Biographie

Riemer, Friedrich Wilhelm

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Philologe, Literaturhistoriker
* 19. April 1774 in Glatz
† 19. Dezember 1845 in Weimar

Friedrich Wilhelm Riemer, als Goethes Sekretär und Berater in die Literaturgeschichte eingegangen, war Sohn eines preußischen Beamten, der 1763 aus der Mark nach Schlesien versetzt worden war. In seiner Jugend hatte er technische und künstlerische Neigungen, wurde aber Philologe. Nach dem Besuch des Breslauer Magdalenäums folgte 1794 ein Studium der Theologie und Philologie in Halle. Riemer war Schüler von Friedrich August Wolf, des bedeutenden Altphilologen. Es folgte eine Privatdozentur mit Aussichten auf die akademische Laufbahn, welche jedoch, da unzureichend besoldet, wieder aufgegeben werden mußte. Um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, wurde Riemer Hauslehrer bei Wilhelm von Humboldt, dem er nach Rom folgte, als dieser dort preußischer Gesandter wurde. Eine unglückliche Leidenschaft zu Humboldts Frau Caroline hatte Riemers Abschied zur Folge. Nach Deutschland zurückgekehrt, wurde er auf Empfehlung Humboldts Hausgenosse Goethes am Frauenplan, als Erzieher von dessen Sohn August, den er auf den Besuch des Weimarer Gymnasiums vorzubereiten hatte. Wichtiger war für Goethe, und schicksalsbestimmend wiederum für Riemer, daß der Dichter in ihm einen Mann gefunden hatte, der an seinen Arbeiten lebhaften Anteil nahm und ihm in philologischen und antiquarischen Dingen mit Rat und Tat zur Seite stand. Neben Heinrich Meyer und Johann Peter Eckermann gehörte Riemer bald zu Goethes engstem Lebenskreis und blieb es über fast drei Jahrzehnte. Noch enger wurden die Bande geknüpft, als er nach Christianes Tod deren Freundin und Gesellschafterin Caroline Ulrich heiratete, die ebenfalls im Haus am Frauenplan wohnte.

Riemer blieb nicht dauernd bei Goethe. 1812 nahm er eine Stelle als Professor am Weimarischen Gymnasium an, die er allerdings bald als unerträgliche Last empfand und 1820 wieder aufgab. Eine Berufung an die Universität Rostock wurde schließlich verworfen. Was ihn in Weimar und bei seinem Gönner hielt (wiederum bei schmalem Gehalt, das Goethe aus eigener Tasche bestritt), war das Gefühl, wichtig, ja unentbehrlich zu sein, im Umfeld des größten deutschen Schriftstellers leben und arbeiten zu dürfen. Die Tätigkeit des Sekretärs war vielgestaltig. Goethe ging mit Riemer Manuskripte in stilistischer Hinsicht durch und befolgte nicht selten den Rat des kenntnisreichen Mannes. Willig nahm dieser auch gewöhnliche Schreib- und Handlangerdienste auf sich. Namens- und Sachregister waren zu erstellen, Korrekturen zu lesen. Ordnung in älteren Papieren zu schaffen und Material zu sammeln für neue Arbeiten. Aber auch über den "Dienst am Werk" hinaus wußte sich Riemer bald unentbehrlich zu machen: als Reisebegleiter des Dichters in die böhmischen Bäder, als Organisator von Maskenzügen und Festspielen. Besucher Goethes, die aus ganz Europa anreisten, hatten sich zuerst bei ihm zu melden. Mit der Zeit avancierte Riemer in dem mehr und mehr patriarchalische Züge annehmenden Hauswesen zu einer Art Hofmarschall, der seinen Herrn und Meister in Stil und Tonfall kopierte und mitunter Ehrenbezeugungen, die gar nicht ihm galten, gern auf sich bezog – ein dankbarer Gegenstand satirisch-humoristischer Darstellung und literarischer Persiflage. Zu den editorischen Leistungen, die Erwähnung verdienen, gehören die von Riemer mitredigierte erste Cottasche Ausgabe von Goethes Werken in zwanzig Bänden sowie die von ihm und Eckermann allein besorgte Herausgabe der Nachgelassenen Werke. 1833 edierte er Goethes Briefwechsel mit Zelter. Acht Jahre später erschienen – Riemers Opus magnum – seine Mittheilungen über Goethe. Aus mündlichen und schriftlichen, gedruckten und ungedruckten Quellen. Obwohl auch Unwichtiges und Beiläufiges enthaltend und nicht immer zuverlässig, so finden sich darin doch Informationen über Druckdaten und Korrekturen, die für ein tieferes Verständnis des Goetheschen Schaffensprozesses unentbehrlich sind. Zugleich bieten sie überraschende Einblicke in Goethes Arbeits- und Lebensweise.

"Das ist kein bloßer Kopist", so resümiert Richard Friedenthal in seiner großen Biographie die Rolle von Goethes Adlatus. "Riemer denkt mit. Er denkt zuweilen über Goethe hinaus, und dann wird er zur Ordnung gerufen. Aber er ist unentbehrlich, für Goethe wie für uns."

Lit.: Friedenthal, Richard: Goethe. Sein Leben und seine Zeit. München 1982, bes. S. 469 ff. – Geiger, Ludwig: Goethes Kammerdiener. In: Die Nation. Wochenschrift f. Politik, Volkswirtschaft u. Literatur. 10. Jhg. (17. Juni 1893), S. 476 – 478. – Biedrynski, Effi: Goethes Weimar. Das Lexikon der Personen u. Schauplätze. Zürich 1992, S. 327 – 330.

Bild: Friedrich Wilhelm Riemer, Kreidezeichnung von Joseph Schmeller, undatiert; Bildarchiv Stiftung Weimarer Klassik, Weimar.

 

Klaus Berthel