Am 9. Oktober 1885, starb in St. Petersburg die Hofdame Editha von Rahden. Als fünftes Kind des Piltenschen Kreismarschalls und russischen Kammerherrn Ferdinand von Rahden wurde sie am 20. Dezember 1823 auf dem elterlichen Gute Funkenhof in Kurland geboren. Sie erhielt häuslichen Unterricht in St. Petersburg, wo sie ihre Jugend verbracht hat. 1852 berief die Großfürstin Helene Pawlowna (Prinzessin Friederike Charlotte von Württemberg), vermählt mit dem Großfürsten Michail Pawlowitsch, einem Sohn Kaiser Paul I., Editha von Rahden in ihren Dienst. Sie sollte diesen Lebenskreis nicht wieder verlassen, auch ihre Wohnung im Palais Michail nicht, die sie auch nach dem Tode der Großfürstin beibehielt.
Ihre Stellung brachte Editha von Rahden als Begleiterin der Großfürstin auf ausgedehnten Auslandsreisen mit den bedeutendsten Persönlichkeiten ihrer Zeit in Berührung. Der Tod des Großfürsten (1849) ermöglichte es der Großfürstin, ihr Leben freier zu gestalten. Als 1853 der Orientalische Krieg ausbrach, gründete sie mit Erlaubnis des Kaisers eine „Schwesternschaft von der Kreuzeserhöhung“ zur Pflege der Verwundeten an der Front, die vom Chirurgen Nikolai Riogow geleitet wurde, der in Dorpat studiert hatte, wobei auch das Hoffräulein von Rahden zu dieser Arbeit herangezogen wurde. Mit der Thronbesteigung Kaiser Alexander II. (1855) gewann der Hof der Großfürstin Helene immer größere Bedeutung, und das Palais Michail wurde zum Treffpunkt aller führenden Männer einer neuen Ära. Editha von Rahden hat an vielen Gesprächen über die Zukunft Rußlands teilgenommen, hat Einladungen und Aufträge der Großfürstin vermittelt. In diese Zeit fiel das Aufflammen nationaler Gegensätze innerhalb des russischen multinationalen Imperiums, fiel die Forderung nationalistischer Kreise nach einem russischen Staat miteinem Glauben,einer Sprache,einem russischen Zaren, wobei die bisher weitgehende Selbständigkeit der einzelnen Teile des Reiches, wie etwa der baltischen „Ostseeprovinzen“, der Einheit zum Opfer gebracht werden müßten. Es brach das Zeitalter des Nationalismus an, es brach auch über die baltischen Provinzen, die Heimat Edithas von Rahden, herein. Dies berührte sie besonders schmerzlich, weil zu den zahlreichen, geistig hochstehenden Persönlichkeiten, mit denen sie befreundet war oder im Briefwechsel stand, auch Jurij Samarin gehörte, der mit seinem Pamphlet „Die Grenzmarken Rußlands“ einen scharfen Angriff gegen die Baltischen Provinzen richtete, den der Dorpater Professor Carl Schirren im Jahre 1869 in seiner berühmten „livländi-schen Antwort“ (an Herrn Jurij Samarin) zurückwies. Die Großfürstin Helene starb 1873, Samarin 1876. Nach dem Tode der Großfürstin übernahm Editha von Rahden die Leitung einer Reihe der bisher von jener geleiteten Anstalten, und ihren Bemühungen gelang zudem die Gründung eines Klinischen Instituts zur Fortbildung von Ärzten. Groß war die Zahl der Rat- und Hilfesuchenden, die zu ihr kamen; sie teilte in Volksküchen das Essen aus; abends verkehrten in ihrem kleinen Salon viele bedeutende Persönlichkeiten (unter ihnen der Schriftsteller Nikolai Lesskow). Editha von Rahden wurde Hofdame der Kaiserin Maria Alexandrowna (Prinzessin vqn Hessen-Darmstadt), Gemahlin Kaiser Alexander II. Während des Russisch-türkischen Krieges von 1877/78 leitete sie die St. Petersburger Abteilung des Russischen Roten Kreuzes. Bald nach dem Tode der Kaiserin Maria Alexandrowna (+ 1880 ) wurde sie Hofdame der neuen Kaiserin Maria Feodorowna (Prinzessin Dagmar von Dänemark), Gemahlin Kaiser Alexander III., zu deren Gehilfin bei der Aufsicht über die verschiedenen Anstalten, u.a. die Schulen für die weibliche Jugend, sie im Jahre 1881 von der Kaiserin ernannt wurde. Im Jahre 1883 erhielt sie die höchste russische Auszeichnung, die Frauen verliehen wurde, den Katharinen-Orden. Sie starb am 9. Oktober 1885 in St. Petersburg. Menschen wie sie, hieß es in einem Nachruf, lassen sich nicht ersetzen. Leer bleibt ihr Platz in der Petersburger Gesellschaft und im Kreise ihrer Freunde.
Lit.: Deutsch-baltisches biographisches Lexikon 1710-1960 (Köln/Wien 1970); Irene Neander: Editha von Rahden (In: Zeitschrift für Ostforschung, Marburg/Lahn, 3. Jg. 1954, S. 201-222); Woldemar Wulffius: Ein Glaubensbekenntnis Edithas von Rahden (In: Baltische Monatsschrift, Riga Jg. 59, 1928, S. 230-234); Karin von Rahden: Eine Kurländerin am Zarenhof. Chronik eines Lebens nach zeitgenössischen Berichten, Aufzeichnungen und Briefen ( Hannover- Döhren 1969).