Biographie

Pfeffer, Nora

Herkunft: Rußland (Wolga- u. Schwarzmeer)
Beruf: Lyrikerin, Übersetzerin, Essayistin
* 31. Dezember 1919 in Tbilissi/Georgien
† 15. Mai 2012 in Köln

Aus den unermesslichen Weiten des ehemaligen Zarenreiches und der späteren Sowjetunion – bevor alles 1991 in die G.U.S.-Staaten auseinanderfiel – klingen aus allen Himmelsrichtungen, aus dem fernen Osten Sibiriens bis zur Westgrenze des Baltikums, aus dem hohen Norden mit seinen berüchtigten Verbannungsorten Wokuta und Norilsk bis in die den tiefen Süden Zentralasiens (Kasachstan, Kirgistan, Usbekistan und Tadschikistan) und des Kaukasus (Georgien und Aserbajdschan) auch die Stimmen bodenständiger deutscher Dichter, deren Vorfahren vor mehr als 200 Jahren in dieses Riesenimperium einwanderten. Auch im Kaukasus und sogar im muslimischen Aserbajdischan fassten die hier hauptsächlich schwäbischen Auswanderer Fuß. Sie taten sich besonders als mustergültige Winzer, aber auch als Obst-und Gemüsebauern hervor. Ihre schmucken Siedlungen waren im hügeligen Georgien denen ihrer alten Heimat Schwaben ähnlich. Ihr Verhältnis zu den Georgiern war in der Regel ausgezeichnet und auch heute noch besteht in Georgien ein großes Interesse für deutsche Kunst und Kultur. Im Literaturmuseum der georgischen Hauptstadt Tbilissi wird dem Besucher stolz auch ein Exemplar des Drama des deutschen Barockdichters Andreas Gryphius Katharina von Georgien vorgeführt, um zu beweisen, welches Interesse die Geschichte Georgiens – nach Armenien der zweitälteste christliche Staat der Welt – schon immer in Europa gefunden hatte.

In diese ernte- und kulturmäßig so fruchtbare Landschaft wurde Nora Pfeffer am letzten Tag des Jahres 1919 in Tbilissi hineingeboren. Ihr Vater war Direktor der dortigen deutschen Mittelschule. Nach dem Abitur 1936 und dem Studium derGermanistik und Anglistik in ihrer Vaterstadt wirkte sie als Hochschullehrerin dort bis 1943. Im Jahre 1939 heiratete sie einen Georgier und hatte 1940 mit ihm einen Sohn, der es später zum Dr. Dr. habil. Professor und Lehrstuhlleiter für Germanistik an der Universität Tbilisi bringen sollte. Leider verstarb ihr Sohn 1989 in Weimar den „Sekundentod“, ein Schicksalsschlag, von dem sich Nora Pfeffer nie wieder ganz erholen sollte.

Dabei hatte sie schon Unvorstellbares hinter sich gebracht. Als 1941 alle Russlanddeutschen von dem Georgier Stalin zwangsumgesiedelt wurden, entging sie wegen ihrer Heirat mit einem Georgier zunächst diesem Schicksal. 1943 wird sie aber von Stalins Geheimdienst verhaftet und nach acht Monaten Untersuchungshaft zu 10 Jahren Freiheitentzug mit anschließenden fünf Jahren Verbannung verurteilt. So entgeht sie weder Sibirien noch dem hohen Norden, während ihr Sohn glücklicherweise von seinem Großvater väterlicherseits – dieser war der Katholikos von Georgien, der höchste kirchliche Würdenträger des Landes – in Obhut genommen wurde.

1956 kommt Nora Pfeffer in die damalige Hauptstadt Kasachstans Alma-Ata. Dort wird Nora Pfeffer ein Vierteljahrhundert lang Dozentin für Germanistik und Anglistik am Lehrstuhl für Fremdsprachen der Kasachischen Universität. 1988 arbeitet sie dann als Abteilungsleiterin in der Redaktion der deutschsprachigen Wochenschrift Neues Leben in Moskau bis zu ihrer Ausreise in die Bundesrepublik 1992. Seit 1974 war Nora Pfeffer eines der zwei Dutzend russlanddeutschen Mitglieder des Schriftstellerverbands der UdSSR. 1981 erhielt sie den Literaturpreis des Schriftstellerverbandes Russlands.

Auch wenn Nora Pfeffer die meiste Zeit ihres Lebens in Kasachstan verbringen musste, waren für sie ihre Kindheit, ihre Jugend und ihr kurzes Familienglück in Georgien prägend. In dem großangelegten Spätgedicht Meine Heimat von 1982 lässt sie – inzwischen nach Moskau verschlagen – noch einmal alle wichtigen Stationen ihres Lebensweges vor ihrem inneren Auge vorbeiziehen. Die stärksten Bilder steigen ihr ins Bewusstsein aus Georgien, aus der Zeit mit ihrem „Söhnchen –/ sonnenbadend/ zehenlutschend …“/.

Auch in der Verbannung am Polarkreis mit Rudeln von Rentieren und Walen in Jenissej findet sie Heimat. Hier vor allem in den Menschen: Russen, Letten, Juden, Wolgadeutschen, mit denen sie Solidarität erleben durfte. Diese Aufzählung dessen, was der Autorin Heimat bedeutet, ist eine öfter verwendete poetische Technik, gerade auch bei deutschsprachigen Autoren bodenständiger Minderheiten. Nora Pfeffers Aufzählung in der Aufgipfelung: „… meine Heimat –/ Freunde, die mir beistanden/ in hoher Not/ und mir neidlos gönnen/ meine untilgbare Daseinsfreude./“ Zu welcher unbändigen Lebensfreude die Russlanddeutschen fähig sind, beweisen Nora Pfeffers Gedichte über ihre neuen Heimatgefühle in Kasachstsan.

Aus dem im wahrsten Sinne des Wortes lieblichen Hügelland zwischen hohen Bergen des Kaukasus in die Wüsten und Steppen, aber auch der Gebirgsketten des Zentralasiatischen Kasachstan verschlagen, gelingen ihr eindrucksvolle Bilder von ergreifender Schönheit aus ihrer neuen „Zwangsheimat“ Kasachstan. Das Lied der Wüste vergleicht ihr Wandern in der Wüste in der heraufziehenden Morgendämmerung „Gleich dem Sprung/ eines lichtscheuen Tieres,/ der blauschwarzen Nacht,/ wo die Sterne/ die Seele berühren/“. Hier wird Wasser wieder magisch zum „Wasser des Lebens“ und den es enthaltenden Brunnen spricht sie als lebenspendend leidenschaftlich an: „… mein Kühler/ mein glühender Brunnen./ Die Hitze des Tages weicht der Kühle der Nacht!“, wie die sengende Sandwüste im Sommer dem klirrenden Kleid des Winterfrostes. Allein der allen Naturhärten trotzende Wüstenbaum Saksaul überlebt alles und Nora Pfeffer widmet ihm ehrfurchtvoll – gleich den Kasachen, die ihn auch tief verehren – Verse von spröder Schönheit. „Vor dem Himmel“/ – ein Scherenschnitt, /schwarz und bizarr –/ ein Gespenst,/ das hier wacht/ in dem nachtblauen Himmel.“

Diese Unmittelbarkeit der Schilderung gelingt Nora Pfeffer in freien Versen. Nicht dem Reimzwang unterworfen, lassen sich Nora Pfeffers beste Gedichte nicht ins Konventionelle – manchmal sogar Blumige – pressen. In ihren Reimen gerät sie allerdings zuweilen ins gefährlich übertrieben Glatte.

In ihrer gesellschaftskritischen Abrechnung Das Gericht verdichtet sie die ganze Härte einer „Begnadigung“ zu 25 Jahren Freiheitsentzug statt erschießen wegen des jugendlichen Alters des Verurteilten, er war erst 18, auf die Formel „Humanes Gericht“ von „Richtern von Stalins Gnaden“. Dabei erwähnt sie noch nicht einmal, dass Stalin die Todesstrafe für konterrevolutionäre Verbrechen auf 12 Jahre gesenkt hatte, so dass in diesem Fall sogar von einer „Supergnade“ die Rede sein konnte.

Auch in Homo sapiens schildert sie in freien Versen das Schicksal der diesmal in Käfige gesperrten Häftlinge.Eine alte zaristische Verfahrensweise übrigens, die auch dem im Wolgagebiet aktiven Bauernrevolutionär Jemeljan Pugatschow widerfuhr. (Einige verarmte Wolgadeutsche Bauern hatten diesen sogar unterstützt). „Man hatte uns in Käfige gesperrt wie einst/ Jemeljan Pugatschow/ das war für uns/ gar nicht so unerhört./ Die Käfige/ standen im Hof/ – Die Zellen seien schon überfüllt,/ darum –/ diese Menagerie!“

Verse von erhabener Einfachheit unendlicher Trauer gelingen ihr auch in der sprachlichen Bewältigung ihrer verlorenen und verratenen Liebe: „Heute/ waltet in deinem Heim/ eine andere,/ die mir ähnelt./ Die Tür ist verschlossen/ mit dem verläßlichen/ Schlüssel der Gewohnheit./ – ich poche nicht an.“ (Ich suchte nach dir).

Ihre ganze zärtliche Liebe kann Nora Pfeffer unbefangen in ihren Kindergedichten verströmen. Hier stört auch der Reimzwang nicht. Macht er doch die Sprachgestaltung klangvoller, spielerischer, ja sogar handlicher „Lass am Spinnfaden mich nieder/ und dann knüpf mein Netz ich wieder/ hängt ein Tautropfen sich dran,/ meinen Durst ich stillen kann.“ (Spinnenliedchen).

Wie jede gute Kinderliteratur sind Nora Pfeffers Kindergedichte auch für Erwachsene lesenswert, eine freudige Überraschung durch ihre naive Unmittelbarkeit der Anschauung. Auch ästhetisch sprechen sie an durch ihre frische Beispielhaftigkeit, mit der sie sonst kaum beachtete Alltagserscheinungen ins Bewusstsein rufen. In Der Nachtfalterfragt sie, nachdem der Nachtfalter zurück in die Nacht flog, „… warum verweilte er nicht/ als Fünklein in dem Lampenlicht./ War jener helle Augenblick/ für ihn ein kurzes Lebensglück?“ Dann allerdings dürfte er nicht Nachtfalter heißen oder gehört die Sehnsucht nach dem Licht auch zu seiner Welt? Wieso verlässt er das Licht dann aber wieder? Absage an Utopien? Aufsichnehmen seines Schicksals ohne die Illusion strahlender Verblendung? Hier ist Nora Pfeffer dichterisch am stärksten, wo sie keine paraten Antworten zur Hand hat wie in Eisblumen oder Veilchen, wo sie die Erklärung für ihre Symbole gleich mitliefert.

Das lyrische Schaffen Nora Pfeffers bleibt aber bisher das beste Beispiel für die Möglichkeiten einer Annäherung über die Poesie zwischen Völkern,Kulturen, ja sogar Kontinenten. Das Erscheinen ihrer Lyrik, die dieganze Spannweite vom zutraulichen Kindergedicht bis zum abgründigen Verzweiflungsschrei in sich vereint, war stets mehr als nur ein literarisches Ereignis. Es war auch ein Hoffnungsschimmer im ausgehenden 20. Jahrhundert in bitterer, nicht nur materieller, sondern auch geistiger und seelischer Not, der hoffentlich nicht sobald erlischt, nicht zuletzt auch dank dem wahrhaft unverwüstlichen Lebensmut der vom Schicksal so gebeutelten Russlanddeutschen, das seine Schatten, aber auch seine Lichtblicke schon immer bis Deutschland wirft.

Bild: Volk auf dem Weg 6/2012.