Biographie

Richter, Hans Werner

Herkunft: Pommern
Beruf: Schriftsteller
* 12. November 1908 in Neu Sallenthin bei Bansin/Usedom
† 23. März 1993 in München

Obwohl der Gruppe 47 viele bedeutende Schriftsteller der jungen Bundesrepublik angehörten, steht der Name Hans Werner Richter wie kein anderer für diesen Zusammenschluss von Autoren und Intellektuellen, welche die deutsche Nachkriegszeit maßgeblich mit geprägt haben. Schriftstellerisch mit mäßigem Talent ausgestattet und ebenso mäßigem Erfolg belohnt, gilt Richter dennoch als eine der zentralen Figuren der literarischen Aufbau- und Lehrjahre Deutschlands nach dem Ende des Dritten Reichs. Als Initiator, Spiritus Rector und Sprachrohr der Gruppe 47 gelangte er weltweit zu Ruhm und Ansehen.

Hans Werner Richter wurde am 12. November 1908 auf Usedom geboren. Obwohl häufig anders erwähnt ist nicht Bansin, sondern – wie Erich Embacher aus einem Gespräch mit Richter berichtet – Neu Sallenthin sein Geburtsort. Erst zwei Jahre später zieht die Familie nach Bansin. Als fünftes Kind eines Fischers und der Tochter eines ortansässigen Katenbauers entstammt Richter einer traditionellen Arbeiterfamilie. Sein Großvater kam als arbeitsloser Weber auf die Insel, konnte dort zwischenzeitlich jedoch wieder in seinem Beruf arbeiten. Außer Richters jüngstem Bruder, der in Berlin studierte, nahmen alle Kinder eine handwerkliche Ausbildung auf. Richter hingegen wurde, nach anfänglichen Problemen, Buchhändlerlehrling und absolvierte von 1924 bis 1927 eine entsprechende Ausbildung in Swinemünde. 1928 erhielt er eine Anstellung als Buchhandelsgehilfe in der Tempelhofer Buchhandlung in Berlin. Dieser Lebensabschnitt wurde für Richter, wie er später sagte, zur„literarischen Goldgrube“ (zitiert nach Embacher). Dort kam er mit einer Vielzahl an belletristischer und wissenschaftlicher Literatur in Kontakt, schrieb erste eigene Texte und – was bezeichnend für sein späteres Leben sein sollte – war Teil eines Freundkreises, in welchem man eigene Werke vortrug und kritisierte. Die Jahre 1930 und 1932 wurden zu Schlüsseljahren im Leben Richters: 1930 verlor einer einerseits, im Zuge der Wirtschaftskrise, seine Arbeitsstelle und trat andererseits in die KPD ein. Aus dieser wurde er allerdings schon 1932 wieder ausgeschlossen, da er sich dem trotzkistischen Sozialismus verbunden fühlte. Dieser Ausschluss mochte sich als Glückfall erweisen, bewahrte er ihn vor einer Inhaftierung während der Nazi-Zeit. Der links-politische Richter stand den Nationalsozialisten von Anfang kritisch gegenüber, eine Emigration 1933 nach Paris scheiterte aber an seiner finanziellen Lage. 1934 kehrte er nach Berlin zurück. Die meiste Zeit arbeitslos, war er auf die finanzielle Unterstützung von Freunden angewiesen. Mit verschiedenen kleineren Anstellungen konnte er sich nur schwer über Wasser halten. Auch wenn er aus der KPD geschlossen blieb, war Richter im politischen Untergrund aktiv. Da er aber kein offizielles KPD-Mitglied war, kam er bei verschiedenen Verhören durch die Gestapo glimpflich davon. Obwohl er immer wieder versuchte, sich dem Kriegsdienst zu entziehen, wurde Richter nach der Grundausbildung 1940 in den Zolldienst beordert, den er an verschiedenen Stellen bis 1943 versah. Im Sommer desselben Jahres kam es zum Kampfeinsatz. In Italien wurde Richter genau an seinem 35. Geburtstag von den Amerikanern gefangen genommen. Noch während des Krieges hatte er 1942 in Krakau seine Frau Toni geheiratet. Seine dreijährige Gefangenschaft verbrachte er zuerst in Camp Ellis in Illinois und später in Fort Kearney in Rhode Island. 1945 lernt Richter im Gefangenenlager die Zeitschrift für deutsche KriegsgefangeneDer Ruf kennen. Im Mittelpunkt der Berichterstattung stand die Kollektivschuld aller Deutschen, gegen die sich Richter zeitlebens wehrte. Als die Redaktion der Zeitschrift entlassen wurde, übernahm er zusammen mit Alfred Andersch diesen Posten. Nach Ende der Krieggefangenschaft erschien die Zeitschrift ab 1946 in München. Als Organ gegen die Politik der Besatzungsmächte erfreute sie sich einer enormen Beliebtheit. In den vier Besatzungszonen hatte Der Ruf über 100.000 Abonnenten. Nach immerheftigeren Auseinandersetzungen mit den Amerikanern, ob der linken und prokommunistischen Äußerungen, verloren Andersch und Richter nach nur 16 Ausgaben 1947 die Lizenz. In dieses Jahr fiel eines der bedeutendsten Ereignisse der deutschen Literatur- aber auch Gesellschaftsgeschichte des jungen Nachkriegsdeutschlands. Richter versandte erstmals Postkarten, auf welchen er zum ersten Treffen der Gruppe 47 einlud. Dieser sich regelmäßig treffende Zirkel von Autoren und später auch Verlegern und Kritikern, zu dem er immer per Postkarte einlud, wurde zum Lebenswerk Hans Werner Richters. Viele junge Schriftsteller, unter anderem Ingeborg Bachmann oder Günter Grass, wurden erst durch die Gruppe 47 berühmt, andere aber durch die harten Kritikerunterteile des Kreises schwer zurück geworfen – bestes Beispiel ist hierfür Paul Celan – oder sogar schriftstellerisch vernichtet. Ziel der Gruppe war es nicht nur, den literarischen Nachwuchs in der Bundesrepublik zu fördern, sondern ebenso gesellschaftlich und politisch Stellung zu beziehen. Kritik an der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit sowie an der konservativen Adenauerregierung stand ebenso wie regelmäßige Lesungen auf dem Programm. Im Zuge der Studentenbewegungen verlor die Gruppe mehr und mehr ihren gesellschaftlichen Stellenwert. 1967 tagte sie zum vorerst letzten Mal. Von einer Auflösung kann man allerdings nicht sprechen, da Richter schlicht und einfach keine Einladungspostkarten mehr schrieb. 1972 kamen einige Mitglieder nochmals im kleinen Kreis in Berlin zusammen, um die gesamte Gruppe im September 1977 zu ihrem letzten Treffen nach Saulgau einzuladen. 1990 erfolgte dann das verspätete offizielle Ende der Gruppe 47.

Auch außerhalb der Gruppe 47 war Hans Werner Richter ein politisch äußerst engagierter Mensch. So war er Mitbegründer des Gründwalder Kreises, eine der ersten Bürgerinitiativen der BRD, die auf faschistische und militärische Tendenzen aufmerksam machen wollte. Im Zuge seiner Aktivität in der Anti-Atom-Bewegung trat Richter 1958 in die SPD ein. Unter seinem vielfachen und nimmer endeten gesellschaftlichen Engagement musste seine literarische Tätigkeit zurückstehen. Generell war ihm die politische Meinungsäußerung wichtiger gewesen als ein literarisch-ästhetischer Anspruch. Bereits in den siebziger Jahren konstatierte Marcel Reich-Ranicki, dass man über das schriftstellerische Werk geteilter Meinung sein kann. Man mag ihm Recht geben. Mit seiner Prosa ging es Richter immer darum, Missstände anzuprangern und den gesellschaftlichen Wandel voran zu treiben. Seine Bücher zeichneten sich durch eine einfache und klare Sprache aus. Metaphern lagen ihm fern. Zur Avantgarde seiner Zeit konnte er wahrlich nicht gezählt werden. Immer wieder ordnete er literarische Qualität dem politisch-aufklärerischen Wirken unter. Vielfach hat er in seine Bücher autobiographische Elemente einfließen lassen. So handeln die Werke Die Geschlagenen (1949), Sie fielen in Gottes Hand (1951) undDu sollst nicht töten (1955) von seinen Kriegserlebnissen. Die Kindheit auf Usedom verarbeitete er in Spuren im Sand (1953), inBlinder Alarm. Geschichten aus Bansin(1970) setzt er sich mit seinem Vater auseinander. Richters literarische Zielsetzung wurde vielfach schon durch die programmatischen Titel deutlich, die er seinen Texten gab –so unter anderem Bestandsaufnahme – Eine deutsche Bilanz (1962) oderPlädoyer für eine neue Regierung, oder: Keine Alternative (1965). Die Rezeption seiner Werke war nie beste – erst in den achtziger Jahren besserte sich der Zustand ein wenig. Und dennoch hat sich Richter nie vom Schreiben, darunter als auch Hörspielautor, abbringen lassen. Mehrere Preise und Ehrungen wurden ihm im Verlauf seines Lebens verliehen, darunter 1979 das Große Bundesverdienstkreuz. Die größte Auszeichnung, die einem Menschen seines Formats zuteil werden kann, erhielt er jedoch von Günter Grass. Dieser setzte ihm in seiner 1979 erschienen Erzählung Das Treffen in Telgte ein literarisches Denkmal. Angelehnt an die Gruppe 47 beschreibt Grass ein fiktives Treffen historischer Barockpoeten zum Ende des Dreißigjährigen Krieges. In vielen Dichtern kann man Persönlichkeiten der Gruppe 47 wieder erkennen, so in der Figur des Simon Dach Hans WernerRichter, welchem der Text auch gewidmet ist. Richter, die nie studiert hat, wurden auch verschiedene akademische Ehren angetragen. 1978 wurde er Ehrendoktor der Universität Karlruhe, 1979 ernannte ihn die Stadt Berlin zum Professor honoris causa. 1993 starb Hans WernerRichter im Alter von fast 85 Jahren in München. Mit ihm hat die Bundesrepublik zwar keinen genialen Schriftsteller, aber einen eifrigen Publizisten und stets engagierten Aufklärer und Mahner verloren, der maßgeblich zum gesellschaftlichen Wandel und zur Aufarbeitung der NS-Geschichte beigetragen hat.

Werke:Deine Söhne Europa – Gedichte deutscher Kriegsgefangener (1947). – Die Geschlagenen (1949). – Sie fielen aus Gottes Hand (1951). – Spuren im Sand (1953). – Du sollst nicht töten (1955). – Linus Fleck oder Der Verlust der Würde (1959); Bestandsaufnahme – Eine deutsche Bilanz (1962). – Plädoyer für eine neue Regierung, oder: Keine Alternative (1965). – Menschen in freundlicher Umgebung, Sechs Satiren (1965). – Blinder Alarm. Geschichten aus Bansin (1970). – Rose weiß, Rose rot (1971). – Briefe an einen jungen Sozialisten (1974). – Die Flucht nach Abanon (1980). – Die Stunde der falschen Triumphe (1981). – Ein Julitag (1982). – Im Etablissement der Schmetterlinge – Einundzwanzig Portraits aus der Gruppe 47 (1986). – Reisen durch meine Zeit. Lebensgeschichten (1989); Deutschland deine Pommern – Wahrheiten, Lügen und schlitzohriges Gerede (1990).

Lit.: Hans A. Neunzig (Hrsg.), Hans Werner Richter und die Gruppe 47, München 1979. – Erich Embacher, Hans Werner Richter. Zum lit. Werk und zum politisch-publizistischen Wirken eines engagierten deutschen Schriftstellers. Frankfurt/M./Bern/New York 1985. – Artur Nickel, Hans Werner Richter – Ziehvater der Gruppe 47. Eine Analyse im Spiegel ausgewählter Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, Stuttgart 1994. – Barbara König, Hans Werner Richter. Notizen einer Freundschaft, München/Wien 1997. – Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), Die Gruppe 47. TEXT+KRITIK Sonderband. 3. gründl. überab. Aufl. 2004. – Sebastian Mroek, Hans Werner Richter. Zum Prosawerk eines verkannten Schriftstellers, Frankfurt/M./Bern/ New York 2005.

Bild: Kulturstiftung.

Christoph Meurer