Biographie

Mutius, Dagmar von

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Schriftstellerin
* 17. Oktober 1919 in Christiania/ Oslo
† 5. November 2008 in Heidelberg-Schlierbach

Dagmar von Mutius, Autorin von Rang, sah zeitlebens die Grafschaft Glatz als ihre eigentliche Heimat an, das Land, in dem ihre Vorfahren seit Generationen ihre Wurzeln hatten. Ihre Texte, exzellente Prosastücke, erzählen vielfach vom Leben ihrer angesehenen Familie, beschreiben aber auch liebevoll das Leben der kleinen Leute in der Grafschaft und anderswo.

Ihr Vater war Botschafter in Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, gewesen, bevor er nach Oslo, das damals noch Christiania hieß, wechselte. Hier kam Dagmar am 17. Oktober 1919 zur Welt. Ihre Eltern waren gebildete Menschen; die Mutter Marie war schriftstellerisch tätig, der Vater, Gerhard Freiherr von Mutius, hatte neben seiner diplomatischen Laufbahn mehrere phi­lo­sophische Werke verfasst. Während der verschiedenen Auslandsdienste verbrachte er mit seiner Frau, den beiden Töchtern Dagmar, Elisabeth und seinem Sohn, dem künftigen Hoferben, die Ferien immer auf dem Familiensitz in Gellenau, nahe Bad Kudowa.

Das waren wunderbare Wochen, die ihren literarischen Niederschlag unter anderem in Dagmars Erzählung Einladung in ein altes Haus fanden.

Dagmar war noch ein kleines Mädchen, als ihr Vater als Vorsitzender der deutschen Friedensdelegation 1920/21 nach Paris entsandt wurde. Danach arbeitete er im Auswärtigen Amt in Berlin. 1927 wurde Gerhard von Mutius Gesandter in Rumänien und zog mit seiner Familie nach Bukarest, wo die Geschwister die Deutsche Schule besuchten. In ihrem Buch Versteck ohne Anschlag erinnert die Autorin später an unvergeßliche Ferientage in Siebenbürgen und in den Karpaten.

1931 wurde ihr Vater ins Auswärtige Amt nach Berlin zurückberufen. Als Dagmar am 19. Oktober 1934 aus der Schule zurückkehrte, war ihr Vater einem plötzlichen Tod erlegen.

Tief betroffen kehrte die Familie nach Gellenau zurück. Zu allem Unglück erkrankte Dagmars Bruder unheilbar und es war bald klar, dass er das Gut nicht würde führen können. Deshalb gab Dagmar ihre Zukunftspläne auf, nach dem Abitur ein Studium zu beginnen. Ihre Auffassung von Pflichterfüllung und die Liebe zu ihrer Heimat und dem Gut der Familie bestärkten sie darin, sich anstelle des Bruders für das Erbe der Väter zu entscheiden.

Ab 1940 nahm sie in verschiedenen niederschlesischen Gütern landwirtschaftliche Lehrstellen an und bereits im selben Jahr wurde ihr offiziell die Verwaltung des großen Familiengutes Gellenau anvertraut. Im Oktober erst wurde sie 21 Jahre alt und somit volljährig.

Und es herrschte Krieg. Mit all seinen Sonderauflagen war das eine besonders schwierige Zeit. Kurz vor der Kapitulation stellte die junge Gutsherrin im Mai 1946 einen Treck zusammen und versuchte, mit ihm westwärts zu fliehen. Gleich hinter den Feldern und Wäldern des Gutes verläuft die Grenze zur Tschechei, die soeben unpassierbar geworden war. Der Fluchtversuch misslang. Der Treck mit all seinen Menschen, Tieren und Gütern musste nach Gellenau umkehren, das nun bald den polnischen Namen Jeleniów erhielt.

Der alte Familienbesitz der Freiherren von Mutius wurde zum polnischen Staatsgut, in dem Dagmar mit ihren Angestellten nun Zwangsarbeit leistete, mit ihnen säte und erntete und wieder säte, selbst tat, was sie in den letzten Jahren als Besitzerin beauf­sichtigt hatte. Auch jetzt trug sie noch die volle Verantwortung, dass trotz der chaotischen Zustände ringsum Wachstum und Ernte ihre Ordnung behielten, dass die deutschen, die tschechischen und polnischen Landarbeiter miteinander ihren kleinen Frieden bewahrten, den sie mit ihrer eigenen Haltung vorgab, inmitten der Schreckensherrschaft ringsum, die sie alle bedräng­te.

Als im Frühjahr 1946 die neue Saat zu sprießen begann, wurden auch die Menschen in Gellenau vertrieben. Dagmar von Mutius erreichte auf mühseligen Wegen mit allen Anvertrauten, dazu gehörten nicht nur die engsten Familienmitglieder, sondern auch die Verwandten aus Danzig, die im Schloss Unterkunft gefunden hatten, die Elbmarsch bei Hamburg. Zunächst kam man in einem Bunker unter.

Für die nächsten drei Jahre fand Dagmar Arbeit in einem Gärtnereibetrieb. Der allgemeine Kampf um Lebensmittel bestimmte in den Nachkriegsjahren das Leben. So waren Dagmars Kenntnisse der Landwirtschaft von großem Nutzen. Aber hier konnte und wollte man nicht bleiben.

Als klar geworden war, dass Schlesien und das Gut für immer verloren waren, zog sie mit ihrer Familie nach Süddeutschland, nach Heidelberg. Ein kleines Haus im Grafschaft Glatzer Stil entstand am Hang, hoch über dem Neckartal. Nach und nach drangen Nachrichten aus Gellenau durch den „Eisernen Vorhang“. Die Tochter des ehemaligen Kutschers hatte einen Polen geheiratet. Man blieb in brieflicher Verbindung. Sobald es möglich war, versorgte Dagmar viele Menschen dort mit Paketen, die das für Familien Notwendigste enthielten.

„Von unserem eigenen großen alten Haus höre ich nun“ – so schrieb Dagmar von Mutius in den ersten Jahren -, „daß es ein Erholungsheim geworden ist. Als es über 100 Flüchtlinge beherbergte, als es nur noch Speicher war, weniger noch, als es Soldatenkaserne wurde, als es leer stand, ist das Haus dennoch geblieben, was es sein wollte. Der Wind, der über den riesigen Dachboden pfiff, die Moderzeichen auf Stein und Balken, das Hallen in den Gewölben aus dem 13. Jahrhundert hat nie die Erzählung verstummen lassen, daß Menschen mit Weinen und Lachen hier wohnten in meinem schönsten Land“. Später besuchte sie mehrmals ihre schlesische Heimat und das inzwischen der Verwahrlosung anheim gefallene Schloss und das Gut.

Dagmars humanistische und christliche Erziehung verboten ihr, sich Worte des Hasses zu erlauben und gegen ihr Schicksal zu rebellieren. 1954 begann sie, erste Erzählungen in Anthologien zu veröffentlichen und sich mit ihnen erfolgreich an literarischen Wettbewerben zu beteiligen.1960 gelang es ihr, in einer Heidelberger Buchhandlung eine ihr entsprechende Arbeit zu finden, die sie bis zum Rentenalter ausübte. Nebenher schrieb sie ihre ersten Bücher, verfasste Funkerzählungen und führte in verschiedenen Rundfunkanstalten Büchergespräche. Vorwiegend wurde sie vom Süddeutschen Rundfunk und vom Radio Bremen dazu ausgewählt. Vielfach wurden ihre Erzählungen in Sammelbände aufgenommen. Auch verschiedene Herausgebertätigkeiten übernahm sie gerne.

Ihre Buchveröffentlichungen trugen die Titel: Wetterleuchten – Chronik einer schlesischen Provinz 1945/46, Grenzwege, Wandel des Spiels, Versteck ohne Anschlag – eine Kindheit, Einladung in ein altes Haus – Geschichten von vorgestern, Draußen der Nachtwind – aus der Mappe der Jahre.

In mehreren Künstlervereinigungen war sie anzutreffen, nicht nur als ein eingetragenes Mitglied, sondern vielfach dort aktiv und ehrenamtlich mitwirkend, wie in der GEDOK, im Wangener Kreis – Gesellschaft für Literatur und Kunst: Der Osten e.V. in der Künstlergilde Esslingen, im Kulturwerk Schlesien u.a. Den Wangener Kreis leitete sie neun Jahre hindurch als Erste Vorsitzende. Über viele Jahre brachte sie als Jurymitglied oder als Vorsitzende für den Eichendorff-Literaturpreis ihre ausgezeichneten Kenntnisse auch der zeitgenössischen Literatur ein.

Für ihr Werk erhielt sie mehrere Auszeichnungen: 1963 den Eichendorff-Literaturpreis, 1965 die Ehrengabe zum Andreas-Gryphius-Preis, 1967 den Preis der Hermann-Sudermann-Stiftung, 1973 den Hörspiel- und Erzählerpreis des Ostdeutschen Kulturrates.

1987 wurde ihr für ihr langjähriges ehrenamtliches Engagement in der Kulturarbeit das Bundesverdienstkreuz am Bande verlie­hen, und 1988 wurde sie mit dem Sonderpreis zum Kulturpreis Schlesien geehrt.

Eine lange, schleichende Krankheit verwehrte ihr in den letzten Jahren die Teilnahme an den von ihr gern besuchten Tagungen. Am Morgen des 5. November 2008 starb sie in ihrem Haus in Heidelberg-Schlierbach.

Dagmar von Mutius hat kein umfangreiches, jedoch ein bedeutendes Werk hinterlassen, das die breite Öffentlichkeit zwar nicht erreichte, jedoch seiner Qualität, seiner Wahrhaftigkeit, seiner Geisteshaltung und seines sprachlichen Ausdrucks wegen Bestand haben sollte.

Bild: Archiv Günther Gerstmann.

Monika Taubitz