Biographie

Rothe, Karl

Herkunft: Ostpreußen, Westpreußen
Beruf: Rittergutsbesitzer
* 14. August 1891 in Culm
† 21. August 1944 in Königsberg

Es soll in diesem Beitrag an Vater und Sohn zugleich erinnert werden. Der äußere Anlass: Otto Rothe ist 2016 vor 160 Jahren geboren und vor 80 Jahren gestorben; sein Sohn Karl Rothe vor 125 Jahren geboren. Der tiefere Grund, sie zusammen zu behandeln: Vater und Sohn waren die Einzigen der Familie, die das im Osten der Provinz Ostpreußen gelegene Rittergut Tollmingkehmen besessen und bewirtschaftet haben. Kurz nach dem Tode von Karl Rothe musste die Familie mit allen Gutsarbeitern auf die Flucht gehen. Beide, Vater und Sohn, haben als Besitzer dieses Rittergutes mit dem Vorwerk Samonienen ganz Verschiedenes, aber beide Außerordentliches geleistet.

Zuerst nun zu Otto Rothe, geboren am 24. November 1856. Er war ein Mann von großer Vielseitigkeit und Tatkraft und ebenso schnell von Entschluss. Mehrmals änderte er seinen Berufs- und Lebensweg, machte plötzlich etwas ganz Anderes, verbunden mit Umzügen an eine andere, weit entfernte Wohnstätte, ehe er, fast schon 50 Jahre alt, in Tollmingkehmen, weit entlegen im östlichen Teil Ostpreußens, seine endgültige Wirkungsstätte und Erfüllung fand.

Er war nicht Ostpreuße von Geburt; er stammte aus der Magdeburger Börde. Sein Vater Albert (1812-1897) und sein Großvater Daniel Ludwig (1773-1823) nannten sich noch Rothé, denn dieser Daniel Ludwig war als Apotheker aus dem Elsass gekommen, stammte aber eigentlich aus Baden. Dessen Frau war eine geborene Tollin aus einer französischen Hugenottenfamilie.

Von weit größerer Bedeutung für Otto Rothe war aber seine Mutter Wilhelmine Schild (1817-1892), die Tochter eines Bauern aus der Börde. Sie war bäuerliches Urgestein, voller Tatkraft und einfallsreichem Mutterwitz. Ihr schlug der jüngste Sohn Otto nach, im Temperament, in Einfallsreichtum und Tatkraft. Seine Jungenstreiche brachten ihm im Dorf die Bezeichnung „dem Rothe sin Aas“ ein.

Hochbegabt, wurde er in Magdeburg aufs Gymnasium geschickt. Er wollte Jura studieren, aber dazu reichte das Geld nicht. So sollte er auf die sog. Pépinière (Pflanzschule) in Berlin gehen, auf der in einem verkürzten Studium künftige Militärärzte ausgebildet wurden. Er wurde angemeldet, aber nicht genommen. Da fuhr er selber hin, 18 Jahre alt, und erreichte, dass er doch angenommen wurde. Seine Ausbildung hat er auch später immer wieder vervollständigt. So fuhr er mit dem Fahrrad nach Paris, um französisch zu lernen.

Er bekam dann zunächst eine Stelle in Mainz und wurde von da 1881 an die preußische Kadettenanstalt in Culm in der Provinz Posen versetzt. Dort lernte er den Amtsrichter Kossack kennen, und als die Schwester von dessen Frau, Grete Zarniko (1865-1944) aus Goldap in Ostpreußen einmal zu Besuch kam, wurde aus ihnen bald ein Paar; sie heirateten 1885. Damals brauchte aber ein Militärarzt für seine Heirat die staatliche Genehmigung. Als er die nicht gleich erhielt, gab Otto Rothe die sichere Stelle in der Culmer Kadettenanstalt auf und ließ sich als praktischer Arzt nieder. Obwohl er die dafür erforderliche Vorbildung auf der Pépinière nicht erhalten hatte, baute er in kurzer Zeit eine gut gehende ausgebreitete Praxis auf. Bis zu 25 km weit musste er zu seinen Patienten fahren, kam oft erst um Mitternacht nach Hause. Da Katholiken zu einem evangelischen Arzt nicht kamen, waren seine Patienten hauptsächlich Juden. Von deren Lebensklugheit wusste er später viel zu erzählen.

Nach sieben Jahren, 1892, setzte sich sein Schwiegervater in Goldap, Rudolf Zarniko (1818-1896) zur Ruhe. Schnell entschlossen, gab Otto Rothe seinen Arztberuf in Culm auf und übernahm in Goldap die Mühle seines Schwiegervaters mit der dazu gehörigen Landwirtschaft von 600 Morgen. Er hatte von seiner Mutter auch die Liebe zur Landwirtschaft. Alles, was dazu gehört, lernte er in kurzer Zeit. Solche Umstellung schnell und erfolgreich zu bewältigen, zeichnete ihn sein Leben lang aus.

Aber die Zeit war für Landwirtschaft schwer, und 1899 brachten zwei Brände den Betrieb in große Not. Otto Rothe wandelte ihn in eine Aktiengesellschaft um. Bald darauf siedelte er, auch dem Wunsche seiner Frau folgend, nach Lichterfelde bei Berlin um. Er frischte seine medizinischen Kenntnisse auf, hörte Vorlesungen an der Berliner Universität und eröffnete wieder eine Arztpraxis.   .

Dann kam 1904 die entscheidende Wende. Der Bruder seiner Frau, Besitzer des Gutes Tollmingkehmen, starb ohne Erben. Dieses Gut war seit 1819 im Besitz der Familie Käswurm, Einwanderer aus Salzburg. Unter den erbberechtigten Verwandten waren nur Offiziere. Otto Rothe, unterstützt von dem früheren Besitzer Hans Käswurm, setzte sich mit seiner Ansicht durch, ein solcher Besitz dürfe nicht Küchengut eines Offiziers werden, der Besitzer müsse selber wirtschaften. So konnte er Tollmingkehmen 1904 übernehmen, obwohl seine Frau, die Konzert und Theater liebte, gerne in Lichterfelde geblieben wäre: Wieder stellte sich Otto Rothe schnell um, und jetzt erst, fast 50-jährig, konnte er seine Fähigkeiten voll entfalten. Mit Erfolg bewirtschaftete er das 1.500 Morgen große Gut. Seine besondere Liebe galt der Pferde- und der Viehzucht, die er neu begann, vor allem die Zucht edler Pferde. In der Eingangshalle des Gutshauses ließ er Goethes Spruch von 1776 als Fries malen: „Feiger Gedanken, bängliches Schwanken, weibisches Zagen, ängstliches Klagen, wendet kein Elend, macht dich nicht frei. // Allen Gewalten zum Trotz sich erhalten, nimmer sich beugen, kräftig sich zeigen, rufet die Arme der Götter herbei.“

Eine große Bewährungsprobe kam mit Ausbruch des Weltkrieges. Als die Russen in Ostpreußen eindrangen, blieb er in Toll­mingkehmen. Mit Mut und Ruhe bewältigte er gefährliche Situ­ationen. Nach der Schlacht bei Tannenberg wurden die russischen Truppen in Ostpreußen verstärkt. Zeitweise hielt er sich an verborgener Stelle in der nahen Rominter Heide auf. Dann wurde die Flucht unvermeidlich und angeordnet. Nichts tun konnte er in seinem ganzen Leben nicht. Er ging als Militärarzt zur Armee und begleitete eine Zeitlang Lazarettzüge von Rumänien nach Deutschland. Aber bald nach der Schlacht bei Insterburg kehrte er nach Tollmingkehmen zurück. Den Landarbeiterstreik 1920 mit manch gefährlicher Situation bewältigte er mit der klugen und unerschrockenen Hilfe seiner Frau.

In der schweren Zeit nach dem Krieg, als jeder mehr tun musste als früher, übernahm er viele Ehrenämter. Er wurde Mitglied in einem Ausschuss für die Reichsbahn, in der Bank der Ostpreußischen Landschaft, in der Landwirtschaftskammer. Und vor allem arbeitete er im Kreis Goldap mit, im Kreistag, im Kreisausschuss, im Finanzausschuss, als Vorsitzender des Aufsichtsrates der Kreisbank, im Vorstand der Kreissparkasse, im Kuratorium der Landwirtschaftlichen Winterschule. Er fehlte in keiner Sitzung, war ein glänzender und schlagfertiger Redner. Darüber gab es viele Anekdoten. Hier nur eine: als einmal im Kreistag eine Sondersteuer für Landbesitzer beantragt wurde, erbat er eine Unterbrechung der Sitzung, rechnete schnell durch, was das für ihn und Landbesitzer überhaupt be­deuten würde, und begann die wiedereröffnete Sitzung mit der Bemerkung: „So ist das, wenn ein Spatz ein Ei legen will so groß wie vom Vogel Strauß – dann platzt der A…“.

Der damalige Landrat des Kreises Goldap, Hans Berner, hat ihn in schwierigen Fragen oft konsultiert. Viel später schrieb er darüber: „Mit seinem unbestechlichen Gefühl für Rechtlichkeit und persönliche Sauberkeit, mit seinem scharfen Verstande und seiner großen Erfahrung in wirtschaftlichen Dingen hat Dr. Rothe mir namentlich in den schweren Jahren nach dem ersten Weltkrieg und in der Inflationszeit sowie in meinem Kampfe gegen ehrgeizige Widersacher im Kreise manchen weisen Rat gegeben. … Das Andenken an diesen vortrefflichen Mann ist unlöslich mit meiner Erinnerung an die elf Jahre verbunden, in welchen ich als Landrat den schönen Kreis Goldap verwalten durfte.“

Dann war seine Gesundheit aber doch angegriffen, das Herz nicht mehr stabil. Er folgte dem Rat seiner klugen Frau, gab Tollmingkehmen an seinen Sohn Karl ab, der schon das Nachbargut Samonienen bewirtschaftete, und zog Anfang 1936 wieder nach Lichterfelde in Berlin. Hier hatte er seine beiden Geschwister in der Nähe, dazu die großen Familien seiner Töchter. Er erlebte noch hoch erregt die Olympiade 1936 in Berlin mit dem Doppelsieg von Dressurpferden aus der Zucht seines Sohnes. Wenige Tage nach seinem 80. Geburtstag ist er am 2. Dezember, in ruhigem Gespräch mit einer Freundin still gestorben. Er wurde in Tollmingkehmen beigesetzt, wo sein Grab dank der Fürsorge seines Enkels, Wolfgang Rothe, auch heute noch von den neuen Bewohnern gepflegt wird.

Karl Rothe war geboren am 14. August 1891 in Culm, als jüngstes Kind nach zwei Schwestern. Seine Jugendjahre waren bewegt von dem unruhigen Leben seiner Eltern, des Vaters vor allem. Als er gerade ein Jahr alt war, zog die Familie von Culm nach Goldap an den östlichen Rand von Ostpreußen um, wo sein Vater die Mühle mit einem kleinen Gut seines Schwiegervaters Rudolf Zarniko übernahm. Acht Jahre lebte er hier, auf dem Lande. Dann gab sein Vater den Betrieb auf, und die Familie siedelte 1899 nach Lichterfelde bei Berlin um, das damals noch nicht zu Berlin gehörte, zwischen Feldern und Wiesen lag. Dort blieb sie aber auch nur vier Jahre. 1904 starb der Bruder seiner Mutter kinderlos, dem das alte Rittergut Tollmingkehmen im Kreise Goldap gehörte. Keiner der verwandten Erbberechtigten wollte selber dort wirtschaften, und so fiel Tollmingkehmen an Karl Rothes Mutter, deren Mann, Otto Rothe, Sohn einer Bauerstochter in der Magdeburger Börde, mit Begeisterung das Gut übernahm und erfolgreich bewirtschaftete. Nach den vier Jahren in Lichterfelde wurde Karl Rothe in Insterburg aufs Gymnasium gegeben, machte dort auch das Abitur.

In den Ferien, auch schon von Lichterfelde aus, war er immer in Tollmingkehmen, aber auch auf dem Nachbargut Samonienen. Beide Güter hatten ursprünglich als königliche Domäne zusammen gehört, waren 1819 von Johann Käswurm, Nachkommen eines Salzburger Einwanderers von 1732, ersteigert worden und erst 1879 getrennt an die Geschwister Bertha und Hans Käswurm vererbt worden, der selber nicht wirtschaften wollte und 1879 seine beiden älteren Schwestern zu Erben einsetzte. Beide wirtschafteten nicht selber, die eine, Marie, weil sie an den Goldaper Mühlenbesitzer Zarniko verheiratet war, die andere, Bertha, war blind. Der älteste Sohn von Marie, Hans Zarniko, übernahm aber Tollmingkehmen, und Bertha verpachtete Samonienen, lebte aber in Tollmingkehmen. Karl Rothes Mutter war die Schwester des Hans Zarniko, und als der 1904 kinderlos starb, konnte Karl Rothes Vater Tollmingkehmen übernehmen; und als 1908 auch die blinde Tante Bertha starb, übernahm er auch Samonienen. Beide Güter waren also wieder in einer Hand.

Wenn Karl Rothe in den Ferien in Tollmingkehmen war, hielt er sich den ganzen Tag auf den beiden Höfen und auf den Feldern auf; und abends berichtete er der blinden Tante genau, was er mit scharfem Blick beobachtet hatte, alles was gut ging, vor allem aber jeden Fehler oder Mangel. Dadurch gewann er ihre Zuneigung. Sie hatte schon bestimmt, Samonienen solle in der Familie bleiben, aber nur an jemand kommen, der auch selber wirtschaftete. Jetzt ließ sie wissen, dass sie sich Karl Rothe als Nachfolger wünschte.

Aber davor kamen noch Schule und Abitur in Insterburg, danach das Militärjahr bei den Ersten Dragonern in Tilsit, dann eine landwirtschaftliche Lehre im Kreis Darkehmen und in Sachsen, das Studium in Halle und Berlin und schließlich der Krieg. Er war von Anfang an Soldat an der Front, zuerst im Osten und in Rumänien, dann an der Westfront.

Nach dem Tode der blinden Tante hatte sein Vater Samonienen übernommen und verkaufte es nun, nach dem Krieg seinem Sohn, so dass Karl Rothe sogleich anfangen konnte, selbständig zu wirtschaften. Auch er war mit Leidenschaft Landwirt, ebenso aber Pferdezüchter. Sein Blick für gute, entwicklungsfähige Pferde und seine Trakehnerzucht waren im ganzen Lande berühmt, ebenso er selbst als Turnierreiter in allen drei Sportarten, Rennen, Springen und Dressur. Bei einem solch erfolgreichen Turnier in Insterburg errang er zwei Siege und wurde danach dem berühmten Gynäkologen Stoeckel vorgestellt, der aus Ostpreußen stammte und ein begeisterter Hippologe war. So lernte er auch dessen älteste Tochter kennen, die er ein Jahr später heiratete. Sie hatten acht Kinder.

Karl Rothe brachte die Wirtschaft in Samonienen über die besonders schweren Jahre vor 1930, vor allem durch seine Pferdezucht. Samoniener Pferde wurden überall gerne genommen; das war eine Ausnahme. 1936 gewannen zwei Pferde aus seiner Zucht, Kronos und Absinth Gold- und Silbermedaille in der großen Dressurprüfung bei den olympischen Spielen in Berlin. „Es wird wohl kaum wieder einem Pferdezüchter beschieden werden, dass die Gewinner der beiden ersten Medaillen in einer olympischen Prüfung, wo die ganze Welt konkurrierte, aus der eigenen Zucht hervorgegangen waren.“ (Heimatbrücke 24, 1971, Nr. 9).

Es kam der zweite Krieg. Karl Rothe war von Anfang an Soldat und wieder an der Front, in Polen, Frankreich und Russland. Ende 1942 wurde er reklamiert und „uk“ gestellt, vor allem, weil er zu Hause gebraucht wurde, aber auch, weil er schwer erkrankt war. Tief enttäuscht, vor allem durch das, was er in Russland erlebt und gesehen hatte, übernahm er zu Hause wieder die Bewirtschaftung von Samonienen und Tollmingkehmen. Er wusste, was kommen wird: „Wir werden ganz Ostpreußen verlieren“, sagte er. Obwohl immer mehr von der schweren Krankheit gezeichnet, begann er mit alter Tatkraft zu wirtschaften und, eine Lieblingsarbeit sein ganzes Leben lang, zu bauen. Er hat in jedem Jahr in Samonienen gebaut: Wohnhäuser für die Gutsarbeiter, Scheunen, andere Wirtschaftsgebäude. Aus ihm wäre auch ein einfallsreicher Architekt geworden. Jetzt gelang es ihm, Baugenehmigung und Material für den Bau eines neuen Kuhstalles zu erhalten – in der damaligen Zeit eine außergewöhnliche Leistung. Der Bau wurde noch fertig, mit allen Neuerungen, die es inzwischen gab.

Aber die Kräfte von Karl Rothe schwanden mehr und mehr. Im Juli 1944 musste er nach Königsberg in eine Klinik gebracht werden, dass ging nur noch mit Sondergenehmigung; Züge gingen nicht mehr. Mit einem langen Blick über seinen Hof nahm er Abschied. In Königsberg ist er am 21. August gestorben. Er konnte auf gleichem Wege sogleich zurückgebracht werden, und am 23. wurde er in Samonienen beerdigt, zwei Monate bevor alle fliehen mussten. Ein nicht endender Trauerzug folgte dem Sarg, hinter dem sein gesatteltes Lieblingspferd geführt wurde. Es war ein strahlender Spätsommertag. Am Himmel brummten schon russische Flugzeuge. Auch das Grab von Karl Rothe wird, durch die Fürsorge seines Enkels, bis heute von den neuen Bewohnern gepflegt.

Lit.: Über beide: Goldaper Heimatbrief Die Heimatbrücke der Kreisgemeinschaft Goldap, 24. Jahrgang 1971, Nr. 8 am 20. August. – Über Otto Rothe: Hans Berner (1921-1932 Landrat des Kreises Goldap) Ostpreußenblatt Georgine vom 1. Dezember 1956. – Über Karl Rothe: Liesel Rothe, Heimatbrücke, 24. Jahrgang Nr. 9 vom 20. September 1971.

Bild: Archiv des Autors.

Hans Rothe, 2017