Biographie

Mueller, Otto

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Maler, Graphiker
* 16. Oktober 1874 in Liebau/Schlesien
† 24. September 1930 in Obernigh, Kr. Trebnitz, Schlesien

Der Vater von Otto Mueller war aus dem Deutsch-französischen Krieg als Leutnant nach Schlesien heimgekehrt und nunmehr in Liebau, einem typisch schlesischen Städtel, als Steuer- und Zollbeamter tätig. Dieses Liebau ist unweit des großartigen Barockklosters Grüssau und unweit der (damals) preußisch-österreichischen Grenze gelegen. Hier wurde Otto Mueller als erster Sohn der Beamtenfamilie geboren.

Seine Mutter umgibt geradezu etwas Unheimliches und Rätselhaftes. Sie war als Findelkind von der Schwester des Vaters von Gerhart und Carl Hauptmann aufgenommen und als Adoptivkind angenommen worden. Es herrschte daher zwischen den Gebrüdern Hauptmann und Otto Mueller so etwas wie ein fiktives Vetternverhältnis, jedenfalls haben die sogenannten Vettern engen Kontakt miteinander gehalten. In Carl Hauptmanns Roman Einhart der Lächler soll sich Otto Mueller als poetische Titelgestalt wiederfinden, und Gerhart Hauptmann ist nicht nur gelegentlich mit Otto Mueller gereist, sondern hat ihn, wie berichtet wird, dann und wann finanziell unterstützt. Von der Mutter wird gesagt, daß sie nicht nur böhmischer Herkunft gewesen sei, sondern wohl auch Zigeunerblut in den Adern gehabt habe. Aus diesem durchaus möglichen Sachverhalt wird dann immer auch gleich auf das besondere, doch wohl ein wenig zigeunerhafte Aussehen des Malers und auf seine Affinität persönlich und als Maler und Graphiker zum Zigeunertum geschlossen.

Von Liebau wurde Otto Muellers Vater nach Görlitz versetzt. Die hier besuchte Schule, das Gymnasium, sagte dem Sohn nicht recht zu, so daß er es vorzeitig verließ und bei einem Lithographen in die Lehre ging. Die nächste Station hieß Dresden und die dortige Kunstakademie. Aber auch hier kam es zu keinem Abschluß. Die weiteren Stationen des sich selbst immer noch suchenden jungen Mannes waren München und wieder Dresden, schließlich Berlin. Hier präsentierte er sich 1910 in der Ausstellung der von der “Berliner Secession” Zurückgewiesenen.

Inzwischen war Maschka Meyerhofer in sein Leben getreten. Vorausgreifend sei hier angemerkt, daß er sich nach 16jähriger Ehe von ihr getrennt hat und danach noch zwei weitere Ehen eingegangen ist, aber Maschka blieb sein guter Stern. Auf vielen Bildern, allerdings in zunehmendem Maße typisiert, tritt sie uns entgegen, aber vor allem sorgte sie für den Verkauf der Bilder und für die Vorbereitung und Durchführung von Ausstellungen.

Wer Otto Mueller kunsthistorisch einordnen will, und das gehört nun einmal zum Handwerk der Kunstgeschichte, nennt dann sofort das Jahr 1911, als Otto Mueller zur Künstlervereinigung der “Brücke” mit Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff stieß und damit zum Expressionistengeworden sei. Selbstverständlich ist die Verbindung zur “Brücke”und die gerade zwei Jahre währende Bindung an diesen Künstlerkreis der Expressionisten ein historisches Faktum seiner Vita, aber er war trotzdem ein ganz anderer, vielleicht so etwas wie ein Eremit unter den Expressionisten. Man darf ihn den Poeten, auch den Romantiker unter den Expressionisten nennen. Der Erste Weltkrieg ist ein weiterer Merkposten in diesem Leben, und dies schon deswegen, weil die Lungenerkrankung, die er sich als Soldat zugezogen hatte, das nächste Jahrzehnt bestimmend und bedrückend beeinflußt hat, bis zu seinem frühen Tode, der durch das Lungenleiden bedingt war. Kurz vor seinem 56. Geburtstag ist er in einer Lungenheilanstalt unweit Breslau gestorben.

Die große Glanzzeit Muellers, in gleicher Weise auf Leben und Werk bezogen, waren die elf Jahre seiner Zugehörigkeit als Professor zur Breslauer Akademie, von der später gesagt werden konnte, daß sie nach dem Bauhaus in Weimar und dann in Dessau unter der Direktion des gleichfalls aus Schlesien, aus Brieg stammenden Malers Oskar Moll (über diesen siehe OGT 1997, S. 167-171), gleichalt wie Otto Mueller, die berühmteste “Brutstätte der modernen Malerei” gewesen sei.

Aus der Erinnerung beschreibt ihn Ivo Hauptmann, Sohn Gerhart Hauptmanns und selbst ein bedeutender Maler, so: “Otto Mueller war mittelgroß, sehr schlank. Sein Kopf war edel. Er war völlig ungepflegt. Seine schwarzen Haare hingen ungeordnet über sein Gesicht. Die Lippen waren schmal, der Mund war klein, mit einem Zug zum Spöttischen. Die Augen waren dunkel, schräg nach oben gerichtet die äußeren Augenwinkel. Ab und zu hatte er einen suchend unheimlichen Blick, wenn er die kleinen Augäpfel wie schwarze Kohlen kreist und auf einen richtete, daß sie Furcht einflößen können, wenn man nicht seine unerschütterliche Güte gekannt hätte. Die Tabakspfeife verließ kaum sein Gesicht. Er trugt keine Kopfbedeckung. Im Sommer waren ein weißes Hemd, enge weiße Hosen, die über den Knöcheln aufhörten, und Sandalen seine Kleidung, so daß er durch sein Äußeres die Menschen auf der Straße zum Stillstehen veranlaßte.”

Zwei Grundakkorde zeichnen Muellers Graphik und Malerei aus: Der Mensch und die Natur, besser gesagt die Einheit von Mensch und Natur, und zum anderen das Fremde, die Eigenart der Zigeuner. Man hat ihm vorgeworfen, daß seine Thematik zu eng begrenzt sei, was sicherlich richtig ist, aber eine bei keinem anderen Maler in Deutschland und in der Welt so großartige Singularität zeichnet ihn aus. Bis in die jüngste Zeit hinein konnte gerade auch mit Hinweis auf die Einzigartigkeit Muellers berichtet werden, welch hohe Preise auf dem Kunstmarkt sowohl seine bekanntlich in einer größeren Zahl produzierten Graphiken und seine Gemälde erzielen. Für die gemalten Bilder werden Preise oberhalb der zwei Millionen-Mark Grenze genannt und auch erzielt. “Seltsam und doch wie befriedigend”, so schrieb der Breslauer Kunsthistoriker Ernst Scheyer, der 1933 in die Emigration zu gehen gezwungen war, “daß gerade derjenige schlesische Künstler, der am wenigsten für die Anerkennung lebte, der einer der ‘Stillen’ im Lande war, den größten Ruhm geerntet hat, schon zu Lebzeiten und noch mehr nach

 

 

 

seinem Tode. Heute ist Otto Mueller auch in die internationale Kunstgeschichte als einer der großen europäischen Künstler eingegangen”.

Erich Heckel, einer der führenden Köpfe der Künstlervereinigung “Brücke” und mit Otto Mueller in herzlicher Freundschaft verbunden, hat dessen Kunst als “sinnliche Feinfühligkeit” charakterisiert. Otto Mueller ist der Romantiker unter den zeitgenössischen Malern der Moderne. Was einem Joseph von Eichendorff der Wald, die Stille und der Lerchenflug bedeuteten, ist für Otto Mueller das Eins-Sein des Menschen mit der Natur, die geradezu gezügelt wachsende Vegetation und mitten in dieser die Menschen, fast durchweg zierlich gewachsene Mädchen in ihrer Nacktheit. Doch deren Nacktheit sind nicht Aktstudien, sondern Schönheiten in ihrer Schlankheit und mit überlangen Gliedmaßen (man erinnert sich an Wilhelm Lehmbruck, mit dem der Maler in Berlin ein gemeinsames Atelier hatte) und aus der Vegetation vor Dünen und Wasserläufen wie Lianen oder Buschwerk herauswachsend. Das Individuelle der Mädchen ist in das Allgemeine, das allzu Persönliche überwindend, emporgehoben, in eine Vermählung von Natur und Mensch, als befände man sich im Paradies des Zueinandergehörens. Die Farben von Natur und menschlichen Körpern kontrastieren nicht, das Grün der Vegetation und das bräunliche Gelb der menschlichen Körper harmonisieren wie die Akkorde einer Symphonie. Dieser Gleichklang von Natur und Menschen ist sicherlich eine gewünschte Idylle, eine gewünschte malerische Realität, aber diese gewünschte Realität erscheint auch schon ob der klugen Disposition der Bildaussage für Auge und Gemüt als eine neue Welt.

Um den Zigeunern nahe zu sein, ist Otto Mueller wiederholt auf den Balkan gereist, war in Rumänien, Bulgarien, aber auch in Ungarn. Seine Zigeunerbilder haben nichts Anklagendes, zum Handeln Aufrufendes, sind nicht Anklage über herrschende Zustände, sondern die künstlerische Reproduktion des Vorgefundenen, des Soseins als eines Andersseins. Was für den einen das Exotische sein mag, ist für Otto Mueller eine liebenswerte Welt, in die er sich als Realist und als Phantast, gleichsam als Märchenerzähler und zugleich als Entdecker des Reizvollen geradezu mit Inbrunst begibt, sich ihr anvertraut und von ihr davontragen läßt.

Höhepunkt dieser Kunst des “Zigeunermalers”, wie man Otto Mueller gern zu klassifizieren sucht, sind die neun Blätter der Zigeunermappe des Jahres 1927. Jedes Blatt eröffnet einen neuen, bislang unbekannten Lebenskreis. Die Palette wird jetzt aufregender als in den Blättern und Bildern der Naturmystik. Kontraste zwischen Dunkelgrün und Rot werden aufgerissen, damit zwei Zigeunerinnen so dargestellt werden, wie sie vom Maler erlebt und dem Beschauer übermittelt werden sollen.

Das Urwüchsige, das Elementare, das Natürliche, das auch das Anderssein mit einschließt, waren das Thema seiner Graphiken und Bilder. Unter dem Nationalsozialismus wurde ihm die “Ehre” zuteil, zu den “Entarteten” gezählt zu werden. In der Ausstellung “Entartete Kunst” des Jahres 1937 waren “Zwei Mädchenakte” unter der Bezeichnung “Verhöhnung der deutschen Frau” und “Das Ideal – Kretin und Hure” und die Bilder mit den Zigeunern unter dem Stichwort “Jüdische Wüstensehnsucht macht sich Luft – der Neger wird in Deutschland zum Rassenideal” zu sehen. Heute preist sich glücklich, wer, wie jüngst das Museum der bildenden Künste in Leipzig, das herrliche Bild “Liebespaar” aus dem Jahre 1919 auf dem Kunstmarkt für über zwei Millionen Mark wiedererwerben kann.

Noch läßt eine Retrospektive auf sich warten. Gelegentlich ist dann aber auch zu hören, daß die Bilder auf Rupfen und in Leinfarben für einen Transport zu empfindlich seien. Und dies hat seine Richtigkeit. Muellers Ruhm und seine Bedeutung als Einzelgänger, Lyriker, als Maler der spröden Grazie, dieser Melancholiker und Mystiker, dieser Zigeunermaler gehört zu den Großen der deutschen und weltweiten Malerei. Der Kosmos dieses Malers hat nicht seinesgleichen.

Lit.: Eberhard Troeger: Otto Mueller. Freiburg i. Br. 1949. – Lothar-Günther Buchheim: Die Künstlergruppe Brücke, Freising 1957. –Otto Mueller: Farbige Zeichnungen und Lithographien. Mit einem Vorwort von Hanns Theodor Flemming, Feldafing 1958. – Lothar-Günther Buchheim: Otto Mueller Leben und Werk, 1963.– Mario-Andreas von Lüttichau: Otto Mueller. Ein Romantiker unter den Expressionisten, Köln 1993.

 

Herbert Hupka