Biographie

Rilke, Rainer Maria

Herkunft: Sudeten (Böhmen u. Mähren, österr. Schlesien)
Beruf: Lyriker, Dichter
* 4. Dezember 1875 in Prag
† 29. Dezember 1926 in Val Mont, Montreux/Schweiz

Persönlichkeit und Werk Rilkes weisen bis heute erstaunliche Werte auf der Skala zwischen Vergötterung und Verketzerung auf. Bereits 1927 stellte der ganz anders disponierte Robert Musil fest: „Er gehört zu den Jahrhundertzusammenhängen der deutschen Dichtung, nicht zu denen des Tages.“ Und der wahrlich nicht geistesverwandte Gottfried Benn hob seine prägende Wirkung 1949 für die Überlebenden der Weltkriegskatastrophe hervor: „Diese dürftige Gestalt und Born großer Lyrik (…) schrieb den Vers, den meine Generation nie vergessen wird: Wer spricht von Siegen – Überstehn ist alles!“ Die nachhaltigsten Folgen für das Verständnis der Rilkeschen Dichtung zeitigte jedoch Martin Heideggers Vortrag „Wozu Dichter?“, der 1946 zum Andenken an Rilkes zwanzigsten Todestag in engstem Kreis gehalten wurde. Rilkes Hölderlinbeschäftigung und -verehrung aufgreifend, setzte Heidegger mit Hölderlins Frage aus der Elegie „Brod und Wein“ ein: „… und wozu Dichter in dürftiger Zeit?“ Und Heidegger schließt mit eben der griffigen Formel vom „Dichter in dürftiger Zeit“ im Blick auf Rilke: „Wenn Rilke ,Dichter (ist) in dürftiger Zeit‘, dann beantwortet auch nur seine Dichtung die Frage, wozu er Dichter, woraufzu sein Gesang unterwegs ist, wohin der Dichter im Geschick der Weltnacht gehört.“ Es verwundert nicht, daß eilige Interpreten die Philosophie Heideggers gleich als Pendant zur dichterischen Weltsicht Rilkes einsetzen wollten. Die Problematik eines solchen Unterfangens liegt auf der Hand. Sie darf aber nicht verdunkeln, daß Heidegger in Rilkes Dichtung zentrale Begriffe seiner eigenen Seinsdeutung vorzufinden glaubte. Daraus resultierte die Anziehungskraft dieses Werkes für ihn.

Auf solch außergewöhnliche Wertschätzung des am 4. Dezember 1875 in Prag geborenen einzigen Sohnes (eine Tochter war unmittelbar nach der Geburt gestorben) einer deutschstämmigen Familie deutete zunächst wenig. Er wuchs als Kind aus einer unglücklichen Ehe und unter beengten bürgerlichen Verhältnissen heran. Der Vater, der vergeblich von einer Offizierskarriere träumte, brachte es lediglich zum Eisenbahninspektor, was Renés Mutter, einer exzentrischen Fabrikantentochter, ganz und gar nicht behagte. Ellen Key schilderte Rilke am 3. April 1903 seine Kindheit so: „Die Ehe meiner Eltern war schon welk, als ich geboren wurde. Als ich neun Jahre alt war, brach die Zwietracht offen aus, und meine Mutter verließ ihren Mann … ich glaube, meine Mutter spielte mit mir wie mit einer großen Puppe. Im übrigen war sie immer stolz, wenn man sie ,Fräulein‘ nannte. Sie wollte für jung gelten, für leidend und für unglücklich. Und unglücklich war sie wohl auch. Ich glaube, wir waren es alle.“

Nach der Trennung der Eltern begann für den zehnjährigen René eine als „Heimsuchung“ empfundene Schulzeit auf österreichischen Militärschulen: zunächst in St. Pölten, dann in Mährisch-Weißkirchen (wo auch der junge Robert Musil später war). Und wie bei Musil, der den Alltag dieser Schule in seinem Erstlingsroman „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ (1906) spiegelte, liegen auch bei Rilke hier die Wurzeln der künftigen Dichterexistenz. 1891 kann er den Abgang wegen „Kränklichkeit“ aus der Militär-Oberrealschule erwirken. Nach einigen Monaten auf der Handelsakademie in Linz holt er 1895 (nach privater Vorbereitung seit 1892 in Wien) das Abitur nach. Zwei Wesensmerkmale des späteren Dichters zeichnen sich jetzt schon ab: das „Überstehn“, das Benn so beeindruckte, und der wortwörtliche Eigen-Sinn! Daran ändert sich auch bei den Studienansätzen wenig. 1895 beginnt Rilke an der Deutschen Carl-Ferdinands-Universität in Prag (1882 war die Prager Universität in eine Deutsche und eine Tschechische Universität geteilt worden) ein Studium der Kunstgeschichte, der Literaturgeschichte (bei August Sauer) und der Philosophie. Mit 20 Jahren ist Rilke deutlich älter als der Durchschnitt der damaligen Studienanfänger. Er verkehrt auch hauptsächlich unter Künstlern, Theaterleuten und Literaten. Im Sommersemester 1896 wechselt er in die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät. Schon im Herbst verläßt er Prag und folgt seinem Freund, dem Maler und Graphiker Emil Orlik nach München.

Im Frühjahr 1897 kommt es zur entscheidenden Begegnung, die einem Erweckungserlebnis gleichkommt, mit der vierzehn Jahre älteren deutschrussischen Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé. Die einstige Freundin Nietzsches und spätere Bekannte Freuds ist maßgeblich beteiligt an Rilkes Durchbruch zur unbedingten Dichterexistenz. Auf zwei großen Reisen 1899 und 1900 nach Rußland (mit Besuch bei Tolstoi) verhalf sie ihm zu einem Erlebnis dieses Landes, das von da an für ihn zur „inneren Heimat“ wurde. Literarisches Ergebnis dieser Erfahrungen ist „Das Stundenbuch“, das in seinen drei Teilen 1899, 1901 und 1903 entstand und 1905 im Insel Verlag Leipzig erschien. Von diesem Zeitpunkt an blieb Rilke Autor der Insel und nicht zuletzt Freund der Verlegersgattin Katharina Kippenberg. Sie zählt zu jenen Frauen, die (wie Lou) unerläßlich werden für Rilkes Dichterselbstverständnis und damit auch für die Gestalt seiner Hauptwerke, die mit dem „Stundenbuch“ ihren Anfang nehmen. Daher ist auch das umfangreiche Briefwerk und besonders der Briefwechsel mit den zentralen Frauengestalten unentbehrlich für das angemessene Verständnis seiner Werke. In der vom Rußland-Erlebnis geprägten Einstellung nahm er anschließend die Künstlerkolonie Worpswede und Westerwede in sich auf, wo er 1901 die Bildhauerin Clara Westhoff heiratete. Die 1902 geborene Tochter Ruth muß allerdings schon nach einem Jahr an die Großeltern Westhoff übergeben werden. Der Versuch, eine herkömmliche Ehe zu führen und in Westerwede, wo sich die Eheleute in einem Bauernhaus je nach ihren künstlerischen Bedürfnissen eingerichtet haben, seßhaft zu werden, ist gescheitert. Für Rilke kommt eben nur eine „Künstler“-Ehe in Frage in des Wortes sehr ernster Bedeutung. Nur sie gewährleistet „das alte Reiseleben“, Rilkes eigentliche Lebensweise, in welcher er am besten das Bedürfnis der strikten Vereinzelung, wechselnde Gastfreundschaften und unverhoffte Möglichkeiten nutzen kann. Der Luxus der Unabhängigkeit ist für den oft mittellosen Dichter unentbehrlich. Zu haben ist er um 1900 fast nur noch in aristokratischen Kreisen. Und es ist eine der hervorstechenden Signaturen der Rilkeschen Existenz, daß sie immer wieder in den Genuß dieser splendid isolation kommen wird. So auch nach der Auflösung des Westerweder Haushalts, als ihn Prinz Emil von Schönaich-Carolath zum Aufenthalt auf Schloß Haseldorf in Holstein einlädt. Hier hat er „einen ganzen Sommer gesessen, allein in der Familienbibliothek (…), ich fühlte in allen Nerven die unmittelbare Nähe von Schicksalen, das Sichregen und Aufstehen von Gestalten, von denen nichts mich trennte als die alberne Unfähigkeit ältere Zeichen zu lesen und zu deuten.“ Dieser am 3. Mai 1904 an Lou gesandte Bericht enthält nichts weniger als die ersten Vorahnungen zu seinem Roman „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“,dessen dichterische Konzeption freilich erst in Paris allmählich Gestalt annehmen wird.

Dorthin reiste Rilke erstmals 1902 und blieb bis Ende Juni 1903. Zum Hauptort seiner mittleren Schaffensperiode wird Paris endgültig durch den Aufenthalt vorn 1906 bis 1910. Über die ersten Eindrücke schreibt er am 31. August1902 an Clara Rilke: „Mich ängstigen die vielen Hospitäler, die hier überall sind. Ich verstehe, warum sie bei Verlaine, bei Baudelaire und Mallarmi immerfort vorkommen (…) Man fühlt auf einmal, daß es in dieser weiten Stadt Heere von Kranken gibt, Armeen von Sterbenden, Völker von Toten.“ Jedem Leser des Malte-Romans kommt sofort dessen Anfang in den Sinn: „So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich wurde eher meinen, es stürbe sich hier. Ich bin ausgewesen. Ich habe gesehen: Hospitäler. Ich habe einen Menschen gesehen, welcher schwankte und umsank. Die Leute versammelten sich um ihn, das ersparte mir den Rest.“ Paris der Inbegriff kollektiven und individuellen Sterbens? Das wäre keine zukunftsweisende Perspektive. Im Brief an Lotte Hepner vom 8. November1915, in dem Rilke deutliche Kritik an der Gegenwart übt, sagt er auch, was seiner Meinung nach im „Malte“ steht, nämlich: „Wie ist es möglich zu leben, wenn doch die Elemente dieses Lebens uns völlig unfaßlich sind? Wenn wir immerfort im Lieben unzulänglich, im Entschließen unsicher und dem Tode gegenüber unfähig sind, wie ist es möglich dazusein? Ich bin nicht durchgekommen, in diesem unter der tiefsten inneren Verpflichtung geleisteten Buch, mein ganzes Staunen auszuschreiben, darüber, daß die Menschen seit Jahrtausenden mit Leben umgehen […] und dabei diesen ersten unmittelbarsten, ja genau genommen einzigen Aufgaben […] so neulinghaft ratlos, so zwischen Schrecken und Ausrede, so armsälig gegenüberstehen.“ Dies wird nur wahrnehmen, wer Rilkes Aufforderung, die „Aufzeichnungen“ „gegen den Strom“ (an Artur Hospelt am 11. Februar 1912) zu lesen, nachkommt. Dann wird Maltes Versuch in seinen „Aufzeichnungen“ offenkundig, sich mit der Krankheit, der Armut und dem Tod zu versöhnen. Frucht dieser Versöhnung aber wäre die ersehnte Garantie der eigenen Identität und Freiheit. Ein beispielloses Konzept innerhalb der Geschichte des modernen Romans! Vielleicht bedurfte es dazu eines Romans ohne die übliche „Geschichte“.

Die Arbeit an seinem einzigen Roman hatte sich fast über zehn Jahre hin erstreckt. Auch das ist charakteristisch für Rilkes Schaffensweise. Nahezu alle bedeutenden Werke – am heftigsten die späte Gipfelleistung der „Duineser Elegien“ – bereiten ihm langes Kopfzerbrechen. Zwischen der Drucklegung des „Malte“ (1910) und dem Erscheinen der „Duineser Elegien“ (1923) hat Rilke nur ein einziges Werk veröffentlicht: „Marien-Leben“ (1913). Hemmend wirkte vor allem das Scheitern zweier Frauenbeziehungen, die er im Blick auf die Vollendung des Elegienzyklus aufgenommen hatte: zur Pianistin Magda von Hattingberg, genannt „Benvenuta“, und zur Malerin Lou Albert-Lasard. Begonnen hatte er die Dichtung im Januar 1912 auf Schloß Duino an der Adriaküste bei Triest, wohin ihn seine wichtigste Mäzenin, die Fürstin Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe, eingeladen hatte. Erstmals begegnet war er ihr am 13. Dezember 1909. Die zwanzig Jahre ältere Fürstin sorgt auch für die Auflösung der illusionären Verbindung, als Rilke mit „Benvenuta“ am Ende einer Reise von Berlin über München nach Paris in Duino eintraf.

Nachhaltig gestört wurde die ersehnte Ruhe für die Arbeit an den Elegien durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Eine Einberufung zum Ausbildungsdienst in einer Infanterie-Kaserne in Wien-Hütteldorf konnten auch die Interventionen verschiedener Freunde nicht verhindern. Nach drei Wochen wurde der gesundheitlich labile Vierzigjährige jedoch Ende Januar 1916 ins Kriegsarchiv in der Stiftskaserne in Wien abkommandiert. In dieser sechsmonatigen Militärdienstzeit in Wien traf er auch mit Stefan Zweig zusammen, der im gleichen Archiv diese Art zivilen Ersatzdienstes leistete. Den Krieg selbst überlebte er zum größten Teil im wenig geliebten München, wo er auch noch das Ende der bayerischen Räterepublik erlebte, für die er Sympathien hegte. Als sich ihm jedoch die Gelegenheit zu einer Lesereise in die Schweiz bietet, verläßt Rilke am 11. Juni 1919, noch mit einem Paß der untergegangenen Donaumonarchie, München und Deutschland für immer. Sein 51 Jahre währendes Leben hatte er sowieso nur zu Teilen hier verbracht. Er war längst Europäer geworden mit kosmopolitischer Ausrichtung, wenn man an seine Aufenthalte in Rußland und die noch vor Kriegsausbruch unternommenen Reisen nach Ägypten und Algerien denkt. Seine letzten Lebensjahre in der Schweiz sind noch einmal, zumindest was den Wohnsitz betrifft, von einer jener glücklichen Schickungen begünstigt, die Rilkes Dichterexistenz prägten. Sein großbürgerlicher Mäzen aus Winterthur, Werner Reinhart, kaufte 1922 das alte Château de Muzot près Sierre und stellte es Rilke als dauernden Wohnsitz zur Verfügung. Bei der Einrichtung leistete Rilkes „Merline“, Baladine Klossowska, Hilfe, zusammen mit der hilfsbereitesten Freundin seiner letzten Lebensjahre Nanny Wunderly-Volkart. An diese schreibt er am 26. März 1923: „Ich möchte so gern ein paar freie Athemzüge thun; Muzot ist immer mehreines geworden, so eindeutig ,Zelle‘, ganz nach Maaß von Arbeit und Einsamkeit gemacht.“ Rilkes Arkadien? Er verbringt diese letzte Lebenszeit nur zum Teil in Muzot. Das alte Reiseleben geht auch jetzt weiter. Immer häufiger aber ist er gezwungen, die Sanatorien in Ragaz und Val-Mont bei Montreux aufzusuchen. Ende November diagnostizierte man hier seine Krankheit als eine seltene Form von unheilbarer Leukämie. Am 29. Dezember 1926 stirbt Rilke und wird am 2. Januar 1927 an der Kirche in Raron begraben, nach seinem testamentarischen Wunsch: „… Ich zöge es vor, auf dem hochgelegenen Kirchhof neben der alten Kirche zu Rarogue zur Erde gebracht zu sein. Seine Einfriedung gehört zu den ersten Plätzen, von denen aus ich Wind und Licht dieser Landschaft empfangen habe. Die von ihm selbst gedichtete Grabschrift könnte charakteristischer nicht sein:

Rose, oh reiner Widerspruch, Lust

Niemandes Schlaf zu sein unter soviel

Lidern

„Niemandes Sohn“ ist sich selber treugeblieben.

Werke: Rainer Maria Rilke, Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden, hrsg. von M. Engel/U. Fülleborn/H. Nalewski/A. Stahl, Frankfurt/M., Leipzig 1996. – Martin Heidegger, Gesamtausgabe, 1. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1914-1970, Bd. 5, Holzwege, Frankfurt/M. 1977. – Rudolf Kassner, Sämtliche Werke, hrsg. von E. Zinn/KI.E. Bohnenkamp, Bd.VII, Pfullingen 1984.

Briefausgaben, Kataloge: Rainer Maria Rilke/Lou Andreas-Salomé, Briefwechsel, hrsg. von Ernst Pfeiffer, Frankfurt/M. 1975. – Rainer Maria Rilke und Stefan Zweig in Briefen und Dokumenten, hrsg. von Donald A. Prater, Frankfurt/M. 1987. – Rainer Maria Rilke 1875-1975, Katalog Nr. 26, Marbach a.N. 1975.

Lit.: Stefan Schank: Rainer Maria Rilke, München 1998 (=dtv-portrait 31005). – Manfred Engel (Hrsg.), Rilke-Handbuch. Leben-Werk-Wirkung, Stuttgart/Weimar 2004. – Gertrud Höhler, Niemandes Sohn. Zur Poetologie Rainer Maria Rilkes, München 1979. – Käte Hamburger, Rilke. Eine Einführung, Stuttgart 1976. – Monika Czernin, Duino, Rilke und die Duineser Elegien, Wien 2004. – P. Demetz/J.W. Storck/H.D. Zimmermann (Hrsg.), Rilke – ein europäischer Dichter aus Prag, Würzburg 1998.