Biographie

Rickert, Heinrich

Herkunft: Danzig
Beruf: Philosoph
* 25. Mai 1863 in Danzig
† 24. Juli 1936 in Heidelberg

Am 24. Juli 1986 jährt sich zum fünfzigsten Male der Todestag des Philosophen, der am 25. Mai 1863 in der Geburtsstadt Arthur Schopenhauers zur Welt gekommen war. Sein Vater, der freisinnige (liberale) Politiker gleichen Namens (1833-1902), stammte aus dem westpreußischen Ostsee-Städtchen Putzig, war Redakteur und Miteigentümer der „Danziger Zeitung“ und gehörte als Abgeordneter des Wahlkreises Stadt Danzig seit 1870 dem Preußischen Abgeordnetenhaus und seit 1874 außerdem dem Deutschen Reichstag

Die akademische Laufbahn des Sohnes führte früh zum Erfolg. Er hatte sein Studium in Zürich bei Richard Avenarius aufgenommen und 1888 in Straßburg mit einer Promotion bei Wilhelm Windelhand abgeschlossen. 1891 habilitierte er sich in Freiburg und wurde dort 1894 außerordentlicher, 1896 ordentlicher Professor als Nachfolger Alois Riehls. 1916 übernahm Rickert den philosophischen Lehrstuhl Wilhelm Windelbands in Heidelberg. Beide werden seither als die Häupter der südwestdeutschen Schule des Neukantianismus angesehen. Während die Lebensleistung Windelbands ihren Schwerpunkt in großen philosophiehistorischen Werken hat, wurde Rickert der eigentliche Systematiker der Schule. Durch drei Begriffe wird die Orientierung der Rickertschen Systemtheorie am ehesten gekennzeichnet: „Bewußtsein überhaupt“ (später „erkenntnistheoretisches Subjekt“), „System der Werte“ und „Kulturwissenschaft“. In gründlichen und von Auflage zu Auflage anschwellenden Werken entwickelte Rickert seine Philosophie, deren transzendentalphilosophische, kulturgliedernde und wissenschaftstheoretische Intentionen durch die genannten Begriffe angedeutet werden.

Rickerts Versuch, den Geisteswissenschaften eine wertphilosophische Begründung zu geben, beeinflußte so namhafte Forscher wie Ernst Troeltsch, Friedrich Meinecke und Max Weber. Die Erstauflagen der Rickertschen Werke verraten einen energischeren Zugriff, die letzten Fassungen eine bedächtige Ausgewogenheit, deren Nachvollzug Geduld erfordert. Rickert ging zwar von Kantischen Lehrstücken aus, aber seine Stärke war nicht die Auswertung fremder Texte, sondern die gleichsam bastelnde Arbeit im Gebäude einer eigenen Begrifflichkeit. Das Aufkommen der Lebensphilosophie (Nietzsche, Dilthey, Bergson) und der Existenzphilosophie, aber auch des Hegelianismus, suchte er nach Möglichkeit zu verhindern. In der Systematik war sein eigenes Verfahren die „Heterologie“, eine Methode, die in „Weltall-Alternativen“ die Grundmomente des Ganzen von Subjekt und Objekt, Kultur und Natur, Sein und Geltung zu umfassen versuchte. Rickerts Philosophie ist in ungewöhnlichem Maße frei von Eklektizismen, aber auch von einer umfassenden Auseinandersetzung mit den Klassikern der Transzendentalphilosophie. In dieser Hinsicht zeigt seine Arbeit Ähnlichkeit mit der seines Zeitgenossen Husserl. Die Stärke des Philosophen liegt in einer vorbildlich klaren Begriffssprache und in dem Versuch, alle Voraussetzungen und Elemente des Philosophierens möglichst vollständig zu bestimmen. Rickerts Hoffnung, Emil Lask (1875-1915) werde sein Werk fortsetzen und vertiefen, ging nur zum Teil in Erfüllung. Sein begabtester Schüler fiel, fast vierzigjährig, in Galizien. Dennoch widerfuhr der Rickertschen Philosophie, problemgeschichtlich betrachtet, das Glück, daß der gründliche und scharfsinnige Rudolf Zocher (1887-1976), auf ihr aufbauend, eine philosophische „Grundlehre“ schuf, die gleicherweise die bedeutungs- und geltungstheoretischen Lehrstücke differenzierte und die unentbehrliche Aktualisierung der Transzendentalphilosophie Kants unter den Aspekten des südwestdeutschen Ansatzes nachholte. 1933 verlieh die Technische Hochschule Danzig dem Philosophen „in Anerkennung seiner hohen Verdienste um die philosophische Grundlegung der deutschen Kulturwissenschaften“ die Würde eines „Doktors rerum technicarum Ehren halber“.

Hauptwerke: Der Gegenstand der Erkenntnis, 1892, 6. Aufl. 1928; Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 1896-1902, 5. Aufl. 1929; Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 1899,7. Aufl. 1926; Die Philosophie des Lebens, 1920; System der Philosophie, 1921; Kant als Philosoph der modernen Kultur, 1924; Die Logik des Prädikats und das Problem der Ontologie, 1930; Goethes Faust, 1932 (trug Rickert 1933 die Goethe-Medaille ein); Grundprobleme der Philosophie, 1934; Unmittelbarkeit und Sinndeutung, 1939.

Lit.: Es gibt zwar viele Einzeluntersuchungen, eine gründliche Rickert-Monographie steht jedoch noch aus. Bibliographische und sachliche Hinweise in den bekannten Nachschlagewerken (Ziegenfuß, Ueberweg, Edwards), wichtig: H.-L. Ollig, Der Neukantianismus, 1979; W. Flach u. H. Holzhey, Erkenntnistheorie und Logik im Neukantianismus, 1980; Emu Lask, Gesammelte Schriften, 3 Bde., 1923-1924; Rudolf Zocher, Geschichtsphilosophische Skizzen, Bd. I, 1933; ders., Heinrich Rickerts philosophische Entwicklung, in: Zeitschrift für Deutsche Kulturphilosophie, 1937, 84-97; ders., Philosophische Grundlehre, 1939; ders., Heinrich Rickert, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 1963, 457462. Zur fundamentalphilosophischen Würdigung Rickerts u.a.: Manfred Brelage, Studien zur Transzendentalphilosophie, 1965; und Werner Flach, Negation und Andersheit, 1959. Zur Stellung der Ästhetik im System Rickerts: G. Wolandt, Transzendentale Elemente in der Kunstphilosophie und in der Kunstgeschichte, in: Lorenz Dittmann (Hrsg.), Kategorien und Methoden der deutschen Kunstgeschichte, 1985.