Biographie

Müller, Carl Otfried

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Altertumswissenschaftler
* 28. August 1797 in Brieg/Schlesien
† 1. August 1840 in Athen

Kein anderer Gelehrter hat vor Th. Mommsen der Altertumswissenschaft derart entscheidende Impulse gegeben wie Carl Otfried Müller, der Archäologe, Philologe, Historiker, Geograph und Epigraphiker zugleich war. Er stammte aus einer schlesischen Pfarrersfamilie und ging nach dem Besuch des Gymnasiums in Brieg, Ratibor und Liegnitz 1814 an die neugegründete Friedrich-Wilhelm-Universität zu Breslau, um dort zunächst Mathematik, Botanik, Sprachen und Philosophie zu studieren. Für zwei Arbeiten über Kant und über die Makkabäer erhielt er dort Preise. Seit 1816 in Berlin, wandte er sich unter dem Einfluß von A. Böckh und F.A. Wolf den Altertumswissenschaften zu. Dank seiner schier unerschöpflichen Arbeitskraft legte er bereits 1817 eine Dissertation über die Insel Ägina vor, die ihn wegen der Methodenvielfalt und kritischen Ausschöpfung auch der Mythen schnell berühmt machte. Die anschließende Tätigkeit am Breslauer Magdalenen-Gymnasium empfand er unbefriedigend und flüchtete sich in eine groß angelegte Geschichte der griechischen Stämme und Städte, deren erster Band Orchomenos und die Minyer 1820 erschien, in 2. Auflage 1844. Zwei weitere Bände, Die Dorier, folgten 1824. Sie wurden schon 1830 ins Englische übersetzt, obwohl oder weil sie ein Gegengewicht zur meist angelsächsischen Verherrlichung der attischen Demokratie darstellten, das bis heute nachwirkt, weil es die Dorier, insbesondere die Spartaner, zu sehr von den übrigen Griechen abgrenzte.

Mit 22 Jahren, 1819, wurde Müller von seinem Lehrer Böckh der Universität Göttingen als Extraordinarius vorgeschlagen. Nach zweimonatigem Studium in der Antiken- und Gemäldesammlung zu Dresden trat er dieses Amt an. Als glänzender Redner mit leicht schlesischem Dialektanklang – 1835 wurde er auch Professor der Beredsamkeit – und begeisternder Lehrer wurde er bereits 1823 zum Ordinarius und Mitglied der Göttinger Akademie der Wissenschaften gewählt, lehnte aber einen ehrenvollen Ruf nach Berlin als Nachfolger Böckhs ab. Seine Vorlesungen über griechische Altertümer, antike Orakel, zum historischen und "volkstypischen" Kern in der Mythologie (Prolegomena zu einer wissenschaftlichen Mythologie, 1825) und über antike Autoren fanden, weithin Widerhall und schlugen sich auch in Publikationen nieder. Dabei wurden Topographie, Münzprägung, Wirtschaft, Kunst und Handwerk ebenso eingeschlossen wie Demographie, Sozialstrukturen und Verfassungsrecht, stets strikt getrennt zwischen Historischem und Symbolischem. Nach dem Buch Über die Makedonier (1825) erhielt er 1826 den Preis der Berliner Akademie für sein vierbändiges Werk Die Etrusker (Breslau 1828, 19772). Es ist die erste Gesamtdarstellung dieses rätselhaften Volkes, dessen Kunst und Sprache Müller besonders angezogen hatten und bei der sein universalhistorischer Ansatz besonders deutlich wird. Untersuchungen über den Kult der Göttin Athena (1820), über den Bildhauer Phidias (1827) u.a. waren Vorarbeiten für das 1830 erschieneneHandbuch der Archäologie der Kunst (18352, neubearbeitet von F.G. Wolcker 1848, 18782), das für viele Archäologengenerationen grundlegend und beispielhaft blieb und auch auf Englisch und Französisch erschien. Andere Studien galten den Befestigungen Athens und den Altertümern des syrischen Antiochia bis hin zum Mittelalter sowie der Geschichte der lateinischen Sprache. 1833 erschien eine berühmt gewordene Interpretation der "Eumeniden" des Aischylos, die sich ausdrücklich gegen die "Fussnotengelehrsamkeit" wandte und spätere Philologen, darunter U. von Wilamowitz-Moellendorff, wesentlich beeinflußte. Dann folgte eine Geschichte der griechischen Literatur bis auf Alexander d.Gr., deren erster Teil 1840 zunächst auf Englisch erschien, das dreibändige Werk posthum 1858 (1882/844).

1824 heiratete Müller, ein großer, schlanker Mann mit feurigen Augen und von seinen vielen Freunden als heiter und umgänglich geschätzt, Pauline Hugo, die Tochter des Göttinger Juristen Gustav Hugo, die ihm fünf Kinder schenkte. Zum 40. Geburtstag verlieh ihm die Juristische Fakultät den Titel eines Dr. jur. h.c., die ihn verehrenden Studenten feierten ihn mit einem Fackelzug. Weniger die Verleihung des Hofrat-Titels als die Furcht, nicht mehr reisen zu können, waren der Grund, sich dem Protest der "Göttinger Sieben" 1837 nicht anzuschließen oder ihrer Amtsenthebung öffentlich zu widersprechen.

Einer geplanten umfassenden Griechischen Geschichte und einem Werk über "Antike Landschaften und die antiken Stätten" sollte die im Sommer 1839 begonnene Reise über Italien und Sizilien nach Griechenland dienen, auf der ihn zwei Freunde und ein Zeichner begleiteten. Beim Kopieren von Inschriften im Heiligtum von Delphi im Sommer 1840 erlitt Müller einen Hitzekollaps und starb in Athen. Dort wurde er auf dem Kolonoshügel nordwestlich der antiken Altstadt beigesetzt, an jenem Platz, wo nach Sophokles Ödipus von seinem schrecklichen Fluch erlöst wurde.

Müllers Kleinen deutschen Schriften über Religion, Kunst, Sprache und Literatur, Leben und Geschichte des Altertums wurden 1847/48 von E. Müller in Breslau herausgegeben (Nachdruck 1979), dieKunstarchäologischen Werke in fünf Bänden in Berlin 1873, – beides Zeichen dafür, wie wegweisend sie waren.

Werke: Schriftenverzeichnis bei W. Pökel, W. Unte (s.u.)

Lit.: F. Lücke: Erinnerungen an K.O.M., Göttingen 1841. – W. Pökel: Philolog. Schriftstellerlexikon, Leipzig 1882, Nachdruck 1966, S. 182 f. (mit Schriftenverzeichnis und Literatur). – C. Bursian: Geschichte der classischen Philologie in Deutschland, 1883, S. 1007-1028. – A. Baumeister: Allgemeine Deutsche Biographie 22, 1885, S. 656-667. – O. und E. Kern, C.O.M., Ein Lebensbild in Briefen, 1908. – W. Kroll: C.O.M., Schlesische Lebensbilder I, Breslau 1922, S. 42-45 (Nachdruck 1985). – S. Reiter: C.O.M., Briefe. 1950. – U. Franke, W. Fuchs: Kunstphilosophie – Kunstarchäologie, Boreas 7, 1984, S. 269-294. – H. Döhl: K.O.M., Archäologenbildnisse, ed. R. Lullies, W. Schiering, Mainz 1988, S. 23-24. – K. Nickau, H. Döhl, J. Bleicken in: Die klassischen Altertumswissenschaften an der Georg-August-Universität Göttingen, ed. C. Classen, Göttingen 1989, S. 27-50, 51-77, 98-127. – W. Unte, K.O.M., in: Classical Scholarship. A Bibliographical Encyclopedia, ed. W.W. Briggs, W.M. Calder III, New York-London 1990, S. 310-320 (mit Schriftenverzeichnis und weiterer Literatur).

Bild: Zeichnung von W. Ternite 1838, danach Lithographie von Wildt in Archäologenbildnisse, ed. R. Lullies, W. Schiering, Mainz 1988, S. 23.

 

  Peter Robert Franke