Ungleiche Brüder. Österreich und Deutschland 1945-1965. Köln/Weimar/Wien 2000.

Bild: Mueller-Graaf um 1955.