Biographie

Rülke, Ernst

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Holzbildhauer
* 15. November 1896 in Leipzig
† 9. Februar 1964 in Bonn

Ernst Rülke wurde in Leipzig geboren, kehrte aber in die Heimatstadt seines Vaters, nach Hirschberg zurück. Vor dem Ersten Weltkrieg begann er eine Ausbildung als Holzbildhauer an der 1902 eröffneten Holzschnitzschule vor den Toren von Hirschberg, in Bad Warmbrunn, und setzte sie nach dem Kriege fort. 1926 legte er die Meisterprüfung ab und eröffnete in Hirschberg eine eigene Werkstatt. 1931 nahm er ein Studium für das künstlerische Lehrfach an der Gewerbe-Akademie in Berlin auf und schloß es 1933 mit dem Staatsexamen ab, das er mit Auszeichnung bestand. 1933 bis 1935 war er Gewerbeoberlehrer in Hirschberg, 1935 wurde er als Fachlehrer für Bildhauerei an die Warmbrunner Holzschnitzschule berufen.

Als der Leiter dieser Schule, Professor dell‘ Antonio, die Altersgrenze erreichte und eine öffentliche Ausschreibung der Stelle erfolgte, wurde Ernst Rülke aufgrund der fachlichen und pädagogischen Eignung vom zuständigen Ministerium in Berlin als Direktor bestimmt, jedoch vom NS-Kreisleiter abgelehnt, der einen anderen durchsetzte. Rülke bot man die Direktorenstelle der Fachschule in Hallein an, die er jedoch ablehnte. Er blieb in Bad Warmbrunn. Dem aus Oberammergau als Direktor berufenen Bildhauer Kurt Aschauer stand er jedoch loyal zur Seite und unterstützte dessen pädagogische Bemühungen und dessen Bestrebungen, Kriegsverletzte, die ihren erlernten Beruf nicht mehr ausführen konnten, zu Holzschnitzern und Bildhauern umzuschulen.

Als Kurt Aschauer, der an einer unheilbaren Krankheit litt, seinen Dienst nicht mehr versehen konnte, übernahm Ernst Rülke von September 1942 an die Vertretung und wurde nach der vorzeitigen Pensionierung Aschauers am 1. April 1944 Direktor der Warmbrunner Holzschnitzschule. Er rettete die Schule über den Zusammenbruch Deutschlands hinweg und leitete sie unter russischer Besatzung und ab 16. Juni 1945 im Auftrag der polnischen Verwaltungsbehörde weiter. Am 1. März 1946 jedoch mußte Ernst Rülke das Schulgebäude einem polnischen Beamten übergeben. Ihm wurde vom zuständigen Warschauer Ministerium befohlen, im neugegründeten"Polnischen Tischler- und Bildhauergymnasium" die Ausbildung polnischerBildhauerlehrer zu übernehmen. Aber noch ehe der Unterricht wieder aufgenommen werden konnte, wurde im Juni 1946 auch der letzte noch in Schlesien verbliebene deutsche Schüler ausgewiesen, und im November 1946 wurde Ernst Rülke mit seiner Frau und seiner betagten Mutter vertrieben.

Es verschlug ihn nach Bayern, und es gelang ihm, in Weiden in der Oberpfalz eine kleine Werkstatt zu eröffnen. Aber ihm lag daran, im Westen Deutschlands eine Nachfolgeinstitution der in seiner Konzeption und Ausrichtung einzigartigen Holzschnitzschule von Bad Warmbrunn, deren Aufbau, Blüte und Ende er so hautnah verfolgt hatte, zu errichten. Nach schwierigen Verhandlungen und vielem Antichambrieren erhielt er eine Anstellung als Gewerbeoberlehrer an der gewerblichen Berufsschule in Stuttgart mit der Möglichkeit, eine Kunsthandwerksklasse aufzubauen. Er fand Unterstützung durch den Leiter der Berufsschule, Dr. Bölz, und Dr. Kümmerle im Stuttgarter Oberschulamt, so daß Fritz Hampel, der 1917 bis 1921 Schüler der Bad Warmbrunner Holzschnitzschule gewesen war, als Gewerbelehrer nach Stuttgart berufen wurde. Seit 1954 führte die Bildhauerklasse als "Meisterschule für Holzbildhauer" die Tradition der Warmbrunner Holzschnitzschule fort.

Doch anders als in Bad Warmbrunn, am Fuße des Riesengebirges und nicht weit entfernt vom waldreichen Isergebirge gelegen, hatte die Bildhauerschule in Stuttgart kein natürliches Einzugsgebiet. Sie brachte es selten auf eine Zahl von über 16 Schülern. Das waren zuwenig im Vergleich zur Stuttgarter Meisterschule für Maler mit bis zu 200 Schülern und selbst zur Meisterschule für Schreiner mit bis zu 100 Schülern. Es gab Tendenzen, die Schule zu schließen oder zu verlegen, es gab Differenzen mit dem Bundesinnungsmeister über die Ausrichtung der Schule. Mitten in diesen Turbulenzen starb Ernst Rülke plötzlich.

Die Bildhauerschule wurde nach Freiburg im Breisgau verlegt. 1977 aber führte Professor K.-H. Türk, selbst Holzbildhauer und in Hirschberg geboren, das Werk Ernst Rülkes mit der Gründung der Freien Kunstschule in Nürtingen fort zusammen mit dem Ernst-Rülke-Kreis, der regelmäßig zu Bildhauersymposien einlädt und von der Holzbildhauerin Elsbeth Siebenbürger, die Schülerin von Ernst Rülke ist, geleitet wird.

Ernst Rülke war aber nicht nur engagierter Pädagoge und Schuldirektor, sondern zugleich profilierter Künstler. Es gab für ihn keinen Unterschied zwischen Kunst und Kunstgewerbe. Eine dekorative Aufgabe mußte mit der gleichen Ernsthaftigkeit und künstlerischen Qualität gelöst werden wie eine freie Arbeit.

Schon 1921 schuf er eine gegenstandslose Plastik, die nur die Strukturen des Holzes aufnimmt. Einen Höhepunkt erreichte diese Richtung aber erst in den 50er Jahren, alsMond über Eßlingen oder Mit Durchbruch entstanden. Sollte Gegenständliches dargestellt werden, etwa der hl. Franziskus, so besticht nicht nur die Komposition, sondern auch die Sensibilität des Ausdrucks oder, bei einer Statuette zu Gerhart HauptmannsSchluck und Jau, das Groteske der Haltung und Bewegung, die Gestik und die Ausarbeitung des Gesichts und der Haare.

Als Ernst Rülke 1934 den Auftrag bekam, die Schnitzarbeiten für das von Max Latzke renovierte Rathaus von Hirschberg zu schaffen, widmete er sich der Aufgabe mit Hingabe und nutzte sie zugleich als Aufgabe für seine Schüler. Es entstanden die Ehrentafel für die im Ersten Weltkrieg gefallenen Mitglieder der Stadtverwaltung Hirschberg, das Treppengeländer zum 2. Stockwerk, das Motive der Rübezahl-Sage zeigte und, als Hauptwerk, 26 schmale, hohe Relieftafeln, die die holzverkleideten Stützpfeiler des Ratssaals schmückten, von denen allerdings bis zum Kriegsende und der Vertreibung erst 13 fertiggestellt werden konnten. Ernst Rülke fertigte kaum handtellergroße Skizzen, schickte dann die Studenten in die Archive und Museen in Hirschberg, Breslau, Berlin und Wien, bis eine verläßliche Stadtgeschichte Hirschbergs von der Besiedlung bis zur Gegenwart in allen Details der Kleidung, der Waffen und Geräte erarbeitet war. Die Bildtafeln wurden im Maßstab 1:1 in Ton geformt und dann im gleichen Format 75 x 35 in Eichenholz geschnitzt. Rülke war bestrebt, bei äußerst zuverlässiger Wiedergabe der historischen Ereignisse jeder Tafel einen eigenen Charakter zu verleihen, so daß, wie er es bezeichnete, die Geschichte in "Sinnbildern" sichtbar würde.

Als am 6. Juni 1946 Gerhart Hauptmann in Agnetendorf starb war, rief man Ernst Rülke. Im Pferdewagen, denn Deutsche durften keine Autos benützen, und mit der weißen Armbinde, die jeder Deutsche tragen mußte, kam er im Haus Wiesenstein an. Er zeichnete den berühmten schlesischen Dichter und Nobelpreisträger auf dem Totenbett und nahm am nächsten Tag die Totenmaske und die Form der Hände ab. Die Zeichnung wurde zum Ausgangspunkt der bekannten Medaille von Gerhart Hauptmann. Im Nachlaß des Toten gelangte eine Kiste mit Entwürfen und Fotos von Arbeiten Ernst Rülkes, besonders der Schnitzereien für den Hirschberger Ratssaal, in den Westen und wird heute im Ernst-Rülke-Archiv in Esslingen gehütet.

Lit.: G. Grundmann: Die Warmbrunner Holzschnitzschule im Riesengebirge, München 1968. –  Elsbeth Siebenbürger: Eine schlesische Stadtgeschichte in Holz geschnitzt, in: Schlesien II, 1980 S. 113 ff. –  Elsbeth Siebenbürger: Gedenken an Ernst Rülke, Schlesien IV, 1984 S. 233 ff.

Das Manuskript zu einer Monographie über Ernst Rülke von Elsbeth Siebenbürger liegt druckfertig vor.

 

  Idis B. Hartmann