Biographie

Müller, Josef („Sepp“)

Herkunft: Galizien u. Bukowina, Zentralpolen (Weichsel-Warthe)
Beruf: Genossenschaftler und Heimatschriftsteller
* 1. August 1893 in Falkenberg/ Galizien
† 27. Oktober 1977 in Göttingen

Kaiser Joseph II. hatte um 1785 in das von Österreich okkupierte Galizien südwestdeutsche Bauern in dieses Land gerufen und sie getrennt nach Religionen angesiedelt. In den umgebenden Städten kam es zu religiösen Mischehen zwischen den Nachkommen dieser Ansiedler. So heiratete Sepp Müllers evangelischer Vater Philipp die aus der katholischen Kolonie Falkenberg stammende Gertrud Ott. Dort wurde Sepp Müller am 1. August 1893 geboren, katholisch erzogen und seiner Begabung wegen auf das polnischsprachige k.u.k.-Gymnasium nach Przemysl gesandt, wo er 1912 das Abitur ablegte. Danach begann er an der Universität Lemberg Rechtswissenschaften zu studieren.

Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges, die bereits 1914 erfolgte Eroberung Lembergs durch die Russen, die Einberufung zum österreichischen Heer und der nicht enden wollende Krieg, dem sich nach 1918 der polnisch-ukrainische Krieg um den Besitz Galiziens anschloss, durchkreuzten seine Zukunftspläne. Zwischenzeitlich hatte er sich in Wien im Genossenschaftswesen ausbilden lassen und im Verband deutscher landwirtschaftlicher Genossenschaften mitgearbeitet. Da sich die Lage dieses Verbandes in Galizien durch Kriegszerstörung, Soldatentod und Wegzug des Vorsitzenden dramatisch verschlechtert hatte, wurde Müller 1916 vom Militärdienst freigestellt, um als Genossenschaftssekretär und Verbandsprüfer die stillgelegten Raiffeisenkassen zu reaktivieren, den Wiederaufbau der Genossenschaften zu betreiben, sie mit Waren zu versorgen, die Kriegsschäden zu erfassen u.a. mehr. Gleichzeitig betätigte er sich in der Volkstumsorganisation „Bund der christlichen Deutschen in Galizien“, die sich bemühte, die damals herrschende politische, wirtschaftliche und kulturelle Not der Galiziendeutschen zu mildern. 1917 wurde er in dessen Vorstand berufen. Bis 1939 arbeitete er auch im „Deutschen Volksrat für Galizien“ mit, der die politischen Interessen der Galiziendeutschen vertrat, zuletzt als stellvertretender Vorsitzender.

Die unsichere Berufssituation nach Installation der II. Polnischen Republik veranlassten ihn, eine ihm angebotene beamtete Stelle in der Lemberger Kommunalverwaltung anzunehmen. Das ermöglichte ihm die Heirat, die Gründung einer Familie, aber auch die nebenberufliche Übernahme des Amtes des stellvertretenden Anwalts des Genossenschaftsverbandes bis 1939. Ferner war er Mitbegründer und Aufsichtsratsmitglied der Deutschen Verlagsgesellschaft in Lemberg, die die deutsche Wochenzeitung Ostdeutsches Volksblatt herausgab. Nach der Auflösung des Bundes der christlichen Deutschen in Galizien durch die polnischen Behörden war er auch Mitbegründer und Vorstandsmitglied des „Verbandes deutscher Katholiken“, der es ermöglichte, eine Anzahl privater deutschkatholischer Volksschulen und deren Lehrer zu unterhalten. 1936 übernahm er noch den Vorsitz des Elternbeirates des deutschsprachigen evangelischen Gymnasiums in Lemberg.

Seine besondere Liebe galt dem Sprechtheater. Schon 1917 beteiligte er sich als Laienschauspieler an der Lemberger deutschen Liebhaberbühne, deren ehrenamtliche Leitung er 1923 übernahm, dazu den stellvertretenden Vorsitz des „Deutschen Vereins für Kultur und Bildung Frohsinn“. Die Liebhaberbühne spielte von 1917 bis 1939 an 190 Abenden, darunter Stücke von Lessing, Nestroy, Anzengruber, Kotzebue, Goethe, Schiller, Kleist, Hebbel, Sudermann, Gustav Freytag und Bruno Frank. 71 dieser Abende standen unter Sepp Müllers Spielleitung. Dazu kamen 17 Gastspiele und viele Frohsinn-Veran­staltungen unterschiedlicher Art. Sie alle dienten dazu, die deutsche Gemeinschaft zu pflegen, zu stärken und zu erhalten.

Bei Ausbruch des Polenfeldzugs am 1. September 1939 wurde Sepp Müller von der polnischen Polizei verhaftet und in das Konzentrationslager Bereza kartuska eingeliefert. Dank der raschen deutschen Offensive und des unerwarteten Einmarsches der Roten Armee in den Ostteil Polens, in dem sich das Konzentrationslager befand, konnten sich dessen Insassen selber befreien. Von den deutschen Truppen ins Reich transportiert, wurde Müller bald Mitglied der damals gebildeten Deutschen Umsiedlungskommission und zum Ortsbevollmächtigte von Lemberg ernannt. In dieser Position siedelte er im Winter 1939/40 die gesamte deutsche Bevölkerung – zusätzlich eine Anzahl von Ukrainern, Polen und andere in Not geratene Menschen – aus der von den Sowjets besetzten Stadt ins Reich um.

Danach wurde er zur Leitung des polnischen Genossenschaftswesens im Generalgouvernement mit Dienstsitz in Krakau kriegsdienstverpflichtet, aber von August 1941 bis Juli 1944 als Distriktbeauftragter für das ukrainische und polnische Genossenschaftswesen in den damals neu gebildeten Distrikt Galizien mit Sitz in Lemberg versetzt.

Seit 1946 lebte Sepp Müller mit Familie in Göttingen, seit 1955 im Ruhestand. Intensiv arbeitete er im „Hilfskomitee der Galiziendeutschen“ und bei allen Hilfsaktionen für seine heimatvertriebenen Landsleute mit. Ein besonderes Anliegen war ihm die Gründung eines „Galiziendeutschen Heimatarchivs“, das sich jetzt in der Martin Opitz-Bibliothek in Herne befindet. In der ab 1950 bestehenden „Landsmannschaft Weichsel-Warthe“ war er die ersten Jahre stellvertretender Bundessprecher und Leiter des Kreisverbandes Göttingen. Ferner wirkte er langjährig und in enger Zusammenarbeit mit Osthistorikern in der „Historisch-Landeskundlichen Kommission für Posen und das Deutschtum in Polen“ mit, die inzwischen in „Kommission für die Geschichte der Deutschen in Polen“ unbenannt ist. Unermüdlich brachte er sein umfassendes Wissen als Zeuge und Mitgestalter der jüngeren galiziendeutschen Geschichte zu Papier und entwickelte sich zum bedeutendsten Chronisten der galiziendeutschen Volksgruppe. In seinem vom Johann Gottfried Herder-Institut herausgegebenen Buch „Schrifttum über Galizien und sein Deutschtum“ sind 45 seiner Nachkriegspublikationen angeführt. Allein die Heimatbücher I und II der Galiziendeutschen enthalten 14 seiner Beiträge. Posthum veröffentlichte das Hilfskomitee der Galiziendeutschen als Heimatbücher V und VI zwei weitere umfangreiche Dokumentationen Galizien und sein Deutschtum I und II unter seinem Namen. Der Deutsche Raiffeisenverband verlieh ihm die Goldene Ehrennadel, 1964 erhielt er das Bundeverdienstkreuz am Bande, von der Landsmannschaft die Ehrenmitgliedschaft und die Silberne Ehrennadel.

Werke: Das deutsche Genossenschaftswesen in Galizien, Wolhynien und im Cholm-Lubliner Gebiet, Karlsruhe, 1954. – Das Deutschtum in Galizien zwischen den beiden Weltkriegen im Lichte der Statistik. Sonderdruck der galiziendeutschen Heimatzeitung „Das heilige Band“, 1954. – Von der Ansiedlung bis zur Umsiedlung. Das Deutschtum Galiziens, insbesondere Lembergs 1772-1940. Johann Gottfried Herder-Institut Marburg/Lahn, 1961. – Schrifttum über Galizien und sein Deutschtum. Johann Gottfried Herder-Institut Marburg/Lahn, 1962. – Falkenberg, ein deutsches Dorf in Galizien, Verlag der Landsmannschaft Weichsel-Warthe, Göttingen 1963. – Die galiziendeutschen Sippen Müller und Mang. Verlag der Landsmannschaft Weichsel-Warthe, Göttingen 1967. – Zur Frage der Autonomie des österreichischen Kronlandes Galizien. Sonderdruck der galiziendeutschen Heimatzeitung „Das heilige Band“, 1975. – Galizien und sein Deutschtum I und II. Eine Dokumentation aus Sepp Müllers Nachlass. Hrsg. Hilfskomitee der Galiziendeutschen 1999 und 2002.

Lit.: Josef Lanz, Sepp Müller, ein deutscher Genossenschaftsführer in Polen. Kulturwart der Landsmannschaft Weichsel-Warthe Nr. 95, 1969. – Julius Krämer, Sepp Müller, ein Leben im Dienst der Heimat. Aufbruch und Neubeginn, in: Heimatbuch II der Galiziendeutschen 1977, S. 595. – Josef Lanz, Sepp Müller zum Gedenken, in: Jahrbuch Weichsel-Warthe 1979, S. 12. – Erich Müller, Sepp Müller und das deutsche Genossenschaftswesen in Galizien, in: Zeitweiser 1988 der Galiziendeutschen, S. 19. – Erich Müller, Sepp Müller zum 100. Geburtstag, in: Jahrbuch Weichsel-Warthe 1993, S. 92. – Biographische Angaben über Sepp Müller in Galizien und sein Deutschtum, Bd. II, 2002, S. 7.70.

Bild: Autor.

Erich Müller