Biographie

Nordau, Max

Beruf: Kulturkritiker, Arzt
* 29. Juli 1849 in Pest/Ungarn
† 22. Januar 1923 in Paris

Außergewöhnliche Lebensläufe beginnen nicht selten auch außergewöhnlich. Als Sechzigjähriger erinnert Max Nordau an die Turbulenzen zum Zeitpunkt seiner Geburt “mitten in dem Durcheinander des in den letzten Zügen liegenden ungarischen Freiheitskampfes” und auch schon während seiner pränatalen Existenz: “Drei Monate vor meiner Geburt mußten meine Eltern aus ihrer Wohnung in Pest fliehen und in einer Art Bauernhütte Zuflucht suchen. Sie retteten sich vor den Bomben der Ofner Festung, die Pest beschoß, nach dem Stadtwäldchen, wo sie ganz schutzlos zwei schreckensvolle Nächte verbrachten”. Geboren wird der Rabbinersohn als Simon Maximilian Südfeld, benutzt den Namen Max Nordau aber bereits seit 1861 als nom de plume, der ihm 1873 auch gesetzlich zugesprochen wird. Die Namensänderung markiert das Bestreben, seine jüdische Herkunft zu verleugnen und fortan als konfessionsloser Deutscher zu leben. Diese Option verleidet ihm auch seine ungarische Heimat, wo, verstärkt nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867, die deutsche Sprache und überhaupt das Deutschtum mehr und mehr verdrängt werden.

Immerhin schließt Nordau noch in Ungarn seine Gymnasialbildung und sein Medizinstudium ab, ehe er sich 1876 zunächst für zwei Jahre und dann seit 1880 auf die Dauer in Paris niederläßt– auch nicht gerade, nach dem Deutsch-Französischen Kriege, in einer deutschfreundlichen Umgebung, aber doch in der freieren Atmosphäre der damaligen Kulturmetropole Europas. Weltläufigkeit hatte er bereits während einer ausgedehnten Europareise 1874/75 erworben, deren Finanzierung ihm erste journalistische Erfolge ermöglichten. In Paris ergänzt er 1881 seine medizinischen Studien bei dem weltberühmten Neurologen Jean-Martin Charcot, der vier Jahre später auch Sigmund Freuds Lehrer wird, und wird 1882 mit seiner Arbeit De la castration de la femmepromoviert. Mittlerweile arbeitet er für die Frankfurterund dieVossische Zeitung, und im Jahre 1883 erscheinen skandalumwittertDie conventionellen Lügen der Kulturmenschheit: gemeint sind die religiöse Lüge, die monarchistisch-aristokratische Lüge, die politische und wirtschaftliche Lüge sowie die Ehelüge. Auffällig ist die Nähe zu Ibsens Begriff der Lebenslüge, einem Zentralthema der am 9. Januar 1885 uraufgeführtenWildente. Nordaus Pamphlet, das in Österreich und Rußland verboten, konfisziert und verbrannt wird, stellt seinen ersten großen Bucherfolg dar, der sich auch durch rasche Übersetzungen ins Englische, Französische und Niederländische bekundet. 1891 wird Nordau selber ein Opfer der ‘wirtschaftlichen Lüge’ seiner Epoche: infolge von Börsenspekulationen verliert er sein gesamtes Vermögen, dessen Verlust er aber durch den Ertrag seines davon handelnden Romans Drohnenschlacht (1897) wieder ein wenig wettmacht.

Arm und mit Schulden belastet, schreibt Nordau 1892 und 1893 in einer gewaltigen Kraftanstrengung sein bedeutendstes und einflußreichstes Buch mit dem durch nationalsozialistischen Mißbrauch nachgerade zum Tabuwort gewordenen Titel Entartung, dessen zwei starke Bände in denselben Jahren bei Duncker & Humblot in Berlin erscheinen und, wie dieConventionellen Lügen, sogleich in die bedeutendsten europäischen Kultursprachen übersetzt werden. Statt der niederländischen gibt es aber diesmal, und zwar schon 1893, eine italienische Ausgabe; und dies ist vielleicht kein bloßer Zufall, hat der Verfasser das Werk doch dem berühmten Autor von Genie und Irrsinn (Genio e Follia, 1864), “Herrn Cesare Lombroso, Professor der Irrenheilkunde und gerichtlichen Medizin an der Universität zu Turin”, gewidmet. Das ominöse Titelwort ‘Entartung’, zuerst 1883 in NietzschesZarathustragebraucht, ist bei Nordau eine Eindeutschung des Terminusdégénérescence, wie er von Auguste Bénédicte Morel (1809-1873) in seinem Traité desDégénérescences physiques, intellectuelles et morales(1857) verwendet worden war. Nordau brandmarkt in seinem Werk fast die gesamte Kultur der Moderne, die literarische ebenso wie die musikalische und bildkünstlerische, als degeneriert und sieht den Ursprung des Übels in der Romantik, im Sinne von Goethes bekanntem Diktum: “Das Klassische nenne ich das Gesunde und das Romantische das Kranke”. Im Unterschied zur späteren nationalsozialistischen Praxis sollte man die krankhaften Entartungserscheinungen seiner Meinung nach aber nicht durch staatlich-polizeiliche Gewaltmaßnahmen bekämpfen, sondern ihnen durch Pressekampagnen und ärztliche Aktivitäten zu steuern versuchen. In besonders hohem Maße entartet sind für den Verfasser bemerkenswerterweise auch die von den Nationalsozialisten zu Heroen stilisierten ‘Mystiker’ respektive ‘Ich-Süchtigen’ Wagner und Nietzsche und nicht zuletzt die Antisemiten, so daß nach Nordau die späteren, als Dégénérescence-Verfolger agierenden Schergen selbst als die Entarteten anzusehen wären.

In seiner Kulturkritik geht Nordau zweifellos mit seinen generalisierenden Irrsinn-Verdächtigungen weit über das vertretbare Maß hinaus und verdirbt sich damit seine durchaus bedenkenswerte Hauptthese; denn für die Behauptung, daß die Kultur und überhaupt die Lebensformen unserer Zeit Krankheitssymptome aufweisen und daß sich deren Wurzeln bis in die Jahre der letzten Jahrhundertwende, ja teilweise bis in die Romantik zurückverfolgen lassen, dafür könnten in der Tat Gründe namhaft gemacht werden. Doch bei der Lektüre etwa von Nordaus Nietzsche-Kritik wird so mancher kaum anders als Fontane reagieren, der seine “Ibsen-Anti-Ibseniaden”, wie er sich am 6. Juni 1893 Friedrich Stephany gegenüber äußert, “unter intensivstem Lachen” zur Kenntnis nahm. Wir lassen es zur Illustration von Nordaus Verfahren bei einer Handvoll Sätzen aus seinem fast hundert Seiten umfassenden Nietzsche-Kapitel bewenden: “Wenn man Nietzsches Schriften hinter einander liest, so hat man von der ersten bis zur letzten Seite den Eindruck, einen Tobsüchtigen zu hören, der mit blitzenden Augen, wilden Geberden und schäumendem Munde einen betäubenden Wortschwall hervorsprudelt und zwischendurch bald in ein irres Gelächter ausbricht, bald unfläthige Schimpfreden und Flüche ausstößt, bald in einem schwindelig behenden Tanz herumhüpft, bald mit drohender Miene und geballten Fäusten auf den Besucher oder eingebildeten Gegner losfährt. [ … ] Man muß sich zuerst an Nietzsches Redeweise gewöhnen. Der Irrenarzt hat das allerdings nicht nöthig. Ihm ist diese Art wohlbekannt und vertraut. Er liest häufig Schriften von ähnlichem Gedankengang und Vortrag, freilich in der Regel ungedruckte, und er liest sie nicht zu seinem Vergnügen, sondern um die Einschließung des Verfassers in eine Heilanstalt vorzuschreiben.” Im Falle Nietzsches hat Nordau auch noch die Genugtuung, seinen Ausführungen die Bemerkung beifügen zu können, daß der Diagnostizierte “nunmehr seit Jahren als unheilbar Wahnsinniger in der Anstalt des Professor Binswanger in Jena lebt, ‘der rechte Mann am rechten Platze’”.

Nordaus Sympathie gehört Dichtern wie dem Goethe verpflichteten Paul Heyse, an den er sich anläßlich des ihm verliehenen Literatur-Nobelpreises am 17. November 1910 mit den Worten wendet: “Jetzt aber darf ich Ihnen sagen, daß Ihre Krönung durch die schwedische Akademie eine der großen Freuden meines Lebens ist. Es hängt so viel daran! Sie ist nicht nur die längst verdiente Ehrung des großen Dichters und edeln Menschen, die dem Gerechtigkeitsgefühl aller gesund und sittlich fühlenden Menschen ein wahres Labsal ist, sie ist auch ein Triumph der Schönheit über das Greuliche, des Hohen und Adligen über das Gemeine, des dauernd Wertvollen über den elenden Bazarschund der Tagesmode.” Es offenbart sich hier die gleiche Gesinnung wie in den Huldigungsworten an Hans Heinrich Reclam zur Feier von Nummer 5000 der Universalbibliothek (1908), deren erste Bändchen (1867) mit Werken von Goethe, Lessing und Shakespeare bereits den hohen, aus den Klassikern gewonnenen Bildungsanspruch des Verlagshauses kundgetan hatten: “Unter den 5000 Bändchen mag es welche geben”, formuliert Nordau, “die kein unbedingtes Meisterwerk enthalten; es ist aber kein einziges darunter, das nicht im weitesten Sinne sittlich ist, das nicht den Leser besser, edler, geistig freier entlässt.” Uns Heutigen sind solche Worte weltenfern geworden. Aber angesichts ihrer fühlen wir uns nicht wie bei der Nietzsche-Abfertigung zu lachen versucht, sondern empfinden Trauer wie über etwas groß und schön Gewesenes, das unwiederbringlich verlorengegangen ist.

Die Jahre 1892 und 1893 sind nicht nur durch die Publikation seines opus magnum für Max Nordau von besonderer Bedeutung. In diese Zeit fallen auch der Beginn seiner Freundschaft mit Theodor Herzl und auf der Insel Borkum das Erleiden gegen ihn gerichteter antisemitischer Angriffe: “der größte Seelenschmerz meines Lebens”, wie er am 22. September 1893 seinem Freunde Eugen von Jagow schreibt. Diese schlimme Lebenserfahrung, sodann die Judenhetze im Zusammenhang mit der Dreyfus-Affäre (ab 1894) und schließlich und entscheidend der Einfluß seines Freundes Herzl, nicht jedoch eine religiöse Bekehrung bewirken Nordaus Hinwendung zum Zionismus. “Erst das Anwachsen des Antisemitismus”, so äußert er sich selber in seiner Autobiographie von 1909, “weckte in mir das Bewußtsein meiner Pflichten gegenüber meinem Volke und die Initiative fiel meinem teuren Freunde Herzl zu, zu dem ich in Paris in sehr nahe Beziehungen trat.” Seit Ende 1895 unterstützt Nordau dessen Projekt eines jüdischen Staatsgebildes, wie es sich dann 1896 in Herzls BuchDer Judenstaat der Öffentlichkeit vorstellt. Der Freund öffnet ihm auch die Spalten der renommierten Wiener Neuen Freien Presse, für die Nordau zahlreiche Feuilletons verfaßt, darunter Jahr für Jahr die zeitgeschichtlich aufschlußreichen Rückblicke auf die jeweils abgelaufenen zwölf Monate. Eine Summe seiner geschichtsphilosophischen Gedankengänge zieht er in dem Buche Der Sinn der Geschichte (1909). Für die Sache des Zionismus setzt er sich bis an sein Lebensende ein, zeitweilig sogar als Präsident der zionistischen Weltkongresse. Der Erste Weltkrieg zwingt ihn zum Verlassen seiner Wahlheimat Frankreich. Erst 1920 kann er aus seinem Zufluchtsland Spanien nach Paris zurückkehren. Doch seine Lebenskraft wird durch einen Schlaganfall, den er am 2. Dezember desselben Jahres erleidet, gebrochen. Gut zwei Jahre später endet, nach einer ungemein kraftvollen und wirkungsmächtigen Lebensleistung, sein Dasein. Seit 1926 ruht sein Leichnam in Tel Aviv.

Der Tod. Unter diesem Titel hat Max Nordau 1915 innerhalb eines Sammelbandes über Menschen und Menschliches von heuteeinen Essay veröffentlicht. Was uns nach dem Ende des Lebens erwartet, so läßt er uns wissen, ist das Nichts. Aber wir sollen es nicht fürchten und auch nicht den Übergang in das Nicht-mehr-Sein. Denn: “Man stirbt unempfindlich”. Alles aber, “was man wünschen darf, ist ein Tod, der nicht vor der Zeit eintritt, sondern genau in dem Augenblick, wo man alle seine Aufgaben erfüllt und den natürlichen Kreis der Lebensobliegenheiten geschlossen hat. Dieser Tod, das ist meine tiefe Ueberzeugung, kann niemand erschrecken.”

Werke: Nordaus Schriften sind gegenwärtig nicht lieferbar.

Lit.: Delphine Bechtel, Dominique Bourel, Jacques Le Rider (Hg.): Max Nordau 1849-1923. Critique de la dégénérescence, médiateur franco-allemand, père fondateur du sionisme. Paris 1996. – Uwe Spörl: Gottlose Mystik in der deutschen Literatur um die Jahrhundertwende. Paderborn/München/Wien/Zürich 1997. – Christoph Schulte: Psychopathologie des Fin de siècle. Der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau. Frankfurt am Main 1997.

Bild: Photographie aus dem Jahre 1884.

 

Burkhard Bittrich