Biographie

Radecki, Sigismund von

Herkunft: Baltikum (Estland, Lettland, Litauen)
Beruf: Schriftsteller, Übersetzer
* 19. November 1891 in Riga/Livland
† 13. März 1970 in Gladbeck/Westfalen

Sigismund (Arnold Ottokar) v. Radecki (Ps. Homunculus) wurde als Sohn des Rechtsanwaltes Ottokar v. Radecki und seiner Frau Alma, geb. Tideböhl, geboren. In seine Familie gehört auch der Mitauer Hofbuchdrucker Georg Radetzky (+ 1726), der wegen seines lutherischen Bekenntnisses aus Polen nach Kurland gegangen war. Seit 1896 lebte die Familie in Petersburg, wo Radecki die St. Annen-Mittelschule besuchte und das Russische erlernte. Danach studierte er Bergbauwissenschaften in Dorpat und Freiberg/Sachsen, machte seine Praktika im Ruhrgebiet und Aachener Steinkohlenrevier. 1913 schloß er sein Studium als Dipl.-Ing. ab. Noch als Student hatte er Reisen nach Frankreich, Skandinavien und Italien gemacht. 1914 wurde er Bewässerungsingenieur in Turkestan. Die Russen lehnten ihn im Ersten Weltkrieg als Freiwilligen ab. Seit 1917 lebte er in Deutschland, 1919 meldete er sich als Freiwilliger zur Baltischen Landwehr. Nach dem Krieg arbeitete er bis 1923 als Elektroingenieur bei Siemens-Schuckert in Berlin, wo er sich in seinem Büro eine kleine Jazzband einrichtete. Regelmäßig besuchte er das Romanische Cafe und lernte Else Lasker-Schüler kennen, die ein Gedicht auf ihn machte. Von 1924-26 lebte er in Wien, wo er fast täglich mit Karl Kraus zusammen war. Nach einer Parisreise kehrte er 1926 nach Berlin zurück. Hier arbeitete er nun drei Jahre als Schauspieler, u.a. bei Bert Brecht und Berthold Viertel; 1931-32 trat er in kleineren Rollen in Nestroy-, Offenbach- und Shakespearebearbeitungen von Karl Kraus auf. Unter dem Eindruck der Schriften von John Henry Newman konvertierte er 1931 zum Katholizismus. 1940-42 hatte er enge Verbindung mit Theodor Haecker in München; hier lernte er im Hause von Carl Muth auch die Geschwister Scholl kennen. Gegen Ende des Krieges arbeitete er als Forstaufseher auf Schloß Mellenthin (Usedom). 1946 zog er nach Zürich, gegen Ende seines Lebens nach Gladbeck/Westfalen, wo er am 13. März 1970 im Alter von 79 Jahren starb.

Radecki begann seine literarische Laufbahn mit Übersetzungen aus dem Russischen. Sein eigenes Werk steht anfangs ganz unter dem Einfluß des tief verehrten Karl Kraus, dessen Schriften er „fast auswendig wußte“. Radeckis Glosse Der überzeitliche Sinn der Satire (Dt. Allg. Ztg. vom 17.4.1929) könnte aus der Feder von Kraus stammen. Zeit seines Lebens hat Radecki seinen Lehrer aufrichtig verehrt, es fehlt seiner mehr gelassenen und heiteren Erscheinung aber das Aggressive und Monomanische seines Vorbildes, obwohl Radecki in Auseinandersetzungen mit der Presse scharf und hart werden konnte. Die Liebe zur deutschen Sprache, waches Sprachbewußtsein, ein klarer Blick für Menschen und Dinge, psychologisches Gespür, Witz, Originalität und Belesenheit zeichnen seine Kunst aus; ein englischer Sinn für schwarzen Humor ist ihm eigen. Im Jahre 1929 debütierte er mit einem Buch, das einige ausgezeichnet erzählte Kurzgeschichten enthält. Seine Begabung für die Pointe machte ihn zu einem Meister der Anekdote, und mit Recht ist seinABC des Lachens eines seiner populärsten Bücher geworden. Die Radecki gemäße Ausdrucksform war der Essay, zu dessen Meistern er zählt. Nie gleitet seine Essayistik ins Triviale ab; ein Essay über Mensch und Mode etwa wird unter einer Hand zu einer originellen Kulturgeschichte der Antike und Europas. Im Wort, in der Sprache drückt der Mensch sein Wesen aus; sie ist heilig, da Christus der fleischgewordene logos ist. Die Pflege der Sprache ist daher des Menschen höchste Pflicht. Die Presse ist dagegen jene Institution, die die Sprache und dadurch den Menschen korrumpiert. Radeckis Denken ist stark von philosophischen und religiösen Fragen bestimmt; das zeigt die als Gewissensentscheidung vollzogene Konversion, auch die Übersetzungen englischsprachiger  Autoren, die sich ausdrücklich als Katholiken verstehen, gehören hierher. Zeit seines Lebens ist Radecki aber ein unabhängiger Geist geblieben. Den Nationalsozialismus hat er aus seiner katholischen und humanistischen Haltung heraus von Anfang an abgelehnt. Zu seiner lutherischen Herkunft hat er sich stets bekannt, und nie ist er zum blinden Apologeten der katholischen Kirche geworden. Luthers Tat hat Radecki als die Selbstbestimmung des Menschen in absoluter Freiheit verstanden, sie wurde zum entscheidenden Ereignis der europäischen Geschichte. Als Geschöpf Gottes ist der Mensch aber letztlich kein autonomes Wesen; Symbol der wahren Freiheit in der Abhängigkeit ist die katholische Kirche. Versucht man, Radecki einer geistigen Bewegung zuzuordnen, so dürfte es am ehesten die des renouveau catholique sein.

Vielfach hat Radecki literarische Themen behandelt; seine Essays zur Romantik, zur Kunst des Übersetzens, zu Hexameter und Reim, zu Schlager und Kriminalroman, zum Lesen und zu Lieblingsbüchern, zu Nietzsche, Kraus, Brecht, Lasker-Schüler, Belloc, Wilde, Kierkegaard, Haecker, Cervantes und anderen sind kenntnisreiche und durchdachte Studien. Wie viele Deutschbalten hat Radecki sich um die Vermittlung der bewunderten russischen Literatur bemüht. Die Namen russischer Dichter tauchen in seinem Werk immer wieder auf, seine Übersetzungen sind mit vollem Recht als meisterhaft gerühmt worden. Für sein Werk wurde Radecki mehrfach ausgezeichnet: Ehrengabe der Stadt Zürich (1953), Literaturpreis der Bayerischen Akademie der schönen Künste (1957), Willibald-Pirckheimer-Medaille (1960), Immermann-Preis der Stadt Düsseldorf (1962), Ostdeutscher Literaturpreis (1964), Literaturpreis des Kantons Zürich (1966).

Werke (Auswahl): Der eiserne Schraubendampfer Hurricane, 1929 (neu 1955); Nebenbei bemerkt, 1936 u.ö.; Die Rose und der Ziegelstein, 1938 (neu u.d.T. Das ABC des Lachens 1953 u.ö.); Alles Mögliche, 1939; Die Welt in der Tasche, 1939 u.ö.; Wort und Wunder, 1940 u.ö.; Wie kommt das zu dem?, 1942; Das müssen Sie lesen!, 1943 (?); Der runde Tag, 1947; Über die Freiheit, 1950; Was ich sagen wollte, 1952; Wie ich glaube, 1953; Wird eingefahren!, 1954; Gesichtspunkte, 1954; Rede über die Presse, 1956; Weisheit für Anfänger, 1956; Das Schwarze sind die Buchstaben, 1957; Reise, Sterne und Propheten, 1959; Im Vorübergehen, 1959; Ein Zimmer mit Aussicht, 1961; Gesichtspunkte, 1964; Im Gegenteil, 1966. – Zwei dte. Auswahlbde. hg. v. R. Weilandt-Matthaeus 1980, 1981; Abeceda smichu, Prag 1989. – Hrsg.: D. Spitzer (1946), L. Speidel (1947), C. Schurz (1948), Eva v. Radecki (1959). – Übs.: F. Dostojewski], N. Gogol, S. Jesenin, A. Koni, N. Leskow, A. Puschkin, A. Suchovo-kiobylin, L. Tolstoj, A. Tschechow; Der Glockenturm. russ.Verse u. Prosa, 1940, 21953. – M. Beerbohm, H. Belloc, W. Cather, C. St. Lewis, O. Henry. – Fr. Villon.

Bibliographie: Nachrichten aus dem Kösel-Verlag, F. 24 (1966), 12-15.

Lit.: eine krit. Darstellung fehlt, biografische Angaben verstreut in den Essays. – Kürschners Lit.kal. 1932 ff.; – Monika Miehlnickel, Feuillet. Spr. u. Haltung bei F. Sieburg u. S.v.R., Diss. Bln. 1962; – Franz Lennartz, Dt. Dichter u. Schriftst. uns. Zt., 101969; – Dt. balt. biograf. Lex. 1970; Lex. dt. spr. Schriftst. II, 1974; – Ostdt. Lesebuch II, 1984; – Inge Jens (Hg.), Hans Scholl, Sophie Scholl, 1984; Kosch, Dt. Lit.-Lex.3, XII, 1990.

Bild: Ruth Weilandt-Matthaeus.