In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg fanden viele Vertriebene an ihren Geistlichen, die sie noch aus der alten Heimat kannten, ersten Halt und Orientierung. Zu jenen pastoralen Leitfiguren zählt auch Ludwig Polzin, der allerdings weit weniger im Licht der Öffentlichkeit stand als der Flüchtlingsbischof Kaller, weshalb er heute fast vergessen ist.
Ludwig Sebald Polzin war ein echtes Kind Westpreußens und blieb seiner Heimat bis zu seinem Tode tief verbunden. Das Licht der Welt erblickte er am 19. August 1892 in Breitenstein/Kr. Deutsch Krone als Sohn des Gutsbesitzers August Polzin und seiner Ehefrau Maria, geborener Mallach. Nach dem Besuch der Volksschule seinem Geburtsort (1898 bis 1903) und des Gymnasiums in Deutsch Krone trat er 1912 in das Posener Priesterseminar ein. Anfang Juni 1914 empfing er noch die Subdiakonatsweihe in Posen, bevor der Erste Weltkrieg sein Theologiestudium unterbrach. Während des gesamten Krieges war Polzin zum Militär eingezogen, so daß er erst 1919 seine Studien fortsetzen konnte, nunmehr an der für deutsche Alumnen aus dem Raum Posen-Westpreußen zuständigen Staatlichen Akademie in Braunsberg. In der Kathedrale des Bistums Ermland zu Frauenburg empfing Polzin am 31. Juni 1921 auch die Priesterweihe aus der Hand des Bischofs Augustinus Bludau. Inzwischen hatte der Heilige Stuhl mit der Errichtung der Erzbischöflichen Delegatur Tütz (1. Dezember 1920) die kirchlichen Verhältnisse in den nach dem Friedensvertrag von Versailles beim Deutschen Reich verbliebenen Teilen der Erzdiözese Gnesen-Posen und des Bistums Kulm sowie den hinterpommerschen Kreisen Lauenburg und Bütow geordnet. Dort übernahm Polzin seine erste Seelsorgestelle, und zwar ein Vikariat in Behle/ Netzekreis. 1923, in dem Jahr der Umwandlung der Delegatur in eine Apostolische Administratur (1. Mai), stieg er zum Substitutvikar in Behle auf, von wo aus er 1925 für weitere zwei Jahre als Vikar nach Fraustadt versetzt wurde. Entscheidend für Polzins weiteren Weg sollte seine Begegnung mit Maximilian Kaller werden, der am 6. Juli 1926 die Leitung der Apostolischen Administratur Tütz übernommen hatte. Kaller setzte 1927 die Verlegung des Sitzes der Administratur nach Schneidemühl durch und berief sogleich den jungen Polzin in die Zentralverwaltung. Infolge des preußischen Konkordats entstand am 13. August 1930 die Freie Prälatur Schneidemühl innerhalb der Ostdeutschen Kirchenprovinz.
Für die katholische Kirche galt es angesichts der schwierigen nationalpolitischen wie auch ihrer Diaspora-Situation in der 1922 gebildeten preußischen Provinz Grenzmark Posen-Westpreußen, vielfältige pastorale und soziale Aufgaben zu lösen. Kaller entwickelte dazu ein Konzept umfassender seelsorglicher Betreuung, welches einerseits die Intensivierung des religiösen Lebens, andererseits die Verbesserung der sozialen Verhältnisse unter aktiver Mitbeteiligung der Laien vorsah und später mit den Schlagworten „Katholische Aktion" sowie „Wandernde Kirche" umrissen wurde. In seinem Geiste wirkte Polzin als Diözesanpräses des Jungmännerverbandes, des katholischen Sportbundes „Deutsche Jugendkraft" und des Kolpingwerkes sowie als Leiter des Ressorts Wohnungsbau und ländliche Siedlung. Als Kaller 1930 die Gründung des „Katholischen Siedlungsdienstes" in Berlin initiierte, betraute er Polzin mit dessen Verwaltung. In seiner Amtszeit entstanden in der Mark Brandenburg die Siedlungen Matgendorf, Hohengrape, Giessensbrügge, Schwetzin und Schönow sowie im Gebiet der Freien Prälatur Schneidemühl Bärenwalde, Barkenfelde, Sam-pohl, Schmirtenau, Marienthal, Eckartsberge, Philipshof, Adl. Rose, Falkenwalde, Paradies und Schlichtingsheim. Polzin warb nicht nur einheimische Siedler, sondern auch nachgeborene Bauernsöhne aus dem Westen des Reiches an. Gleichzeitig sorgte er für kirchliche Einrichtungen in den neuen Wohngebieten. Der Nachfolger des 1930 zum Bischof von Ermland berufenen Kaller, Prälat Franz Hartz, schätzte wie jener Polzins Organisationstalent. Es bewährte sich besonders während der Massenarbeitslosigkeit Anfang der dreißiger Jahre, als Polzin in einer Art Pioniertat den Freiwilligen Arbeitsdienst auf katholischer Grundlage organisierte. Nicht zuletzt dadurch erfreute er sich bei den Jugendlichen großer Beliebtheit. Mit seiner Ernennung zum Geistlichen Rat erfuhr Polzins Engagement 1932 eine angemessene Würdigung. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten, die sich katholischer Einrichtungen für ihre Zwecke bedienten, machte jedoch sein Werk zunichte. Fünf Lager des „Katholischen Freiwilligen Arbeitsdienstes" in der Freien Prälatur Schneidemühl wurden vom Reichsarbeitsdienst beschlagnahmt, das Siedlungswerk kam unter nationalsozialistische Leitung, und die Jugendverbände wurden gleichgeschaltet. Nach vorübergehender Gestapohaft (1935) wurde Polzin 1936 als Pfarrer in den Wallfahrtsort Rokitten/Kr. Schwerin a.d. Warthe versetzt. Drei Jahre später übernahm er zusätzlich den Diözesanvorsitz des Bonifatiusvereins. Bei Kriegsende befand sich Polzin noch in Rokitten, von wo ihn die polnischen Behörden am 22. Juni 1945 auswiesen.
Sein Weg führte ihn nach Berlin, wo er sogleich wieder die früheren Aktivitäten aufnahm. Zunächst stellte er sich der Berliner Caritas zur Verfügung, um den „Katholischen Flüchtlingsdienst" zu organisieren. Bereits 1946 wechselte er zur Hauptvertretung des Deutschen Caritasverbandes in Berlin über. Dort oblag ihm aufgrund eines besonderen Auftrages von Bischof Kaller die Betreuung der Flüchtlingspriester und Pastoralhelferinnen in der sowjetisch besetzten Zone sowie die allgemeine Flüchtlingsseelsorge, unter anderem bei der Beratungsstelle des Sankt-Raphaels-Vereins für katholische deutsche Auswanderer.
Noch einmal sollte für Ludwig Polzin ein neuer Lebensabschnitt beginnen. Nach dem Ableben des Prälaten Franz Hartz (15. Februar 1953) wählte das Konsistorium den verdienten Geistlichen zum Kapitularvikar der Freien Prälatur Schneidemühl. Am 20. Oktober 1953 erfolgte seine Bestätigung und Ernennung durch den Heiligen Stuhl. Unermüdlich setzte sich Polzin auch in seinem neuen Amt für die Vertriebenen ein. Er versuchte, die zerstreuten Schneidemühler Diözesanen bei Heimattreffen, Katholikentagen und Wallfahrten zu sammeln und seinen Landsleuten Mut zuzusprechen. Obgleich er stets das erlittene Unrecht der Vertreibung anprangerte und das Recht auf die Heimat proklamierte, schätzte er die politische Lage realistisch ein und versuchte, diese Einsicht auch den ihm anvertrauten Gläubigen zu vermitteln. Dank seines fröhlichen, leutseligen Wesens gewann Polzin leicht die Herzen seiner Zuhörer. Staatlicherseits wurden seine Verdienste in der Flüchtlingsseelsorge 1956 mit der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes Erster Klasse, kirchlicherseits mit der Ernennung zum Päpstlichen Hausprälaten am 19. April 1958 gewürdigt. Jedoch hatte sich Polzin in seinem rastlosen Einsatz verzehrt. Seit einem ersten Zusammenbruch 1958 litt er zunehmend an einer schweren Krankheit, zwang sich dennoch immer wieder zur Teilnahme an Veranstaltungen, zuletzt am 14. Juli 1963 in Kiel. Schließlich erlag er am 30. Januar 1964 seinem Leiden im Pfarrhaus von Stettenhofen bei Augsburg, wohin er zwei Jahre zuvor seinen Wohnsitz verlegt hatte. Nach einem von Julius Kardinal Döpfner zelebrierten Pontifikalrequiem (4. Februar 1964) wurde Polzin seinem letzten Willen entsprechend an seine frühere Wirkungsstätte überführt, in der Kirche Sankt Konrad zu Berlin-Friedenau aufgebahrt und am 6. Februar 1964 unter Beteiligung von Vertretern der verschiedenen ostdeutschen Diözesen sowie großer Anteilnahme von Gläubigen aus der Freien Prälatur Schneidemühl auf dem Matthias-Friedhof beigesetzt.
Leben und Wirken Ludwig Polzins lassen sich treffend umschreiben mit den Worten, die sein Freund Heinrich Maria Janssen, Bischof von Hildesheim und Beauftragter der Deutschen Bischofskonferenz für die Ostvertriebenen und die Flüchtlingsseelsorge, bei der Beisetzung in Berlin fand: Als ein „Priester der Pilgerschaft" war Polzin „mit besonderer Verantwortung betraut und erfüllte diesen heiligen Dienst mit einer großen Herzensgüte, einer bewundernswerten Selbstlosigkeit und einer echten, umsichtigen Hirtensorge".
Lit.: L. Polzin: Curriculum vitae (Stand: 16. August 1962), maschinenschriftl., in: Archiv des Apostolischen Visitators der Freien Prälatur Schneidemühl, Fulda. – Der Kapitularvikar von Schneidemühl, in: Ermlandbriefe Nr. 27, Ostern 1954. – Nachruf für den verstorbenen Hochwürdigsten Herrn Kapitularvikar der Freien Prälatur Schneidemühl Prälat Ludwig Polzin – Wie wir unseren Kapitularvikar beerdigten – Traueransprache zum Heimgang von H.H. Kapitularvikar Prälat Ludwig Polzin am 6. Februar 1964 in Berlin, St. Konrad, in: Johannesbote 16 (1964) Nr. 2 (Februar) S. 2-4,5-7,7-10. – P. Hoppe: Kapitularvikar Prälat Ludwig Polzinf, in: Ermlandbriefe Nr. 67, Ostern 1964, S. 4. – B. Stasiewski, Art. Schneidemühl, in: Lexikon für Theologie und Kirche 9 (21964), Sp. 439f.
Bild: Archiv des Apostolischen Visitators der Freien Prälatur Schneidemühl, Prälat Dr. Wolfgang Klemp, Fulda.