Biographie

Rosenstock-Huessy, Eugen

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Rechtshistoriker, Sprachphilosoph, Soziologe
* 6. Juli 1888 in Berlin
† 24. Februar 1973 in Four Wells, Vermont/USA

Rosenstock-Huessy ist in einem liberalen jüdischen Elternhaus aufgewachsen. Mit sechzehn Jahren ließ er sich auf eigenen Entschluß evangelisch taufen. Er studierte Rechtswissenschaft und Geschichte, promovierte 1910 und habilitierte sich 1912. Als der Krieg ausbrach, war er Privatdozent in Leipzig. Im gleichen Jahr heiratete er Margret Huessy, eine Schweizerin. Die Materialschlachten des Weltkrieges von Verdun veränderten sein Leben tief. Sein umfangreiches literarisches Werk – über 400 Titel – ist seither ganz dem Leben entsprungen. Fast alle Arbeiten gehen auf dialogisch bestimmte Anlässe zurück und sind bestimmten Personen namentlich zugeschrieben. Eugen Rosenstock-Huessy nannte das „datives Danken“. Nach dem Weltkrieg war er zunächst Redakteur der Werkzeitung bei Daimler-Benz in Stuttgart. Zusammen mit Hans und Rudolf Ehrenberg, Leo Weismantel, Karl Barth und Franz Rosenzweig gründete er in Würzburg den Patmos Verlag. 1921/22 war er Leiter der Akademie der Arbeit in Frankfurt a. M.

Von 1923 bis 1933 lehrte er in Breslau Rechtsgeschichte, bürgerliches Handels- und Arbeitsrecht. Ein bedeutender Teil seiner stark mündlich geprägten Wirksamkeit lag außerhalb der Universität. Er arbeitete im Hohenrodter Bund mit und richtete Arbeitslager für Arbeiter, Bauern und Studenten ein, in denen sich mehrere Mitglieder des später entstandenen Kreisauer Kreises kennenlernten, wie Helmut James Graf von Moltke, Peter Graf York von Wartenburg, Horst Einsiedel, Carl Dietrich von Trotha, Adolf Reichwein, Hans Peters. Walter Hammer hat Eugen Rosenstock-Huessy „Erzvater des Kreisauer Kreises“ genannt.

1933 wanderte er aus und wurde Bürger der Vereinigten Staaten. Er hatte die Schwäche der alten Institutionen Staat, Parteien, Kirchen und Universitäten schon 1919 erkannt und für einen der Erschütterung des Weltkrieges entsprechenden Wandel dieser Institutionen ohne Seitenblicke auf vordergründige und schnelle Erfolge gekämpft. Er lehrte ein Jahr lang an der Harvard University (Kuno Francke Professur for German Art and Culture). Auch in den Vereinigten Staaten geriet er mit der agnostischen Universität in Konflikt. Später war er Professor am Dartmouth College in Hanover/Vermont. 1940 berief ihn Präsident Roosevelt zur Ausbildung von Führungskräften für das Civil Conservation Corps (CCC). Er kam 1950 und später zu Gastvorträgen u. a. an die Universitäten Göttingen und Münster, in der Hoffnung, mit den historischen, soziologischen und sprachphilosophischen Ergebnissen seiner reichen und kompromißlos wahrhaftigen Lebensarbeit Gehör zu finden. Er starb am 24. Februar 1973 in Four Wells in Vermont. Sein Lebenswerk ist gleichzeitig bekannt und unbekannt. Viele Ergebnisse seiner Arbeiten sind noch kaum rezipiert worden. Sein Wirken für einen weltweiten Friedensdienst könnte heute für viele ein Zugang zu seinem Werk sein. „Aktion Sühnezeichen“ steht seinen Gedanken nahe. Seine historischen, soziologischen und sprachphilosophischen Arbeiten zielen auf die Einzigartigkeit und auf den Prozeßcharakter von Sprache, Zeit und Geschichte, drei Aspekte des gleichen Vorgangs, und auf die darin liegenden Chancen und Gefahren. Seine Darstellung ist aufrüttelnd und fordert zu Entscheidungen heraus. In den Niederlanden in Haarlem gibt es eine Wohn- und Lebensgemeinschaft „Eugen Rosenstock-Huessy Huis“. In Bielefeld ist 1963 die Eugen Rosenstock-Heussy Gesellschaft gegründet worden, deren erster Präsident Georg Müller war. Die Gesellschaft unterhält ein Archiv in Bethel bei Bielefeld. Der Nachlaß in den Vereinigten Staaten wird von Freya von Moltke, Konrad von Moltke und dem Sohn Eugen Rosenstock-Huessys Hans Huessy verwaltet.

In einem Aufsatz, der eine Absage an das quantitative Denken Descartes enthält, hat Eugen Rosenstock-Huessy einen Aspekt des neuen Denkens scharf herausgestellt: „Meine Generation hat die Vorkriegs-Dekadenz, das Gemetzel in den Weltkriegen, die Nachkriegs-Anarchie und die Revolutionen, d.h. Bürgerkriege, überlebt. Heute haben einem jeden, bevor er in dieser eng gewordenen Welt zu bewußtem Leben erwacht, Arbeitslosigkeit oder Luftangriff, Klassenrevolutionen, Lebensuntüchtigkeit oder Mangel an Oberschau sein Schicksal zugewürfelt und ihn für immer gestempelt. Täglich entgehen wir nur durch ein Wunder dem Tod in der Gesellschaft. Daher kümmert uns des Cartesius Metaphysik nicht mehr, die den Geist des Menschen über den physischen Tod in der Natur hinwegsetzt. Wir tappen nach einer sozialen Weisheit, die uns über die brutalen ,üblichen‘ Vernichtungsvorgänge der Gesellschaft und das ungeheuer Bedrohliche des sozialen Vulkans hinausführt“ (Das Geheimnis der Universität, S. 110/111). Leben und Werk sind in ihrer Übereinstimmung eine einzigartige Orientierungsmöglichkeit auf dem kleinen und enger gewordenen Planeten Erde.

Werke (in Auswahl): Herzogsgewalt und Friedensschutz, Deutsche Provinzialversammlungen des 9.-12. Jahrhunderts, Breslau 1910; Ostfalens Rechtsliteratur unter Friedrich II. Texte und Untersuchungen, Weimar 1912; Königshaus und Stämme in Deutschland zwischen 911 und 1250, Leipzig 1914, Aalen 1965; Die Hochzeit des Kriegs und der Revolution, Der Bücher vom Kreuzweg Erste Folge, Würzburg 1920; Werkstattaussiedlung, Untersuchungen über den Lebensraum des Industriearbeiters, Berlin 1922; Das Alter der Kirche, 3 Bände, Berlin 1927; Die europäischen Revolutionen, Volkscharaktere und Staatenbildung, Jena 1931, Moers 41987; Judentum und Christentum, zusammen mit Franz Rosenzweig. In: Franz Rosenzweig. Briefe. Unter Mitwirkung von Ernst Simon, ausgewählt und herausgegeben von Edith Rosenzweig, Berlin 1935, S. 637-720. Auch: Judaism despite Christianity. The „Letters on Christianity und Judaism“ between Eugen Rosenstock-Huessy und Franz Rosenzweig, New York 1969; Out of Revolution, Autobiography of Western Man, London 1939; Norwich/Vt 1969; Der Atem des Geistes, Frankfurt a. M. 1951; Heilkraft und Wahrheit, Konkordanz der politischen und der kosmischen Zeit, Stuttgart 1952; Der unbezahlbare Mensch, Berlin 1955; Des Christen Zukunft, Oder: Wir überholen die Moderne, München 1955, Moers 21985; Frankreich-Deutschland, Mythos oder Anrede, Berlin 1957; Soziologie, 2 Bände, Band 1: Die Übermacht der Räume, Stuttgart 21956, Band 2: Die Vollzahl der Zeiten, Stuttgart 1958; Das Geheimnis der Universität, Stuttgart 1958; Die Sprache des Menschengeschlechts, 2 Bände, Heidelberg 1963/ 1964; Dienst auf dem Planeten, Kurzweil und Langeweile im Dritten Jahrtausend, mit Dokumenten, Stuttgart 1965; Ja und Nein, Autobiographische Fragmente, Heidelberg 1968; I am an impure Thinker, Introduction by W. H. Auden, Norwich/Vt 1970; Speech and Reality, Norwich/Vt 1970; The Origin of Speech, Norwich/Vt 1981.