Biographie

Reichenberger, Emmanuel

Herkunft: Sudeten (Böhmen u. Mähren, österr. Schlesien)
Beruf: „Vater der Heimatvertriebenen“
* 5. April 1888 in Vilseck/ Oberbayern
† 2. Juli 1966 in Wien

„Tragen die deutschen Volksgruppen im Osten an der über sie und das ganze deutsche Volk hereingebrochenen Katastrophe Schuld? War ihr Weg in den Jahren vor 1938 richtig? Hätten sie die Katastrophe aufhalten können?“

Mit diesen Worten beginnt Father Reichenberger das erste Kapitel in seiner Publikation Ostdeutsche Passion. Fast schon programmatisch für seinen Einsatz wirken diese ersten Ein­gangsfragen, die er aufwirft, wenn man sein Lebensbild kennt.

Der als „Kämpfer für Gerechtigkeit“ und „Vater der Vertrie­benen“ bekannte Reichenberger wurde in der Oberpfalz geboren und studierte Theologie in Regensburg und Leitmeritz.

Aufgrund des Priestermangels in Nordböhmen ließ er sich 1912 für die Diözese Leitmeritz weihen. Als „Roter Kaplan“ war er sozial sehr engagiert, musste jedoch als entschiedener Gegner Konrad Henleins in die „Rest-Tschechoslowakei“ fliehen und von dort weiter über Frankreich und England in die USA. Motiviert von seinem christlichen Welt- und Menschen­bild setzte er sein ganzes Streben für den Kampf gegen die These der Kollektivschuld der Deutschen ein und für eine Torpedierung der Ausführung der Vertreibungspläne von Edvard Beneš. Zwar konnte Reichenberger bereits im April 1945 wieder nach Böhmen zurückkehren, wurde aber wenige Zeit später von der Regierung in Prag erneut ausgewiesen, da er die Verbrechen tschechischer Soldaten und Milizen an Sudetendeutschen dokumentiert hatte.

In Westdeutschland, aber auch in Österreich wurde Reichen­berger infolge seiner Veröffentlichungen und Reden immer mehr zum Fürsprecher der Vertriebenen, was er besonders in seinen Büchern zum Ausdruck brachte. Nicht umsonst lautet der Untertitel seines Werkes Ostdeutsche Passion: Für Wahrheit und Gerechtigkeit. Reichenberger dokumentiert in diesem Buch die historischen Ereignisse von Kriegsende bis zur Vertreibung. In einem zweiten Abschnitt findet sich eine Sammlung von Einsendungen persönlicher Erlebnisse an die Stimme Amerikas von Privatpersonen und einem Pfarrer. Die Stimme Amerikas war ein Rundfunksender in zahlreichen Fremdsprachen, der besonders nach dem Zweiten Weltkrieg genutzt wurde, um sich in der Welt Gehör zu verschaffen und daher auch sehr gerne von Reichenberger frequentiert wurde. Zu seinem 70. Geburtstag würdigte eine Zeitung Reichenberger als jemanden, der unerschrocken seine Stimme erhob, der unter Freunden und Bekannten ein Hilfswerk organisierte und damals die so begehrten Care-Pakete in die Notgebiete der Vertriebenen sandte, um den Hunger zu stillen. Selbstlos packte er fast ohne Hilfskräfte Care-Pakete, verfasste in etwa 70 bis 80 Bittbriefe täglich und begab sich regelmäßig auf Bettelreisen für die Vertriebenen. Sein großes Ansehen kam 1949 auch dadurch zum Ausdruck, dass Reichenberger vom Vorstand des Katholischen Gesellenvereins Chicago zum Präses gewählt wurde. In Wort und Schrift wies er die Weltöffentlichkeit auf das Unrecht an den vertriebenen Deutschen hin. Große Empörung herrschte jedoch bei den Vertriebenen in Westdeutschland, als der deutsche General­konsul von Chicago, Heinrich Knappstein, sowie der amerikanische „Combined Travel Board“ in Frankfurt am Main die Einreise Reichenbergers nach Deutschland verweigerte. „Reichenbergers Stimme war so mächtig geworden, dass man sie nicht mehr überhören konnte!“ – zitierte daraufhin eine Zeitung. In einem Brief an den Generalkonsul Heinrich Knappstein nimmt Reichenberger dazu folgendermaßen Stellung:

„Wenn die Westmächte uns (Reichenberger und Prof. App) fernhalten wollen, weil wir ihre Politik kritisieren, dann sollen sie es selber tun, nicht aber die deutsche Regierung als Wand­schirm benutzen. Es gibt gewisse Grenzen der Demüti­gung; wer sie überschreitet, verliert Würde und Respekt der Gegner. Ich werde nie verstehen, dass sich eine deutsche Regierung dazu hergibt, die zu bestrafen und zu verbannen, die für das deutsche Volk arbeiten und kämpfen … Die Entschuldigung, unter Druck, werde ich niemals gelten lassen. Gerade während der Nachkriegsprozesse wurde betont, dass es Handlungen gibt, denen man sich keinesfalls hingeben darf … Die Niederlage Deutschlands schafft keine neuen Rechts-, Moral- und Anstandsbegriffe. Diese bleiben immer gleich.“

Die Empörung in Westdeutschland erfasste auch den späteren Prälaten Adolf Kindermann, der vom Vertriebenenbischof Maximilian Kaller aus Ermland im Oktober 1946 zum Aufbau des Priesterseminars in Königstein im Taunus sowie zur Erfas­sung des sudetendeutschen Klerus nach der Vertreibung berufen wurde. In der schriftlichen Korrespondenz zwischen Reichenberger und Kindermann bezeugen sich die beiden Geistlichen immer wieder gegenseitig höchsten Respekt für ihr Wirken. Während Kindermann in Königstein den Diaspora­pries­tern so gut es geht zu helfen versucht und in langen Briefen Reichenberger den Plan unterbreitet, Patenschaften von amerikanischen Geistlichen über die Diasporapriester ins Leben zu rufen, versorgt der Wahl-Amerikaner Königstein mit Care-Paketen, die dann an hilfsbedürftige Priester weitergegeben werden. Kindermann selbst bat sogar den Director of the N.C.W.C Bureau of Immigration in Washington, Mr. Bruce Marshall, um die Einreiseerlaubnis Reichenbergers.

Doch bei all der Emsigkeit und den Mühen wirkte Reichen­berger dennoch zeitweise mutlos und stellte im Schreiben vom 1. August 1947 an Kindermann traurig fest: „Ich bin es manchesmal sehr müde; ich überlege oft, ob ich nicht meine Arbeit einstelle und mich auf Hilfe für etliche Freunde beschränke (nicht auf Freunde meiner Pakete). Die Verständnislosigkeit hier ist entsetzlich: Man schickt eine Reihe Leute hinüber für die displaced persons aller Nationali­täten; niemand interessiert sich für die 18 Millionen in Potsdam displaced persons, Christen, etwa die Hälfte Katholiken. Ein Monsignore bereiste für die displaced persons ganz Südamerika, den 18 Millionen Christen gibt man weder ihre Heimat zurück, noch andere Lebensmöglichkeiten. – Und die Verständnislosigkeit drüben ist nicht minder groß; ich las sehr viel zwischen den Zeilen in der Borschüre von M. Stark: Heimatlosigkeit und Seelsorge. Meine verschiedenen Anregungen fallen alle unter den Tisch; die Formalisten streiten um Bagatellen, während Kirche und Welt in Flammen stehen; sie scheinen auf meine und anderer Arbeit keinen Wert zu legen. ‚Wir werden durch unsere Schuld nicht ernst genommen‘, schreibt jemand, den Sie gut kennen. ‚Mit einem Federstrich könnte man den Impetus Deiner Aktionen auf Hochtouren bringen; und wer tut etwas? Für die Sudetendeutschen wärest du keine Privatperson; das wirst du außer etlichen Verblödeten A. und verzopften Violetten gegenüber nie sein, weil Deine Persönlichkeit und Arbeit zu stark sind.‘ Ich kann nur zu dem Schluss kommen, dass man entweder nicht begreift worum es geht (so wie 1938) oder meine Arbeit nicht will.“

Obwohl selbst kein Sudetendeutscher und Vertriebener, hat Reichenberger sein ganzes Tun und Wirken in die Fürsprache der Heimatlosen nach dem Zweiten Weltkrieg gesetzt und machte sich nicht zuletzt dadurch auch zum Advokaten der Vertriebenen. Josef Weinmann würdigte ihn 1988 zum 100. Geburtstag im Volksboten als „aufrechten Vorkämpfer edler Menschlichkeit“. Das Ehrenzeichen der Republik Österreich und der Ehrendoktor der Theologischen Fakultät der Univer­sität Graz wurden ihm zuteil, ebenso die Ehrenbürgerwürde der Stadt Amberg. Reichenberger starb nach einem sehr bewegten Leben 1966 in Wien.

Werke: Ostdeutsche Passion, 1948. – Fahrt durch besiegtes Land, 1950. – Europa in Trümmern. Das Ergebnis des Kreuzzuges der Alli­ierten, 1952. – Wider Willkür und Machtrausch: Erkenntnisse und Bekenntnisse aus 2 Kontinenten, 1955.

Bild: Autorenbild aus Wider Willkür und Machtrausch.

Julia Nagel