Biographie

Reiß, Karl

Herkunft: Sudeten (Böhmen u. Mähren, österr. Schlesien)
Beruf: Diözesan-Vertriebenenseelsorger
* 20. September 1910 in Altzedlisch/Böhmen
† 17. April 1985 in Offenbach

Es war ein großer Verlust für die Vertriebenenseelsorge und überhaupt für die sudetendeutsche Volksgruppe, als am 17. April 1985 auf dem Weg zur Frühmesse in seiner Pfarrei in Offenbach Prälat Dr. Karl Reiß zusammenbrach und starb. Die Anteilnahme im In- und Ausland war immens: nur eine Auswahl der zahlreichen Kondolenzschreiben, die das Sudetendeutsche Priesterwerk in Königstein/Taunus erreichte, konnte in dessen Mitteilungen nach seinem Tod abgedruckt werden. Sichtet man diese Schreiben, wird dem Leser tatsächlich bewusst, welch große und doch bescheidene sudetendeutsche Per­sönlichkeit im Frühjahr 1985 in die ewige Heimat zurückberufen wurde.

Reiß wurde als Sohn des Kleinlandwirts und Fuhrunternehmers Johann und Margarete Reiß geboren. Die tiefe Frömmigkeit, Rechtschaffenheit und Anspruchslosigkeit in seiner Familie sollten ihn von Kindheit an bis zu seinem Tod prägen. Die Matura im Konvikt in Mies mit Auszeichnung beendet, die Studien an der Theologischen Fakultät in Prag mit dem Doktorat unter dem Leitthema Die biblische Völkertafel, Gen. 10, exegetisch, text- und quellenkritisch bearbeitet 1943 abgelegt, war er gleichzeitig schon ab dem 1. Juli 1937 im Dienst der Erzdiözese Prag tätig. Aus dem erzbischöflichen Knabenseminar in Mies kam damals die Hälfte des deutschen Priesternach­wuchses der Erzdiözese Prag. Gerade seine Heimatgemeinde Altzedlisch war bekannt für eine Reihe von Geistlichen, die aus ihr hervorgegangen waren. Neben Reiß ist auch der Altzedlischer und Domkapitular in Prag, Prälat Dr. Josef Grüner, zu nennen, ebenso wie Franz Thums, der am 20. Juni 1937 zusammen mit Reiß im Veitsdom zu Prag geweiht worden war, zuletzt Kaplan in Eger war und 1943 auf der Krim fiel. Von 1937 bis 1938 war Reiß Kaplan in Obříství bei Melnik und obwohl er sich das Vertrauen der tschechischen Gläubigen erworben hatte, wurde er ab dem „Anschluss“ des Sudeten­gaus, ab 1. Oktober 1938 Kaplan in Plan bei Marienbad; wegen der politischen Wirren konnte er diese Stelle nicht antreten, weshalb er in Haid kurz darauf angestellt wurde. Ab 1. April 1940 wurde Reiß Sekretär des Generalvikars für den deutschen Anteil der Erzdiözese Prag in Schlackenwerth, er wurde Sekretär von Prälat Karl Bock.

Ein großer Einschnitt in seinem Leben und besonders in der für die Deutschen im Sudetenland schicksalsträchtigen Zeit nach Kriegsende am 8. Mai 1945 war seine Verhaftung durch die tschechische Polizei am 25. Februar 1946. Reiß schreibt in einem seiner Rundschreiben an seine ehemaligen Pfarrkinder über seine Verhaftung folgendes: „Im Februar 1946 wurde ich verhaftet. Mein Verschulden war, dass ich wahrheitstreu und pflichtgemäß an meine übergeordnete kirchliche Behörde über den Leidensweg der Deutschen im Randgebiet berichtet habe. Im Bewusstsein, nur das Beste meiner deutschen Landsleute gewollt zu haben, habe ich die Haft gerne auf mich genommen. Meine Haft war durchaus erträglich. Die Treue und Anhänglichkeit meiner Freunde und Bekannten hat mich beglückt, Mithäftlingen und Verurteilten konnte ich in schwersten Stunden geistlicher Helfer sein. Ich möchte die 4 ½ Monate, nach denen das Verfahren gegen mich eingestellt wurde, in meinem Leben nicht missen. Nach Schlackenwerth zurückgekehrt, wurde mir mitgeteilt, dass meine Anwesenheit dort nicht mehr erwünscht sei. So ging ich am 18. August mit noch 200 Schlackenwerthern ins Aussiedlungslager. Bereits am 24. August kamen wir in Fronhausen, Kreis Marburg an und wurden auf eine Reihe von Dörfern verteilt.“ Schon im Gefängnis hatte Reiß ein kleines Kreuz bei sich, welches er über die Vertreibung bis an sein Lebensende aufbewahrte. Es lag ihm sehr daran, dass ihm das kleine Kreuz mit in den Sarg gelegt würde. Das Erleben der Vertreibung und die Not zusammen mit seinen Landsleuten haben wohl sein Gottvertrauen und seine marianische Frömmigkeit nicht nur für sein weiteres seelsorgerisches Wirken entscheidend geprägt, denn einst sagte er in einem Gespräch: „Ich habe es nie bereut, Priester geworden zu sein und bin meines priesterlichen Berufes immer froh gewesen.“

Angekommen in Hessen musste Reiß für sich zunächst eine neue „Verwendung“ suchen, eine neue Existenz aufbauen. Erste Station seines Wirkens war die neue Diasporagemeinde Fronhausen bei Marburg, bevor er nur nach wenigen Wochen am 12. Oktober 1946 auf eigenes Ansuchen als Kaplan in St. Marien Offenbach am Main in der Diözese Mainz angestellt und später dort Jugendseelsorger wurde. Es folgte schon 1947 die Ernennung zum Diözesanvertriebenenseelsorger, was gerade kurz nach der Ankunft der Vertriebenen in der späteren Bundesrepublik Deutschland ein sehr schwieriges und verantwortungsvolles Amt bedeutete. Reiß jedoch meisterte es mit Bravour und ihm gelang es – treu dem Prophetenspruch im Babylonischen Exil „Tröstet, tröstet mein Volk!“ – den Menschen Hoffnung zu geben, gleichzeitig aber auch Realist zu bleiben. Dies belegen Sätze wie: „Wir wollen uns keinen Illusionen hingeben, dass schon die nächste Zukunft eine Änderung unserer Lage bringen könnte. Gründen wir auf leere Gerüchte keine großen Hoffnungen. Staat und Kirche werden gewiss alles tun, die dringendste Not zu lindern, doch muss es uns immer klar sein, dass ein in Krieg und Nachkriegszeit zerschlagenes und erschöpftes Deutschland uns aufgenommen hat. Wenn wir den katholischen und evangelischen Brüdern und Schwestern unserer Aufnahmeorte immer wieder sagen, dass Dienst am notleidenden Flüchtling Dienst an Christus ist, dann müssen wir uns aber auch selbst ehrlich bemühen, durch gutes Beispiel und untadelige Führung unserer Heimat Ehre zu machen. Seien wir arbeitsam, verträglich, ehrlich und bescheiden.“

Reiß mahnte seine Landsleute aber auch, wenn er sagte: „An religiösem Eifer wollen wir nicht nachstehen. Namentlich in der Diaspora wollen wir feststehen im Glauben. Sollte es der Wille Gottes sein, dass wir uns eine neue Heimat gründen, dann wird für uns ganz anders gesorgt werden. 15 Millionen Menschen, die bisher schon das härtere Los als Grenzlanddeutsche getragen haben, werden nicht ewig Bettler bleiben dürfen. Contra spem in spem: Hoffnung wider alle Hoffnung. Glauben wir an die glückhafte Stunde, die uns zum Aufbruch ruft, um wieder in Besitz zu nehmen, was man uns genommen hat.“

Es scheint so selbstverständlich bis in die heutige Zeit hinein, dass die einzelnen Heimatorte aus dem Sudetenland noch ihre Heimattreffen veranstalten und leider wird von Jahr zu Jahr mehr gemutmaßt, wie lange es diese noch geben wird. Dabei wird immer wieder vergessen, dass es die Heimatpriester waren, die ihre einstigen Pfarrkinder in der neuen Heimat wieder ausfindig machten und zusammenriefen. Wie schwierig muss dies gerade in den Wirren der Nachkriegszeit gewesen sein? Genau ein solcher Volkspriester und Priester der Armen war Prälat Dr. Karl Reiß. Er nahm sich denen an, die Hilfe und Trost am meisten benötigten. Reiß und alle anderen Priester blieben aufrecht und handelten, sie handelten trotz aller Not und allem Elend, eben: „Contra spem in spem – Hoffnung wider alle Hoffnung“, und genau diese Haltung gab den Heimatvertriebenen gerade in ihrer verzweifelten Lage Kraft und Mut, um in der neuen Heimat Fuß zu fassen.

Schon während der permanenten Sammlung der Adressen seiner ehemaligen Pfarrkinder verfasste und verschickte Reiß bereits nach 1946 erste Rundschreiben mit dem Titel Wegweisende Worte. Diese Briefe gelten heute als Zeitzeugnisse, die nicht besser sein könnten, um die Umstände der damaligen Zeit zu verstehen, gerade für die Generation der Nachgeborenen.

Ab 1. Mai 1955 nahm Reiß die Stelle des Pfarrrektors in Offenbach an, später wurde er in der neuerrichteten Pfarrei Heilig Kreuz in Offenbach/Waldheim Pfarrer. Dort gab es für ihn viel zu tun. Reiß initiierte den Bau der Pfarrkirche und des Pfarrhauses. Fünf Jahre später kam der Bau des Gemeindezentrums „Haus am Wiesengrund“ hinzu. Neben seiner Tätigkeit als Diözesanvertriebenenseelsorger der Diözese Mainz war Reiß auch Mitglied der liturgischen Kommission, Beisitzender Richter im Ehegericht/Offizialat und in zwei Wahlperioden Mitglied des Priesterrates.

In den Königsteiner Anstalten, dem „Vaterhaus der Vertriebenen“ war er seit seiner Gründung bis zum Tode Kindermanns 1974 Zweiter Vorsitzender, danach wurde er bis zu seinem eigenen Tod 1985 in jeder weiteren Periode als 1. Vorsitzender bestätigt.

1960 wurde Reiß außerdem zum Geistlichen Rat der Diözese Mainz ernannt, 1966 nahm er seine Tätigkeiten als Sprecher der sudetendeutschen Priester aus der Erzdiözese Prag auf, ebenso 1975 als Sprecher der sudetendeutschen Priester und Beauftragter der Deutschen Bischofskonferenz für die Heimatvertriebenen deutscher Zunge aus Böhmen und Mähren-Schle­sien. 1968 und 1974 folgten die Ernennungen zum Monsignore und zum Ehrenprälaten und schlussendlich 1977 zum Apostolischen Pronotar. Unzählige Auszeichnungen und Ehrungen wurden ihm zuteil, darunter Plaketten und Ehrennadeln von Institutionen der sudetendeutschen Volksgruppe und Ehrenbürgerwürden wie etwa des Heimatortes Altzedlisch oder das Goldene Ehrenzeichen der Egerländer.

Reiß war es auch, der als einziger Diözesanseelsorger einen Nachfolger in seinem Amte fand und „heranzog“. Mainz ist die einzige Diözese, die seit der Vertreibung mehr als einen Vertriebenenseelsorger hatte.

Seine Nächsten waren Reiß aber nicht nur im geistlichen Sinne wichtig, auch im weltlichen Bereich wurde Reiß für großes soziales Engagement in den Randsiedlungen Offenbachs vom Magistrat durch den Oberbürgermeister an seinem 65. Geburtstag mit der Bürgermedaille in Silber bedacht. Er begründete im Stadt- und Landkreis Offenbach den Bund der Vertriebenen und die Sudetendeutsche Landsmannschaft.

Dass nach einem so erfüllten Leben dennoch hochrangige Persönlichkeiten aus Kirche und Politik an seinem Grab Abschied nahmen, beweist das große Ansehen zu Lebzeiten von Reiß. Unter der Trauergemeinde waren etwa Bischof Dr. Dr. Karl Lehmann von Mainz, Weihbischof Gerhard Pieschl von Limburg, Äbte, Visitatoren und weit über 100 Priester, die ihn am 22. April 1985 in der Gruft der von ihm erbauten Kirche Heilig Kreuz in Offenbach zur letzten Ruhe gebettet haben.

Ein sehr treffendes Attribut auf Reiß fügte Weihbischof Ger­hard Pieschl in seinem Nachruf an: „Das Schlimmste, das den Vertriebenen zuteil war, war, dass sie sich als ehrlos und würdelos empfinden mussten, und da hat Reiß mit einem Wort, das er dem Böhmerwalddichter Hans Watzlik entnahm, immer wieder den Menschen zugerufen – es findet sich auf seinem Danksagungsbrief zum 70. Geburtstag: ‚Gebt eurem Leben Kronen!‘ Das heißt doch, erkennt, dass ihr von Gott her geschaffen seid, verkündigt, dass ihr Menschen seid, dass man sagen kann, seine Majestät der Mensch, weil Menschenwürde euch zukommt, euch, den Armen, den Ausgebeuteten, den Verachteten. So hat er Mut und Hoffnung gegeben.“

Seinem Losungswort, das auf seinem Primizbild abgedruckt war, war der Armenpriester, wie er sich selbst bezeichnete, 48 Priesterjahre in allen Höhen und Tiefen seines Lebens treu geblieben: „Herr, lass mich wirken in meinem Volk für Dich, für Deine Ehre, für Dein Reich auf Erden!“

Bild: Haus der Heimat, Stuttgart.

Julia Nagel, 2017