Als Gerhard von Mutius (1872-1934) 1919 in Norwegens Hauptstadt die neue Weimarer Republik als ihr “Erster Gesandter” zu vertreten sich anschickte, “trotz aller Anfeindungen der Konservativen”, lag bereits eine lange Diplomatenlaufbahn hinter ihm (mit den Stationen Paris, Petersburg, Peking, Konstantinopel und Warschau). “Ein viertes Kind, ein kleines Mädchen” wurde ihm in Oslo geboren, “welches auf den Namen Dagmar hört”, wie es mehr beiläufig in einem Brief an Hermann Graf von Keyserling (1880-1946) heißt. Offenbar muß wohl schon sehr früh das Bild des Vaters ins Bewußtsein des Kindes getreten sein, wie ein autobiographischer Text nahelegt. In Kopenhagen und Bukarest, auf den weiteren diplomatischenStationen des Vaters, verbrachte Dagmar von Mutius ihreKindheit und Jugend. Ihr Buch Versteck ohne Anschlag . Eine Kindheit (Heidenheim 1975) geht auf Eindrücke und Erlebnisse in Rumänien zurück. Es ist aber auch Teil eines Dialogs mit ihrem Vater: “Ob Wirklichkeit nur in den Zwängen haftet, die uns jedes Leben mehr oder minder auferlegt, oder ob der Geist nicht auch in äußersten Situationen der Gefangenschaft oder des Alleingangs, die Kraft hat, uns in die Freiheit unserer ganz persönlichen Existenz zu entrücken. Damit aber der Erde wiederzugeben.” Liest man das Vorwort zu den Aufzeichnungen über eine Reise nach China und Japan 1908/1909, die Gerhard von Mutius unter dem Titel Ostasiatische Pilgerfahrt veröffentlichte (Berlin 1921), meint man es mit Entsprechungen zu derartigen Feststellungen zu tun zu haben, weit mehr aber noch, wenn man sich in die Lebenserinnerungen des DiplomatenAbgeschlossene Zeiten (Hermannstadt 1925) vertieft: “Alles Lebendige sagt immer noch anderes, immer noch mehr, als Worte es vermögen.”
Das Gespräch mit dem Vater, der 1934 in Berlin verstorben ist, ist, wie sie selbst bekannt hat, nie abgerissen– ist über den Tod hinaus weitergeführt worden, bis auf den heutigen Tag. Das Erinnerungsblatt, das die Tochter ihrem Vater gewidmet hat, bezeichnet eine Distanz und Nähe, wie schon die Überschrift lautet. Das landläufige Bild, das gemeinhin von einem “preußischen Junker” besteht, trifft nach dem Zeugnis der Tochter für Gerhard von Mutius nicht zu: Er suchte auch im heimatlichen Schlesien das Gespräch mit den Menschen; er “unterhielt sich auf seinen langen Wanderungen am liebsten mit diesem weltabgeschiedenen, versponnenen Glatzer Bergvölkchen, liebte Farbe und Fülle der Realität, den Humor und den notwendigen Ernst …” Die nahe Grenze zu Böhmen war für ihn eher eine Einladung, sich Zusammengehörigkeiten bewußt zu machen. “Im Wesen der Heimat liegt für mich etwas wie ein Versprechen deutsch-slawischer Ergänzung und Zukunft!”, schrieb er einmal.
Als Dagmar von Mutius während des Zweiten Weltkrieges die Verwaltung des Gellenauer Familiengutes in der Grafschaft Glatz übernahm, kam sie selber mit den Landarbeitern ins Gespräch, ging mit ihnen auf die Flucht vor der anrückenden sowjetischen Armee und kehrte nach ihrem Scheitern zurück– und arbeitete auf den ihr nicht mehr gehörenden Feldern zusammen mit den deutschen Gutsleuten für die Polen, bis sie 1946 alle zusammen vertrieben wurden. Auskunft darüber gibt ihr erstes Buch, das Wetterleuchten (1961), eine “Chronik aus einer schlesischen Provinz”. Bezeichnend ist, daß hier die Deutschen ebenso wie die Polen hineingestellt werden in den ganzen Reichtum der Landschaft, in die Naturvorgänge. (“Es scheint mir oft besser, bewußt mit Fragen zu leben, deren Antworten wir vielleicht nie erfahren, als daß wir uns mit Antworten in einer nun wieder wohlsituierten Zeit allzu schnell beruhigen.”). Die große Geste der Anklage, der Schuldzuweisungen unterbleibt; leise Töne sinds oft, die hier anklingen, mit dem Ausdruck verhaltener Trauer um einen alten deutschen Adelssitz. Auf dem dünnen Boden der Nächstenliebe und der Demut werden “Lektionen der Stille” erteilt. Wetterleuchten möchte auch eine “Danksagung” sein “an östliche Menschen … an den einzelnen, an Deutsche, Russen, Tschechen und Polen … auch in einer genormten Welt das Vergessene, Unscheinbare, sichtbar zu machen, dem jeweiligen Menschen in seiner Unverwechselbarkeit ein Stück seiner zugeschütteten Würde zu wahren.” Ein nicht geringer Anspruch an Trauer- und Erinnerungsarbeit wird eingelöst, wohl ein Stück “Friedensarbeit” im besten, unverfälschten Sinn geleistet. Besonderer Dank aber gilt einem Stand, den es nicht mehr gibt: den schlesischen Landarbeitern. Ihnen hat Dagmar von Mutius auch im Traumland vom gemeinsamen Acker (Feudalherrschaft und Gemeinschaft) ein ergreifendes Denkmal gesetzt. Denn: “Das Ungerechte, das denen widerfahren ist, die auf den ostdeutschen Gutshöfen jahrhundertelang die Arbeit taten, wurde im Verlauf ihrer inneren Geschichte durch Treue in Recht verwandelt.”
Auch die Einladung in ein altes Haus (Heidenheim 1980), in das alte Gutshaus von Gellenau also, diese “Geschichten von Vorgestern”, möchten Dank abstatten, obgleich ja das alte Zuhause nach 1946 zum “Fledermausparadies” verkam und nun ein Fremder der Besitzer ist. Dieses Werk enthält zudem eine Liebeserklärung an das Grafschafter Land: das Kapitel “Verlorenwasser”. “Wir alle”, so schließt dieses Credo, “finden erst durch das Land unserer Herkunft zu uns selbst zurück.” Es sind Seiten, die mit zum Schönsten gehören, was diese Schriftstellerin gestaltet hat, sie enthalten meisterliche Sprachbilder, die wohl Versöhnung stiften, am geistigen Brückenbau mithelfen können.
Die Einladung in ein altes Haus ist, vermehrt um die Besuche am Rande der Tage, in einer Neuausgabe vorgelegt worden (Würzburg 1994). Eine Reihe Essays gelten literarischen Freunden: Max Tau, dem sich Dagmar von Mutius verbunden fühlte im gemeinsamen Anliegen und Wirken, die “Versöhnung der Gegensätze” zu versuchen; da werden wir eingeladen, einen Weg zu finden zu Eichendorff (in einer Paraphrase zu seinem Gedicht “Das Alter”); außerdem kann sie mit Entdeckungen bei Marie Luise Kaschnitz, Edith Stein, Hans Lipinsky-Gottersdorf aufwarten.
Es sind nicht nur ostdeutsche Landschaften, die uns von Dagmar von Mutius nahegebracht werden; was mehr noch ergreift: Der Zug der Menschen, die aus der Tiefe emporsteigen, wenn auch nur ein einziges Wort an sie erinnert, voller Seelenkraft, auch “die Summe des dort Jahrhunderte gelebten Lebens” enthaltend.
So darf für das literarische Werk von Dagmar von Mutius gelten, daß es “die Trauer über Verlorenes ebenso wie die Hoffnung” reflektiert, “daß das Gefühl der Unsicherheit, ob Opfer und Buße ausreichend waren, eines Tages Gewißheit werden möge. Alle versöhnlichen, aufbauenden Impulse aus der Vergangenheit des Leidens sind in eine bessere Zukunft hinüberzuretten.” (Louis Ferdinand Helbig).
Weitere Werke: Eleonore Haugwitz [d. i. Dagmar von Mutius]: 1945/46 auf einem Gutshof in der Grafschaft Glatz. In: Letzte Tage in Schlesien. Herausgegeben vonHerbert Hupka. München 51988. – Grenzwege (Erz.), Göttingen 1964. – Wandel des Spiels (Roman), Göttingen 1967. – Verwandlungen. Erzählungen (=Esslinger Reihe 3.), Esslingen 1981.– Draußen der Nachwind. Aus der Mappe der Jahre (Erz.), Würzburg 1985.
Lit.: Lektionen der Stille. Dagmar von Mutius. Ein Portrait. Würzburg 1987. – Arno Lubos: Geschichte der Literatur Schlesiens. Bd. III. Würzburg 1974. – Louis Ferdinand Helbig: Der ungeheure Verlust.Flucht und Vertreibung in der deutschsprachigen Belletristik der Nachkriegszeit. Wiesbaden31996. – Aloys Bernatzky: Lexikon der Grafschaft Glatz. (= Glatzer Heimat-Bücher. Bd. 8.) Leimen/Heidelberg 1984.
Bild: Archiv G. Gerstmann.
Günter Gerstmann