Biographie

Neumann, Peter Horst

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Germanist, Lyriker, Essayist
* 23. April 1936 in Neiße/ Oberschlesien
† 27. Juli 2009 in Nürnberg

Was ein repräsentativer Charakter ist, kann man an der Vita des Literaturprofessors, Lyrikers, und Essayisten Peter Horst Neu­mann exemplifizieren: Geboren im heute polnischen Neiße, dem Sterbeort Eichendoffs, hat er seine oberschlesische Heimat früh verloren und doch nie vergessen. Dass es die Familie nach Aue (ins sächsische Erzgebirge) verschlagen hat, mag Zufall gewesen sein. Eine rührende Anhänglichkeit hat sich Neumann gegenüber auch diesem Ort seiner Kindheit und Jugend bewahrt. Hier besuchte er Grund- und Oberschule und erfuhr das Glück einer ersten Liebe. Mitschülern hat sich eingeprägt, dass Peter eine wunderschöne Stimme hatte, die er auch öffentlich hören ließ – zum Beispiel bei der Einweihung des Auer Fußballstadions in Anwesenheit des DDR-Ministerpräsi­denten. Sicher war es den Eltern nicht gleichgültig, dass ihr Sohn den Katholizismus seiner oberschlesischen Heimat nicht treu geblieben ist. Aber der junge Mann engagierte sich (wie fast alle seine Mitschüler) im sozialistischen Jugendverband, nahm an zentralen Treffen teil, die ihm Gelegenheit zu Begegnungen mit prominenten Kunst- und Kulturschaffenden geboten haben. Doch nach dem 17. Juni 1953 kam die erste Ernüchterung: Auch Neumanns Idole (zu denen der Lyriker Horst Lommer gehörte) verließen die DDR und erklärten diesen Schritt im RIAS. Eine zweite Ernüchterung folgte, als die Studierenden der DDR-Musikhoch­schulen (und Neumann hatte nach dem Abitur ein Musikstudium in Leipzig begonnen) zur Ausbildung herangezogen wurden. Nun kehrte auch Neumann der DDR den Rücken – zunächst in Richtung Göttingen. Hier und in Berlin (W) setzte er sein Studium fort – jetzt mit der Möglichkeit, mehreren Interessengebieten gleichzeitig zu frönen: Er kombinierte Musikwissenschaft mit Philosophie, Literatur- und Kunstwissenschaft. Nach der Promotion mit einer Arbeit zu Günter Eich erging an den Dreiunddreißigjährigen ein erster Ruf auf einen Lehrstuhl – wieder verbunden mit einem Ortswechsel, diesmal in die Schweiz. Neumann lehrte Neuere deutsche Literaturwissenschaft. Arbeiten zu Celan, Brecht, Lessing und Jean Paul entstammen dieser Zeit. In der Schweiz ist Neumann – mit Unterbrechungen – 12 Jahre gewesen – die längste Aufenthaltszeit an einem Ort. Als 1983 auch an der Universität Erlangen-Nürnberg eine Professur vakant war, entschloss sich Neumann doch zur Rückkehr nach Deutschland.

In dem Gedicht „Heimat“ hat er davon gesprochen:

Heimat

Wo du das Gehen
Lernst und nicht
das Bleiben.

(Peter Horst Neumann: Auf der Wasserscheide, Gedichte. Rimbaud Verlagsgesellschaft mbH, Aachen 2003, S. 91)

Die „Rückkehr“ an den Geburtsort fand nicht nur de facto statt, sondern auch indem Neumann Präsident der „Eichendorff-Gesellschaft“ wurde, die bis zu ihrer Auflösung 2010 bei den alljährlichen Preisverleihungen namhafte Autoren aus Ost und West zusammenführte.

Was lange Zeit weder Kollegen noch Studierende in Erlangen wussten: Der Literaturprofessor schrieb Gedichte; allerdings bekam die außer seiner Frau Astrid niemand zu sehen. Dem Drängen von Frau Astrid ist es zu verdanken, dass sich Neumann schließlich 1994 zu einer ersten Veröffentlichung überreden ließ: Gedichte. Sprüche. Zeitansagen. Dann erschienen Gedichtbände in rascher Folge: Pfingsten in Babylon (1996), Die Erfindung der Schere (1999), Auf der Wasserscheide (2003), Kreidequartiere (2003), Was gestern morgen war (2006), Der Heckenspringer (2009), Aus dem Logbuch der Arche. Letzte Gedichte (2009) und – herausgegeben von Dagmar Nick 2010 – nachgelassene Gedichte unter dem Titel Vertrau dem Schatten. Das sind allesamt schmale Heftchen, aber Neumann war ja ein Meister der Kurz- und Kürzestgedichte. Erinnerlich ist seine Vortragsweise: Er las jedes Gedicht mehrfach vor; und das war gut so; denn nur beim mehrmaligen Hören oder Lesen erschließen sich die Gedichte, welche meist nur wenige Zeilen umfassen, die aber einen sehr aufmerksamen, im Entschlüsseln von Untertexten geübten Leser erfordern. Naumann hat das – Literaturprofessor, der er war – im Blick gehabt und unter dem Titel Die allegorische Spinne Wege zu seinen Gedichten aufgezeigt, indem er dem jeweiligen fiktionalen Text eine Interpretation hinzugefügt hat. Dieses Wagnis gehen nur wenige Autoren ein – ebenso wenig wie sich ein Literaturwissenschaftler gerne als Verfasser künstlerischer Texte dem Kollegenurteil aussetzen mag.

Auch Neumann hatte wohl diese Skrupel – daher das späte Outing, das ihm jedoch sogleich eine Veröffentlichung im „Conrady“, dem „Who is who“ der deutschsprachigen Lyrik eingebracht hat.

Auch Literaturpreise und akademische Ehren ließen nicht auf sich warten: So wurde Neumann 2002 Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, erhielt 1996 den Eichendorff-Literaturpreis des Wangener Kreises, 1998 den Nikolaus-Lenau-Preis, 2001 den Kulturpreis Schlesien des Landes Niedersachsen und 2005 den August-Graf-von-Platen Preis.

Viel zu früh ist Peter Horst Neumann am 7. Juli 2009 in Nürnberg gestorben. Seine letzte größere Reise hatte ihn – wie so oft – an das Grab von Reiner Maria Rilke geführt, einem Autor, dem er sich ebenso verbunden fühlte wie Paul Celan, Brecht oder George, Jandl und Aichinger. Ihnen allen hat er als Professor für Neuere deutsche Literatur seine Aufmerksamkeit geschenkt, hat über sie geschrieben: Jean Pauls Flegeljahre (1966), Der Weise und der Elefant. Zwei Brecht-Studien (1970), Der Preis der Mündigkeit, Über Lessings Dramen (1977), Die Rettung der Poesie im Unsinn. Der Anarchist Günter Eich (1981); Erschriebene Welt, Essays und Lobreden von Lessing bis Eichendorff (2004) sowie Erlesene Wirklichkeit, Essays und Lobreden von Rilke, Brecht und George bis Celan, Jandl und Ilse Aichinger (2005).

In der Barockzeit war ein gelehrter Dichter (wie Neumann) häufig anzutreffen; man nannte ihn einen poetus doctus. Heute ist dieser Typus seltener zu finden – und wenn Studierende das große Glück haben, einem solchen akademischen Lehrer zu begegnen, können sie froh sein. Kommt zu künstlerisch-literarischem Talent und rationalem Vermögen noch Musikalität, so werden enthusiastische Studentenurteile wie das folgende verständlich: „Neumann verkörperte ein Verhältnis zwischen Wissenschaft und Künsten wie es in der Universitätsgeschichte unserer abendländischen Kultur alles andere als selbstverständlich ist.“ (Christoph Grubitz). Selbstverständlich war auch Neu­manns Engagement gegen die Rechtschreibreform nicht oder sein Votum für den Erhalt seines ehemaligen Auer Gymnasiums und der Eichendorff-Gedenkstätte in seinem Geburtsort: Nicht nur die Liebe zum Gedicht hat Neumann vermittelt, sondern auch die Verteidigung der Poesie außerhalb ihrer eigentlichen Grenzen vorgelebt. Ihm dafür zu danken, bietet die Erinnerung an seinen zehnten Todestag willkommenen Anlass.

Heimat

Wo wir das Gehen
lernen, nicht
das Bleiben.

Einen Fuß
vor den andern gestellt,
ging ich davon.

Ein Wort
hinters andre gesetzt,
komm ich zurück.

Weblinks: http://www.peterhorstneumann.de. – https://grubitz.wordpress.com/2011/09/25/ein-lehrer-der-liebe-zum-gedicht-peter-horst-neumann-1936-2009. – https://de.wikipedia.org/wiki/Peter_Horst_ Neumann.

Bild: http://www.peterhorstneumann.de.

Elke Mehnert