Biographie

Niedermayer, Rudolf

Herkunft: Sudeten (Böhmen u. Mähren, österr. Schlesien)
Beruf: Musikpädagoge, Organist, Komponist, Dirigent
* 30. Oktober 1891 in Schönbach/Eger
† 4. Oktober 1970 in Eberbach/ Baden

Seine Enkelin Margret erinnert sich gut an Rudolf Niedermayer: wie er ihr als 6-Jähriger das Musizieren mit der Blockflöte beibrachte, wie er am Ende eines Mozart-Konzertes in Würzburg aus seiner Verzückung erwachte, wie er am Klavier mit Solo-Sängerinnen und -Sängern arbeitete, wie er mit den Kindern seine Späße machte und bei Waldspaziergängen kleine Flöten aus Holunderstöckchen schnitzte. Gleichwohl – seine Enkel zu motivieren, wenn es mit Geige und Klavier nicht so recht klappte, das gehörte nicht zu seinen Stärken.

Rudolf Niedermayers Geburtsort Schönbach/ Eger, heute Luby, Kreis Cheb in Tschechien, galt als Cremona Böhmens. Hier betrieben seine Eltern ein Café, der Vater war Zuckerbäcker, die Mutter stammte aus einer Geigenbauer- und Musikerfamilie. Ca. 1.500 Menschen in Schönbach fanden in der Musikindustrie, vor allem im Geigenbau, ihr Auskommen. Rudolf lernte Geige bei seinem Großvater, dann besuchte er die örtliche Musikschule, lernte Violine, Klavier, Flöte, Fagott und Gesang. Schließlich studierte er am Konservatorium in Prag, Abteilung Orgel und Komposition, lernte auch Tuba, später Kontrabass.

Seine erste Stelle fand der Katholik in Semlin bei Belgrad. Er arbeitete als Organist in der Semliner Dekanatskirche, aber nicht nur das: er war Komponist, leitete Chöre, war Dirigent, inszenierte Theaterstücke und Operetten. Er unterrichtete Laien und Profis, bildete Nachwuchspädagogen aus, brachte sich aktiv in das Kulturleben in Semlin und dem vorwiegend deutschsprachigen kleinen Nachbarort Franztal ein. Die Kantorenschule in Semlin leitete er. Er arbeitete für einen Gewerbegesangverein und für einen Arbeitergesangverein. Er leitete einen kroatischen Gesangverein. Kroatisch hatte er privat gelernt. Seine Leidenschaft galt dem Komponieren; auch eigene Reime, oft in Egerländer Mundart, vertonte er. In Esseg leitete er eine evangelische Kantorenschule. Er betreute in Semlin einen Tempelchor – „Tempel“ wurde in Semlin die Synagoge genannt – und spielte dort auch Orgel. „Musik kennt keine Grenzen“, sagte er einmal, so erinnerte sich seine älteste Tochter Frieda, als er eine Einladung der jüdischen Gemeinde annahm, obwohl er wegen der Nazi-Gefahr davor gewarnt wurde.

Emilie Schneider aus einer alten Semliner Familie wurde 1914 seine Frau. Das Paar hatte vier Kinder, Frieda, Gertrud, Brunhilde und Otmar. Emilie war selbst Musikerin. Sie spielte die Orgel im Gottesdienst, leitete Kindergruppen, führte Regie in Theaterstücken und Operetten. Es kam, wie es damals wohl kommen musste: sie wurde die Frau an seiner Seite, unterstützte ihn, wo immer sie konnte und trat hinter ihm zurück. Nach dem Tod ihrer 8-jährigen Tochter Brunhilde im Jahr 1932 stellte sie ihre Kirchenmusikarbeit ein.

Seit 1923 lebten die Niedermayers vegetarisch. Rudolf war es gesundheitlich gar nicht gut gegangen. Dass das mit der üppigen Ernährung in Semlin – die Menschen lebten dort, so sein Eindruck, wie im Schlaraffenland – zusammenhängen könnte, erfuhr er von einem Freund der Familie. Vegetarisch essen machte ihn gesund. Die Köstlichkeiten, die er als Sohn eines Zuckerbäckers kennengelernt hatte, genoss er aber bis an sein Lebensende.

Semlin wie Schönbach standen damals im Zentrum der Weltpolitik: Untergang des österreich-ungarischen Kaiserreiches, zu dem Schönbach, Prag und Semlin gehörten, Gründung der Tschechoslowakischen Republik und Jugoslawiens nach dem Ersten Weltkrieg. Nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Jugoslawien 1941 fanden sich die Menschen plötzlich in Kroatien wieder. Als die Rote Armee die Hitlertruppen immer weiter zurückschlug, floh die Familie nach Esseg/ Osijek im damaligen Kroatien, einem Vasallenstaat des Nazireiches. Niedermayer arbeitete dort an der Lehrerbildungsanstalt. 1944 musste die Familie erneut fliehen – zunächst nach Schönbach, dann nach Deutschland. Seine damaligen Kompositionen haben die Flucht nicht überstanden. Erste Bleibe war Abensberg bei Regensburg, dann Lauingen a.d.Donau. Er arbeitete an der Lehrerbildungsanstalt und als Privatlehrer. 1957 zog die Familie nach Mosbach/ Baden, wo Tochter Gertrud Beck mit ihrer Familie lebte. Seine Tätigkeit als Komponist, Organist, Musikpädagoge und Chorleiter setzte er fort.

Es wird ihm schwergefallen sein, sein Schicksal zu akzeptieren; auch damals waren Geflüchtete nicht überall willkommen. Viele Auseinandersetzungen führte er um arbeitsrechtliche und sozialrechtliche Fragen. Seine Gesundheit litt, später hatte er sich aber erholt, starb dann 1970 an einer Krebserkrankung. Er konnte nicht sehen, dass die Ursache für das furchtbare Schicksal der Vertriebenen und Flüchtlinge in Nazi-Deutschland zu suchen war. Er war eher unpolitisch, aber einen klaren Strich zu revanchistischem Gedankengut zog er nicht.

Niedermayer hinterlässt eine Fülle von Kompositionen. Er vertonte viele Gedichte ganz unterschiedlicher Autoren – Alltagsreime, Heimatdichter, große Dichtkunst. Er selbst reimte für jedes seiner zahlreichen Enkelkinder ein Gedicht. Er komponierte Musik für verschiedene Instrumente (Klavier, auch vierhändig, Cembalo, Trompete, Posaune u.a.). Lieder und Heimatlieder komponierte er für seine eigene alte und neue Heimat, aber auch für viele andere kleine und große Städte und Regionen. Musik kennt eben keine Grenzen. Die eine oder andere hat er allerdings doch gezogen: Rock, Pop, Schlager, Jazz usw. waren ihm ein Graus.

Eine musikalische Einordnung seiner Werke sei hier nicht vorgenommen. Seine Enkelin Margret freut sich einfach noch immer darüber, dass er ihr eine Olympische Hymne widmete, als sie sich 1968 für das Olympische Jugendlager in Mexiko qualifizierte. Sie erinnert sich an das Banater Schwabenlied, an das Odenwaldlied oder an die Ulmer Schachtel. Bei Youtube kann man einige Stücke von ihm finden: Die erste Nachtigall, Jugoslawische Serenade, Freuet euch (Aufnahme des brasilianischen Chors Coral do Carmo). Die Aufnahmequalität lässt teilweise zu wünschen übrig: eine jahrzehntealte Tonbandaufnahme ist der Ursprung. Ein Tonbandgerät hatte ihm sein Schwiegersohn in den 1950er Jahren geschenkt – ein großer Techniksprung für Komponisten! Welche Stücke er am liebsten mochte, welches in seinen Augen seine Meisterstücke waren, ist nicht bekannt. In den Heften des Musikarchiv Regensburg der Künstlergilde Esslingen e.V. kann man seine Kompositionen finden. Ein Beispiel: Intermezzo für gemischte Chöre über Bach und Reger, das er auch textete. Einen Höhepunkt seiner Arbeit als Chorleiter erlebte er 1930, als er mit dem Cäcilienverein aus Franztal im Belgrader Radio auftreten durfte; sein Ruf als Chorleiter hatte dies ermöglicht. Alte deutsche Volkslieder wurden zur Aufführung gebracht.

Er wäre bestimmt sehr stolz, wenn er wüsste, dass eine seiner 17 Enkelinnen und Enkel zu seinem 130sten Geburtstag eine Würdigung verfasst.

Bild: Privatbesitz der Autorin.

Margret Beck