Biographie

Posadowsky-Wehner, Arthur Graf von

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: preußisch-deutscher Staatsmann
* 3. Juni 1845 in Groß-Glogau/Schlesien
† 23. Oktober 1932 in Naumburg/Saale

Arthur Graf Posadowsky-Wehner, Freiherr von Postelwitz kam als jüngster Sohn eines Oberlandesgerichtsrats zur Welt. Nach dem Besuch des evangelischen Gymnasiums in Glogau studierte er an den Universitäten Berlin, Heidelberg und Breslau Rechts- und Staatswissenschaften. Mit einer lateinisch geschriebenen rechtsgeschichtlichen Arbeit über die Zwei-Schwerter-Theorie im Mittelalter wurde er 1867 an der Breslauer juristischen Fakultät promoviert. Die wissenschaftliche Gründlichkeit dieser Studie wurde kennzeichnend für Posadowskys lebenslange Arbeitsweise. Nach einer anschließenden zweijährigen Tätigkeit am Breslauer Stadtgericht zog er sich zunächst aus dem Justizdienst zurück. Die Verwaltung des in der Provinz Posen erworbenen Gutes Welna im Kreis Gnesen ermöglichte ihm wichtige Einblicke in die Probleme der Landwirtschaft in einer agrarischen Provinz, die zu jener Zeit noch keine zentrale provinzielle Selbstverwaltung besaß. Im Oktober 1871 erneut in den Verwaltungsdienst eingetreten, begann mit der Ernennung zum Landrat des Kreises Wongrowitz im Regierungsbezirk Bromberg eine zwanzigjährige Tätigkeit in der Selbstverwaltung der wirtschaftlich und kulturell schwach entwickelten preußischen Provinz. Bis um die Mitte der achtziger Jahre wurde die provinzialständische Verwaltung noch nach der alten Provinzialordnung durch einzelne ständische Kommissionen geführt. Da Berlin die Bildung einer Zentralinstanz der Selbstverwaltung zunächst nicht unterstützte, wählten die Posenschen Provinzialstände Posadowsky 1885 als gemeinsamen Vorsitzenden für alle Kommissionen. Schrittweise gelang ihm die Angleichung der Verwaltungsordnung Posens an die der übrigen preußischen Provinzen. Posadowsky wurde einstimmig zum ersten Landesdirektor, später "Landeshauptmann", gewählt. Eine dreijährige Arbeit im preußischen Abgeordnetenhaus, dem er als Mitglied der freikonservativen Fraktion seit 1882 angehörte, nutzte er, um auf die besonderen Interessen der industriearmen Provinz aufmerksam zu machen.

1893 wurde Posadowsky, dessen finanzpolitische Leistungen in Posen den Kaiser beeindruckt hatten, Staatssekretär des Reichsschatzamtes. In jenen vier Jahren, in denen Posadowsky diese Behörde leitete, entwickelte sich eine enge Zusammenarbeit mit der Reichstagsfraktion des Zentrums. Sie verschaffte Posadowsky nicht nur innenpolitisch entscheidenden Freiraum gegen den Finanzminister des größten Bundesstaats und ließ ihn damit zum eigentlichen Leiter der Reichsfinanzpolitik avancieren, sondern stärkte zugleich das Reich gegenüber Preußen.

Mit der Übernahme der Leitung des Reichsamts des Innern am 1. Juli 1897 begann jenes Jahrzehnt der "Ära Posadowsky", in dem sich der Verwaltungsfachmann zum führenden Kopf der inneren Reichspolitik und der staatlichen Sozialpolitik entwickelte. Als Stellvertreter des Reichskanzlers überragte der Staatssekretär des Reichsamts des Innern, der die Sitzungen des Bundesrats leitete und als preußischer Minister ohne Portefeuille gleichzeitig stimmberechtigtes Mitglied des preußischen Staatsministeriums war, alle anderen Staatssekretäre. In dieses Ressort fielen nicht zuletzt die Sozialpolitik und – in Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt – die Handelspolitik. Von Posadowsky wurde eine Sozialpolitik erwartet, die als Konsequenz der politischen Entwicklung der neunziger Jahre nach dem Programm einer "Sammlung der bürgerlichen Kräfte" nurnoch Kampfinstrument gegen die Sozialdemokraten sein sollte.

Tatsächlich schien Posadowsky die vom preußischen Finanzminister Johannes von Miquel eingeleitete "Sammlungspolitik" zu unterstützen. In seiner ersten längeren sozialpolitischen Reichstagsrede vom 13. Dezember 1897 stellte er sich gegen die bisherige, insbesondere vom (1896 abberufenen) preußischen Handelsminister von Berlepsch betriebene Sozialpolitik. Seine im Mai 1899 dem Reichstag vorgelegte "Zuchthausvorlage" sah eine Verschärfung der Strafen für eine Betätigung des Koalitionszwanges bei Arbeitskämpfen vor, womit man die Sozialdemokratie zu treffen hoffte. Posadowsky scheiterte hier wie anderswo und vollzog schon nach kurzer Zeit einen Richtungswechsel.

Gegen die Kritik seiner ursprünglichen Verbündeten im konservativen Lager lenkte Posadowsky in die Bahnen der Politik des "Neuen Kurses" zurück, die 1896 abgebrochen worden war. Als Ziel schwebte ihm eine Trennung von Sozialdemokratie und Arbeiterbewegung über die christlichen Gewerkschaften vor, die sich im Jahre 1901 zum "Gesamtverband der christlichen Gewerkschaften Deutschlands" zusammenschlossen. Wenngleich eine Zusammenarbeit oder ein Ausgleich mit der Sozialdemokratie für ihn zu keinem Zeitpunkt in Frage kam, lehnte er doch im Unterschied zu vielen Standesgenossen ein Regieren gegen die Mehrheit der Volksvertretung strikt ab, die die "Sammlungspolitik" ablehnte. Die Konsequenz war eine Anlehnung beim Zentrum und bei den Linksparteien.

Die soziale Frage bewertete Posadowsky nicht als politische und Verfassungsfrage, sondern aus religiöser Sicht als ein sittliches und ethisches Problem. Seine Mitarbeit an der sechsten ordentlichen Provinzialsynode im August 1890 umriß Posadowsky in seinen autobiographischen Aufzeichnungen mit den Worten, daß er in erster Linie "für die Förderung der Werke der Inneren Mission und die Bekämpfung der Sozialdemokratie auf der Grundlage der christlichen Sittenlehre" eingetreten sei. Aktiv in der evangelischen Kirchenbewegung engagiert, sah er die Fortschritte der Sozialdemokratie im Zusammenhang mit einer Entchristlichung des Bürgertums.

Mit seinem neuen Kurs im Reichsamt des Innern und der Unterstützung von seiten des Zentrums begann Posadowsky eine Reihe durchgreifender sozialpolitischer Reformen. Die Alters- und Invalidenversicherung sowie die Krankenversicherung wurden verbessert, der Bau von Arbeiterwohnungen gefördert, die Schiedsgerichte einheitlich organisiert, der Mißbrauch gewerblicher Kinderarbeit mit höheren Strafen bedroht. In einem Aufsatz überSozialpolitik als Kulturaufgabegab Posadowsky seinem sozialkonservativen Denken Ausdruck. "Die Kultur eines Volkes ist nicht nach dem Lebensstande der oberen Volksklassen, sondern nach den Daseinsbedingungen der zahlenmäßig überwiegenden Masse zu beurteilen. Auf dieser Auffassung ist unsere staatliche Sozialpolitik aufgebaut". Selbst die Sozialdemokratie, die sich bisher allen Gesetzesentwürfen der Regierung entgegengestellt hatte, stimmte den Sozialgesetzen Posadowskys zu. In der Handelspolitik zeigte Posadowsky größtes Verständnis für die Landwirtschaft, die er gelegentlich als "den eigentlichen Anker des Staatsschiffes" bezeichnete. Ihre Stärkung hielt er überdies für das geeignetste Mittel, die Industrialisierung zu verlangsamen und damit ein Potential gering zu halten, das seiner Meinung nach unausweichlich zum Ende der Monarchie beitragen mußte.

Ein Bruch zwischen Reichskanzler Bülow und dem Zentrum leitete im Winter 1906/07 auch das Ende der "Ära Posadowsky" in der Sozial- und Innenpolitik ein. Zusammen mit den Sozialdemokraten hatte das Zentrum gegen den Nachtragsetat des Kolonialamtes gestimmt, nachdem die Kritik an der deutschen Kolonialverwaltung und am Krieg gegen die aufständischen Hottentotten und Hereros in Deutsch-Südwestafrika vom Staatssekretär des Kolonialamtes, Dernburg, scharf zurückgewiesen worden war. Die "Hottentottenwahlen", die der von Bülow verordneten Reichstagsauflösung folgten, brachten mit dem "Bülow-Block" eine Mehrheit der konservativen und liberalen Parteien gegen das Zentrum und die Sozialdemokratie. Mit dem Fall des Zentrums aber war Posadowsky die parlamentarische Grundlage für seine Sozialpolitik entzogen. Widerstände aus dem Bundesrat, dem preußischen Staatsministerium, eine heftige Pressekampagne der Freikonservativen gegen den Staatssekretär und schließlich eine Entfremdung zum Reichskanzler führten am 22. Juni 1907 zur Entlassung des 62jährigen. Sein Nachfolger wurde der bisherige preußische Innenminister Bethmann Hollweg.

Die letzten Jahre Posadowskys, der sich zusammen mit seiner Frau und seinen Töchtern auf seine Domherrenpfründe in Naumburg zurückzog, liegen im Vergleich zu seiner vorherigen Regierungstätigkeit weitgehend im dunkeln. 1912 hatte er als parteiloser Kandidat ein Reichstagssmandat erhalten, ohne jedoch weiter hervorzutreten. Als angesehenen und verdienstvollen Repräsentanten der alten Monarchie ließ ihn später die Deutschnationale Volkspartei in die Weimarer Nationalversammlung wählen, von der sich Posadowsky jedoch schon 1920 wieder abwandte. In den letzten Lebensjahren widmete er sich verstärkt der Schriftstellerei, die mit seiner bisherigen praktischen sozialpolitischen und Verwaltungsarbeit auf das engste in Zusammenhang stand. Neben einer ausgedehnten Vortragsarbeit publizierte er eine Reihe von Aufsätzen über Themen wie Die Wohnungsfrage als Kulturproblemund setzte sich für die Inflationsgeschädigten ein. Diese Arbeit brachte ihm in den Jahren von 1928 bis 1932 ein Mandat im preußischen Landtag als Abgeordneter der Volksrechtspartei, einer wirtschaftspolitischen Splitterpartei, ein.

Seine strenge Rechtlichkeit, Pflichttreue, sein Fleiß und die stets gewahrte Sachlichkeit kennzeichneten Posadowsky als einen typischen Repräsentanten des altpreußischen Beamtentums. Tatkräftig wirkte er für die evangelische Kirche und versuchte, als Mitglied von Kreis-, Provinzial- und Generalsynoden ihren Einfluß im öffentlichen Leben zu stärken. Reichskanzler Hohenlohe würdigte Posadowsky als einen energischen Mann, der seiner Sachkenntnis und Verläßlichkeit wegen einen guten Stand bei den großen Parteien des Reichstags besessen habe. Politisch wie kirchlich streng konservativ gesinnt, in selbstverständlicher Treue zum Monarchen und zur Verfassung der konstitutionellen Monarchie stehend, hat Posadowsky, fern jeglicher Interessenpolitik, im Sinne Hermann Wageners, des Beraters Bismarcks für alle Fragen der Sozialpolitik, einen Brückenschlag zwischen der Arbeiterbewegung und dem Konservatismus versucht.

Werke: De duobus universalis monarchiae gladiis secundum fontes medii aevi, jur. Diss. Breslau 1867. – Über die Altersversorgung der Arbeiter, Rawitsch 1883. – Geschichte des schlesischen uradligen Geschlechtes der Grafen Posadowsky-Wehner Freiherren von Postelwitz nebst einem Anhange enthaltend Nachrichten über das Breslauer Patrizier-Geschlecht von Wehner, Breslau 1891. – Luxus und Sparsamkeit, Göttingen 1909. – Die Wohnungsfrage als Kulturproblem, München 1910. – Weltwende. Gesammelte politische Aufsätze, Stuttgart 1920, – Die schlesischen Habdanks. Ein Beitrag zur Urgeschichte der Grafen Posadowsky-Wehner Freiherrn von Postelwitz, Naumburg (Saale) 1925. – Die Enteignung des Gläubiger-Vermögens. Eine Sammlung von Aufsätzen, Berlin 1928. – Volk und Regierung im neuen Reich. Aufsätze zur politischen Gegenwart, Berlin 1932.

Lit.: H.H. v. Berlepsch: Sozialpolitische Erfahrungen und Erinnerungen, M. Gladbach 1925. – D. Blasius: Konservative Sozialpolitik und Sozialreform im 19. Jahrhundert, in: Rekonstruktion des Konservativismus. Hrsg. v. G.-K. Kaltenbrunner, Freiburg 1972, S. 469-488. – K.E. Born: Staat und Sozialpolitik seit Bismarcks Sturz. Ein Beitrag zur Geschichte der innenpolitischen Entwicklung des Deutschen Reiches 1890-1914, Wiesbaden 1975. – ders.: Arthur Graf Posadowsky-Wehner, 1845-1932, in: Männer der deutschen Verwaltung. 23 biographische Essays, Köln/Berlin 1963, S. 211-228. – B. v. Bülow: Denkwürdigkeiten, Bde. 1-4, Berlin 1930-1931. – Graf Posadowsky als Finanz-, Sozial- und Handelspolitiker an der Hand seiner Reden dargestellt von J. Penzler (Bde. 1-2) u. H. Ehrenberg (Bde. 3-4), Leipzig 1907-1911. – H. Herkner: Die Arbeiterfrage. Eine Einführung, Bd. 1-2, Berlin/Leipzig81922. – R. Martin: Graf Posadowsky, in: Deutsche Machthaber, Berlin/Leipzig 1910, S. 147-225. – D. v. Oertzen: Von Wichern bis Posadowsky. Zur Geschichte der Sozialreform und der christlichen Arbeiterbewegung, Hamburg21908. – M. Schmidt: Graf Posadowsky. Staatssekretär des Reichsschatzamtes und des Reichsamtes des Innern 1893-1907, phil. Diss. Halle/Saale 1935. – G. Schmoller: Die sociale Frage und der preußische Staat, in: Preußische Jahrbücher 33 (1874), S. 323-342. – O. Graf zu Stolberg-Wernigerode: Die unentschiedene Generation. Deutschlands konservative Führungsschichten am Vorabend des Ersten Weltkrieges, München/Wien 1968. – G. Sydow: Sozialgesetzgebung und Sozialreform in Deutschland, Leipzig 1904. – L. v. Wiese: Posadowsky als Sozialpolitiker. Ein Beitrag zur Geschichte der Sozialpolitik des Deutschen Reiches, Köln 1909.

Bild: Graf Posadowsky-Wehner; nach Wiese, P. als Sozialpolitiker (s.o.), Frontblatt

 

  Joachim Bahlcke