Biographie

Rössler, Richard

Herkunft: Baltikum (Estland, Lettland, Litauen)
* 14. November 1880 in Riga
† 23. Juni 1962 in Berlin

Richard Alexander Rössler (auch „Roessler“ oder „Rößler“) war ein Sohn des sudetendeutschen Geigers und Dirigenten Roman Rössler (1853-1889) aus dem nordböhmischen Ga­blonz. Verheiratet war der Vater mit der Baltendeutschen Anna Gertrud geb. Schweinfurth (1853-1927) aus Riga, einer Verwandten des Afrikaforschers Georg Schweinfurth (1836-1925). Richard Rössler wurde am 14. November 1880 im damals russischen Riga, der Haupstadt Lettlands, geboren.

Der Vater Roman war von 1877 bis 1883 Kapellmeister des in Riga stationierten Malojaroslaw’schen Regimentes. 1883 bis 1884 war er erster Geiger am Rigaer Stadttheater und danach Lehrer am russischen Lehrerseminar in Riga für Theorie, Violinspiel, Harmoniumspiel und Gesang. 1886 wurde er Militärkapellmeister des 15. Alexandrow’schen Dragoner-Regiments in Kalisz (Kalisch) im damals preußischen Posen (Großpolen), 1888 in Zyrardow (45 Kilometer südwestlich von Warschau) Chorleiter und Dirigent einer Zivilkapelle. Die Familie kehrte 1889 nach dem frühen Tod des Vaters aus Zyrardow nach Riga zurück. Die Mutter hatte Schwierigkeiten, ihre drei Kinder durchzubringen.

Von 1892 bis zum Abitur 1897 besuchte Richard Rössler die Stadt-Realschule in Riga. Seine erste musikalische Ausbildung erhielt er in der Rigaer „Schule der Tonkunst“ der Pianistin Amalie Berlin. Ab 1892 wurde er dort intensiv geschult. Sein Lehrer im Klavierspiel war Bror Möllersten. Er schloss dort am 31. Mai 1897 mit dem Diplom ab.

Von Oktober 1897 bis März 1901 studierte Rössler an der Königlichen Hochschule für Musik in Berlin Komposition bei Max Bruch (1838-1920) sowie Klavier bei Heinrich Barth (1847-1922) und Ernst Rudorff (1840-1916). 1900 erhielt er von der Mendelssohn-Gesellschaft, deren Vorsitzender Joseph Joachim (1831-1907) war, den Mendelssohn-Preis für Komposition. Noch im selben Jahr 1900 wurde er von Joachim an die Hochschule für Musik als Klavierlehrer verpflichtet. Am 3. November 1901 führte er im Schwarzhäupter Saal in seiner Heimatstadt Riga eigene Werke auf. 1904 wurde er Korrepetitor an der Berliner Hochschule und hatte dort bis zu zwanzig Unterrichtsstunden wöchentlich zu erteilen sowie bei den dramatischen Sologesangsstunden am Klavier zu begleiten. 1907 wurde er Theorielehrer. Von 1910 bis 1953 war Rössler Hauptfachlehrer für Klavier, ab 1918 mit dem Professorentitel. Bis 1933 und wieder seit 1945 war er Fachvertreter für Tasteninstrumente. „Oft fungierte er als Sprecher und Repräsentant der Klavierabteilung“ (Schenk). Als Georg Schünemann (1884-1945) von 1932 bis 1933 Direktor der Hochschule war, war Rössler sein Stellvertreter.

1929/30 war Rössler Prüfungsbeauftragter am Berggrün’schen Konservatorium in Kairo. 1932 war er als Juror deutscher Vertreter beim zweiten, 1937 (zusammen mit Wilhelm Backhaus und Alfred Hoehn) beim dritten Internationalen Chopin-Wett­bewerb in Warschau. Ferner gab er Kurse am Cieplik’schen Konservatorium in Beuthen (Schlesien).

Rössler heiratete am 3. Mai 1910 die aus Württemberg gebürtige Pianistin Dora Charlotte Mayer (geboren am 6. Mai 1887 in Möckmühl, gestorben am 3. Juni 1951 in Berlin), die Tochter des Bietigheimer Stadtpfarrers Eduard Mayer (1846-1923). Sie studierte in Berlin bei Ernst von Dohnányi (1877-1960) und, wie ihr Mann, bei Max Bruch. Das Ehepaar hatte drei Kinder.

Als Pianist war der Verehrer der Musik von Robert Schumann und Johannes Brahms besonders als Bach-Interpret bekannt. Er trug vom 20. Dezember 1934 bis zum 31. Januar 1935 an drei Klavierabenden das gesamte Wohltemperierte Klavier von Johann Sebastian Bach auswendig vor. In Berliner Pressestimmen seiner Bachabende von 1929 und 1930 wurde er als eine „vornehme, abgeklärte, aller überflüssigen Äußerlichkeit abholde Persönlichkeit“ charakterisiert, und es wurden ihm neben „außerordentlichem Können“ und „vollendeter Technik“ eine „vorbildliche Klarheit und ein unbestechlicher Sinn für das Maß des Ausdrucks“ sowie „vorbildliche Einfachheit und Selbstverständlichkeit, die das Wesen der ganz großen Kunst sind“, bescheinigt. Neben seiner solistischen Tätigkeit trat Röss­ler auch mit namhaften zeitgenössischen Musikern auf. So konzertierte er über Jahrzehnte hinweg mit dem Geiger Karl Klingler (1879-1971), mit dem er auch freundschaftlich verbunden war. Zusammen mit seiner Frau Dora bildete er ein Klavierduo.

Eine Zeit lang war Rössler auch Vertretungsorganist an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche Berlin. In seinen Erinnerungen Unter dem Zimbelstern schreibt der Pianist Wilhelm Kempff (1895-1991) von einer Begegnung um 1906 mit dem dort an der Orgel improvisierenden Rössler. Kempffs Vater, ein Kantor, gab dem jungen Organisten das Prädikat „eines hervorragenden Orgelspielers“. Rössler antwortete: „Dies hier, das mache ich nur so nebenbei. Ich vertrete nur dann und wann [Heinrich] Reimann [1850-1906], den bedeutenden Or­ga­nisten dieser Kirche, um Max Reger, dem neuen Hexenmeister der Orgelkomposition auf seine Schliche zu kommen.“

Der fließend russisch und polnisch sprechende Rössler war bekannt als charmant, geistreich, witzig, humorvoll. Er „las Dostojewski im Original und spielte Kontrabass, Pauke, Schach und Skat mit gleicher Virtuosität“ (Schier-Tiessen). Der Naturliebhaber beschäftigte sich gern mit Vogelstimmen, die er auch kompositorisch verwertete. Er war völlig unpolitisch. Am 30. März 1940 erhielt er „als Anerkennung für 40jäh­rige treue Dienste das goldene Treudienst-Ehren­zeichen“. Beim Einmarsch der sowjetischen Truppen in Berlin 1945 konnte er in seiner Nachbarschaft manche Frauen vor dem Schlimmsten bewahren, indem er mit den Soldaten russisch sprach und ihnen auf dem Klavier vorspielte. Am 29. Juni 1953 erhielt er das „Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland“. Mit einem Schreiben des Direktors vom 25. April 1954 wurde an der Hochschule für Musik seines 50jährigen Dienstjubiläums gedacht. Er starb am 23. Juni 1962 in Berlin.

Als Komponist schrieb Rössler hauptsächlich Werke für Klavier, Klavierkammermusik, Orgel, Lieder und Chorwerke, sowie mehrere unveröffentlichte Orchesterwerke, darunter zwei Klavierkonzerte (1897 und 1911), eine „Serenade“ G-Dur (1901) und eine Symphonie As-Dur op. 17.

Stilistisch war der auf Melodik und Kontrapunktik besonderes Augenmerk legende Spätromantiker der musikästhetischen Tradition des Brahms-Joachim-Kreises verpflichtet: „ein vortrefflicher Kammermusikkomponist der Brahms´schen Richtung“ (Moser). Aber „es finden sich auch musikantische Anklänge an slawische Musik böhmischer wie polnischer Art“ (Scheunchen). Sein kompositorisches Werk entstand hauptsächlich bis 1920. „Später komponierte er fast nur noch Gelegenheitswerke für den kleineren Kreis“ (Scheunchen). Allerdings veröffentlichte er während der Kriegsjahre noch einmal eine bedeutende, seinem „im Felde stehenden Sohn Roman“ gewidmete Sonate für Violoncello und Klavier (1943).

Gedruckte Werke (Auswahl): (a) Vier kleine Klavierstücke, op. 23 (Leipzig/Berlin 1912, Julius Heinrich Zimmermann); Walzer für das Pianoforte (G-Dur; Es-Dur), op. 24 (Berlin 1912, Ries und Erler); Zwei Impromptus für das Pianoforte, op. 27 (Berlin o. J., Ries und Erler); Variationen a-moll über ein eigenes Thema für das Pianoforte, op. 30 (Berlin 1919, Ries und Erler). – (b) Sonate für zwei Klaviere zu 4 Händen, op. 22 (Berlin/Leipzig 1912, N. Simrock); Variationen As-Dur über das Volkslied „Ach, wie ist’s möglich dann“ für zwei Klaviere, op. 29 (Berlin 1920, Ries und Erler). – (c) Sonate G-Dur für Violine und Klavier, op. 20 (Berlin/New York 1910, Albert Stahl, G. Schirmer). – (d) Sonate A-Dur für Violoncello und Klavier (Berlin 1943, Ries und Erler). – (e) Trio As-Dur für Clavier, Violine und Violoncello (Berlin 1905, Ries und Erler). – (f) Sonate E-Dur für Flöte und Klavier, op. 15 (Leipzig/Berlin 1907, Julius Heinrich Zimmermann); Suite d-moll für Flöte und Klavier, op. 16 (Leipzig/Berlin 1907, J. H. Zimmermann; Nachdruck Frankfurt am Main 2011, Zimmermann, Vorwort von Alexander Rössler). – (g) Passacaglia g-moll für Orgel (Berlin 1908, Ries und Erler); Phantasie d-moll für Orgel (Leipzig 1908, Breitkopf und Härtel); Fantasie G-Dur für Orgel (Berlin o. J., Ries und Erler). – (h) Zwei Lieder (Das alte Lied; Flieder), op. 7 (Berlin 1901, Tessaro); Vier Lieder für eine Singstimme mit Clavier­beglei­tung, op. 18 (Berlin 1908, Ries und Erler). – (i) Vier geistliche Chöre (Klagelieder Jeremiae) für gemischten Chor, op. 26 (Berlin 1914, Bote und Bock).

Diskografie: (a) Malincolia. Werke für Violoncello und Klavier (Helmut Scheunchen, Violoncello; Günter Schmidt, Klavier). Darin von Rössler drei Stücke für Violoncello und Klavier. Cornetto-Verlag, Hummelgasse 4, 70378 Stuttgart, hrsg. vom Haus der Heimat des Landes Baden-Württemberg, 2003. – (b) Masterworks of Richard Rössler. Piano Chambermusic (Alexander Rössler, Klavier; Karin Adam, Violine; Othmar Müller, Violoncello): Trio As-Dur für Klavier, Violine und Violoncello (1905); Sonate G-Dur für Violine und Klavier, op. 20, 1910; Romanze B-Dur für Violine und Klavier, op. 2; Romanze Es-Dur für Violine und Klavier; Albumblättchen für kleine Tochter, G-Dur, 1927. Camerata (Tokyo), 2012, CMCD-28251. Im Booklet Einführung von Otto Biba. – (c) Masterworks of Richard Rössler. Flute and Piano (Wolfgang Breinschmid, Flöte; Alexander Rössler, Klavier): Sonate E-Dur für Flöte und Klavier, op. 15; Suite d-moll für Flöte und Klavier, op. 16. Ferner von Paul Juon: Sonate für Flöte in F-Dur, op. 78. Camerata (Tokyo), 2012, CMCD-28264. Im Booklet Einführung von John A. Philips. – (d) Masterworks of Richard Rössler (Erscheinungstermin Frühjahr 2013). Piano- and Pianochambermusic (Alexander Rössler, Klavier; Karin Adam, Violine; Othmar Müller, Violoncello): Trio für Jugendliche, 1928; Sonate A-Dur für Violoncello und Klavier, 1943; fünf Stücke für Violoncello und Klavier (Valse melancolique, 1928; Zwölf Variationen über ein volkstümliches Thema, 1940; Intermezzo, 1938; Romanze, 1935; Nocturno, 1944); Zwei Impromptus für das Pianoforte op. 27; Variationen über ein eigenes Thema für das Pianoforte op. 30, 1919. Camerata (Tokyo).

Lit.: Wilhelm Kempff, Unter dem Zimbelstern. Das Werden eines Musikers, Engelhornverlag Adolf Spemann, Stuttgart 1951, S. 51-53. – Hans Joachim Moser, Die Musik der deutschen Stämme, G. Wancura Verlag, Wien/Stuttgart 1957, S. 303f. – Anneliese Schier-Tiessen, Über die wahre Art das Klavier zu spielen. In memoriam Richard Rössler, in: Neue Zeitschrift für Musik, 123. Jahrgang, Mainz 1962, S. 402. – Dietmar Schenk, Die Hochschule für Musik zu Berlin. Preußens Konservatorium zwischen romantischem Klassizismus und Neuer Musik, 1869-1932/33 (Pallas Athene. Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Band 8), Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2004, S. 56. 131. – Helmut Scheunchen, Lexikon deutschbaltischer Musik, Verlag Harro v. Hirschheydt, D-30900 Wedemark-Elze 2002 [ISBN 3-7777-0730-9], S. 214-217. – Im Internet ein Wikipedia-Artikel über „Richard Rössler“ (6. Juni 2012).

Bild: Verlag Hans Dursthoff, Berlin, ohne Jahr.

Andreas Rössler