Biographie

Müthel, Johann Gottfried

Herkunft: Baltikum (Estland, Lettland, Litauen)
Beruf: Komponist
* 17. Januar 1728 in Mölln bei Lauenburg/Schleswig-Holstein
† 14. Juli 1788 in Bienenhof bei Riga

Müthel gehört zu jenen Musikern, die sich erst im Nordosten Europas, in Riga, künstlerisch voll entfalten konnten. Musikunterricht erhielt er von seinem Vater, der als Organist in Mölln wirkte, später von Paul Kunzen in Lübeck. 1747 trat er als Kammermusiker und Hoforganist in die Dienste des Herzogs von Mecklenburg-Schwerin. Während seines 1750 bewilligten einjährigen Studienurlaubs besuchte er zunächst J. S. Bach in Leipzig, nach dessen baldigem Tode Altnikol in Naumburg, Hasse in Dresden, C.Ph.E. Bach in Potsdam und Telemann in Hamburg. In Schwerin befand sich nach seiner Rückkehr die Hofmusik in derart desolatem Zustand, daß er 1753 mit Freuden einen Ruf nach Riga annahm, den einer seiner Brüder, der Oberfiskal am dortigen Kaiserlichen Hofgericht war, vermittelt hatte.

In Riga übernahm er die Leitung des aus 24 Musikern bestehenden Hausorchesters des livländischen Geheimen Regierungsrates Otto Hermann von Vietinghoff, eines geradezu fürstlich-freigebigen Mäzens, der wöchentlich musikalische Soiréen veranstaltete und 1768 auch ein ständiges Theater gründete. 1767 betraute der Rat der Stadt Müthel noch zusätzlich mit dem Organistenamt an St. Petri. In Riga lernte er Johann Gottfried Herder kennen, der ihn sehr schätzte, verkehrte im Hause des hochgebildeten Ratsherrn Johann Christoph Berens sowie mit dem vielseitigen Verleger Johann Friedrich Hartknoch, der zwischen 1767 und 1771 auch seine Klavierwerke publizierte. Für Riga wurde Müthel sehr bald die musikalische Autorität schlechthin. Die großzügige und freie Lebensweise behagte ihm so sehr, daß er in der Folgezeit alle weiteren Angebote, nach Deutschland zurückzukehren, ausschlug. Als Komponist fühlte sich Müthel sowohl dem Erbe Johann Sebastian Bachs wie dem seines Sohnes Carl Philipp Emanuel verpflichtet. In den wenigen erhaltenen Orgelwerken ist er überwiegend der Tradition verhaftet, in den Klavierwerken, dem Schwerpunkt seines Schaffens, hingegen derart fortschrittlich, daß seine Kunst eine Generation zu überspringen scheint. Schon in den ersten drei Sonaten von 1756 ist seine Schreibweise so individuell geprägt und übersteigert, daß er seine Vorbilder weit in den Schatten stellt. Besonders bizarr sind häufig die Mittelsätze der Sonaten gestaltet und machen mit ihren rhythmischen Kompliziertheiten das Streben nach Ausdruck deutlich. Auch die Klaviervariationen gehören zu den kühnsten Kompositionen ihrer Art zwischen J.S. Bach und Beethoven. Der Engländer Charles Burney zählte 1773 diese Klavierwerke zu den bedeutendsten Schöpfungen der Zeit und rühmte besonders die hohen technischen Anforderungen und die virtuose, von der Norm abweichende Passagentechnik. Müthel gehört zu den eigenwilligsten Vertretern des frühen musikalischen Sturm und Drangs, zu jenen jungen Genies, die um jeden Preis originelle Kunstwerke schaffen wollten. Nach seinen eigenen Worten arbeitete er langsam und nur dann, wenn er sich dazu aufgelegt fühlte, in entsprechender Stimmung war, um sich in seinen Werken möglichst wenig zu wiederholen. Er steht inmitten jenes künstlerischen Individualisierungsprozesses, der die Klassik vorbereitete.

Werke: Arioso c-Moll mit 12 Variationen, hrsg. von W. Kahl, Wolfenbüttel 1936; Sonette (Duetto) für 2 Klaviere, hrsg. von A. Kreutz, Kassel 1954; 3 Sonaten und 2 Ariosi mit 12 Variationen, in: Mitteldeutsches Musikarchiv, I, Heft 6/7, hrsg. von L. Hoffmann-Erbrecht, Leipzig-Wiesbaden 1955; 2 Sonaten, in: Organum V, Heft 29 und 33, hrsg. von dems., Lippstadt 1961 und 1964; Klavierkonzerte in: Denkmäler Norddeutscher Musik, Bd. 3/4, hrsg. von W. Braun, München-Salzburg 1979.

Lit.: L. Hoffmann-Erbrecht, Deutsche und italienische Klaviermusik zur Bachzeit, Leipzig-Wiesbaden 1954; Sturm und Drang in der deutschen Klaviermusik von 1753-1763, in: Die Musikforschung X, 1957; Artikel „Müthel“, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Bd. 9, Kassel 1961; W. Sahnen, J.G. Müthel, der letzte Schüler Bachs, in: Festschrift H. Besseler, Leipzig 1960; W. Reich, J.S. Bach und J.G. Müthel – zwei unbekannte Kanons, in: Die Musikforschung XIII, 1960; E. Kemmler, J.G. Müthel (1728-1788) und das nordostdeutsche Musikleben seiner Zeit, Marburg 1970; J. Jaenecke, Die Musikbibliothek des Ludwig Freiherrn von Pretlak (1716-1781), Wiesbaden 1973.