Biographie

Nitschmann, Heinrich Eduard

Herkunft: Westpreußen
Beruf: Literaturhistoriker
* 24. April 1826 in Elbing/Westpr.
† 27. April 1905 in Elbing/Westpr.

Der Literaturhistoriker, Schriftsteller, Übersetzer und Komponist Heinrich Nitschmann aus Elbing/Westpreußen war mindestens bis etwa 1920 in Deutschland sehr bekannt. Nach 1920 ließ dies nach, denn er hatte sich stark mit slawischer Literatur und besonders auch mit polnischer Literatur beschäftigt. Dies war nach dem Frieden von Versailles nicht sehr populär. So verblaßte selbst in seiner Vaterstadt sein Name und sein Werk. In Polen war das anders, sowohl vor als auch nach 1945.

Sein Vater, Heinrich Leopold Nitschmann, war in Elbing Stadtgerichtsrat. Er gehörte zu einer bekannten Juristenfamilie. Es wird angenommen, daß auch Heinrich Jurist werden sollte. Der sehr begabte und fleißige Junge zeigte aber schon früh andere Interessen. Sie galten der Literatur, fremden Sprachen und der Musik. Heinrich besuchte das Atheneum Elbingense (Gymnasium), das er auf ärztlichen Rat in der Prima verließ, um auf dem Lande zu genesen. Danach erfüllte er seine einjährige Militärdienstpflicht bei den Husaren. Anschließend studierte Nitschmann als Hospitant an der Universität Berlin u. a. Geschichte, Philosophie, Geographie sowie Musikgeschichte. Bald erwarb er das Rittergut Posaren (heute Pozary bei Soldau/Dzialdowo). Dort vertiefte er seine nicht abgeschlossenen Studien. Finanzielle Sorgen hatte er nicht. In Posaren erlernte er mehrere Sprachen und mit Hilfe eines Lehrers Polnisch. Er wollte seine Gutsarbeiterfamilien verstehen. Nitschmann begann neben deutschen Volksliedern auch polnische, serbische, französische und englische zu sammeln und ins Deutsche zu übersetzen. Er studierte in Posaren sehr eifrig die Schriften des aus Mohrungen/Ostpreußen stammenden Johann Gottfried Herder und beherzigte dessen Aufruf „Rigaer Fragmente“, in dem sich Herder zum Verstehen von Sprache und Dichtung fremder Völker bekannte: „Ich lerne besser urteilen und die deutsche Literatur übersetzen dadurch, daß ich die anderer Völker kennenlerne.“ Im Geiste Herders und natürlich Kants gab es damals in Preußen viele Stimmen für eine gerechte Völkerbehandlung. So hatte der Preußische Kultusminister Karl Freiherr von Stein zu Altenstein (1817-1838) gesagt: „Es ist nicht nötig, daß die Polen ihre Sprache aufgeben oder hintansetzen müssen; Religion und Sprache sind die größten Heiligtümer einer Nation.“ Nitschmann übertrug viel polnische Poesie ins Deutsche.

Weil es ihn wieder nach Elbing zog, verkaufte er 1865 das Rittergut.

Erstmals veröffentlichte Nitschmann 1834 das von ihm übersetzte Gedicht „Die Träne“ von Franciszek Morawski in den „Elbinger Anzeigen“. 1860 erschienen in einem Sammelband die von ihm übersetzten Lieder und Gedichte von 25 polnischen Autoren wie Johann Kochanowski, Franciszek Karpinski, Lenartowicz und Ujejski. Die Krönung seiner literarisch-wissenschaftlichen Arbeit war eine für den deutschen Leser bestimmte fünfteilige „Geschichte der polnischen Literatur“, die in Leipzig 1882 und erweitert 1889 sowie 1896 in Gera erschien. Es war eine erste umfassende und gründliche Darstellung polnischer Poesie und Prosa. Sein Sammelband „Deutsches Land und Deutsche Lieder“ wurde dreimal aufgelegt. Das altprußische Epos „Hogia“ erschien 1885 in Danzig. Er schrieb Balladen wie „Agathe, ein Sang aus vergangenen Zeiten“ und Sonette. In seinen vermischten Schriften ist u. a. das Lustspiel in drei Bildern „Eine Badereise“ zu finden.

Neun Jahre leitete er die von ihm mitbegründete „Elbingerphilharmonische Gesellschaft“. Der Elbinger Nitschmann zeichnete sich auch auf dem Gebiet der klassischen Musik aus, war selbst Komponist, ein angesehener Musikkritiker, erfolgreicher Organisator von Musikveranstaltungen und Reiseschriftsteller. Zu seinem Nachlaß gehören mehr als 100 Rezensionen, Berichte und Fachaufsätze. Seine Hausbibliothek umfaßte ca. 3.000 Bände deutsche, polnische und andere Literatur. Ein Teil des Nachlasses wird in der Elbinger Stadtbibliothek aufbewahrt. Dort befinden sich auch 151 an ihn gerichtete Briefe, kurze Nachrichten und Schreiben mit einem Umfang von jeweils drei bis vier Seiten. Sie wurden erst 2006 wiederentdeckt und sollen noch näher untersucht werden.

In Deutschland war es um Heinrich Nitschmann besonders nach 1945 sehr still geworden. Lediglich das Westpreußen-Jahrbuch 45/94 brachte eine recht ausführliche Lebensbeschreibung von Dorothee Haedicke. Aus Anlaß seines 100. Todestages referierte in Elbing der Vorsitzende der Truso-Vereinigung, Gemeinnütziger Zusammenschluß für Elbinger Kultur und Wissenschaft, Hans-Jürgen Schuch, am 22. Juni 2005 im Rahmen einer Vortragsveranstaltung über den verdienstvollen Sohn der Stadt, den Dichter und Übersetzer, Musiker und Literaturhistoriker. Die polnische Stadtbibliothek folgte mit einer umfangreichen Vortragsveranstaltung am 18. November 2005 an derselben Stelle. Es waren neun Referenten aus Warschau, Krakau, Allenstein, Lublin, Danzig und Elbing erschienen. Der Veranstaltungsleiter, der polnische Priester und Literaturprofessor Anastazy Bławat, stellte dabei eine 116 Seiten umfassende Biographie vor. Aber bereits 1955, 1959 und 1969 waren in Polen Aufsätze über Nitschmann erschienen.

Hoch angesehen und besonders in Elbing geschätzt, verstarb er dort als Junggeselle. In seinem Testament verfügte er die Errichtung der mit rd. 260.000 Mark ausgestatteten „Geschwister Heinrich- und Auguste-Nitschmann-Stiftung“ zur Unterstützung bedürftiger Handwerker, Musiker, Musiklehrer und armer Waisen. Seine in Elbing nach ihm benannte Straße erinnert noch in der Gegenwart an diese bedeutende und völkerverbindende Persönlichkeit aus Elbing.

Lit.: Boldt, A., Elbinger Geistesleben im neunzehnten Jahrhundert, Mohrungen 1894, S. 183-188. – Pompecki, Bruno, Literaturgeschichte der Provinz Westpreußen, Danzig 1915. – Podlech, Alfred, Elbinger Autoren und Literatur aus fünf Jahrhunderten, Bremerhaven und Münster 1976. – Bartoszewski, A., Henryk Nitschmann z Elbląga, in: Panorama Potnocy, Nr. 6, Elbląg 1959, S. 4. – Bukowski, Andrzej, Henryk Nitschmann, in: Rejsy Nr. 46, 11/1955. – Lüdke, Gerhard (Hrsg.), Nekrolog zu Kürschners Literatur-Lexikon 1901-1935, Berlin/Leipzig 1936. – Grunau (A), Nitschmann, Eduard Heinrich, in: Altpreußische Biografie, Bd. II, Königsberg i.Pr. 1942, S. 474. – Haedicke, Dorothee, Heinrich Nitschmann aus Elbing. Im Dienste völkerverbindender Lied- und Literaturforschung, in: Westpreußen-Jahrbuch, Bd. 45/95, Münster 1994. – Bławat, Anastasy Ludwik, Henryk Nitschmann życie i dzieło, Elbląg 2005. – Długokecki, Wiesław (Hrsg.), Henryk Nitschmann 1826-2005, Elbląg 2005.