Biographie

Rüssow, Balthasar

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Herkunft: Baltikum (Estland, Lettland, Litauen)
Beruf: Pastor, Chronist
* 1. Januar 1535
† 25. November 1600 in Reval/Estland

Balthasar Rüssow, der evangelische Pastor der Revaler Heiliggeist-Gemeinde, starb als angesehener Mann. Aufgrund seiner dritten Ehe mit Anna Bade, einer Tochter aus einer begüterten Kaufmannsfamilie und Nichte des Revaler Bürgermeisters Heinrich von Lohn, war er in die Oberschicht der Stadt aufgestiegen. Seinen Ruhm indessen verdankt er der Tatsache, daß er seiner „leuen Landstadt“ mit einer umfangreichen Chronik ein Denkmal gesetzt hat: Rüssows Chronica der Prouintz Lyfflandt wurde zu einem „Bestseller ihrer Zeit“ (A. v. Taube). Ihre 1578 bei Anton Ferber in Rostock erschienene Erstauflage, die livländische Geschichte von der vorchristlichen „grüwliken düsternisse der affgöderye“ bis zum Jahr 1577 erzählt, war rasch vergriffen und ließ eine Neuauflage gewinnbringend erscheinen. Vermutlich ohne Autorisierung Rüssows erschien noch im selben Jahr bei Ferber eine nur geringfügig veränderteNye Lyfflendische Chronica, die ebenfalls schnell ausverkauft war. Erst in der dritten Auflage aus dem Jahre 1584, die von Rüssow bereits im Titel als zweite eigene Ausgabe ausdrücklich autorisiert wurde, findet sich eine umfangreiche Ergänzung, in der über die Geschicke Revals von 1577 bis 1583 berichtet wird. Somit umfaßt dieChronica die gesamte Zeit des Livländischen Kriegs (1558-1582/83) und ist von erheblichem Wert als landesgeschichtliche Quelle. Sie stellt die älteste überlieferte Revaler Stadtchronik dar und bietet eine detaillierte Schilderung des Schicksals der Stadt während der 25 Kriegsjahre, deren Augenzeuge der Pastor war. Sein Werk besticht des weiteren durch seine lebendige, zuweilen deftige Schilderung des livländischen Alltags im 16. Jahrhundert, in einer Sprache, der man den erfahrenen Prediger anmerkt.

Neben Rüssows herausragender Position in der städtischen Hierarchie galt sein meisterhaftes Mittelniederdeutsch der älteren Forschung als sicheres Indiz für die deutsche Herkunft des Pastoren. Theodor Schiemann erklärte ihn 1890 in derAllgemeinen Deutschen Biographie denn auch kurzerhand zum Kaufmannssohn. Allerdings hielten bereits zeitgenössische adlige Kritiker, denen die in der Chronica deutlich werdende Sympathie ihres Verfassers für die estnischen Bauern nicht behagte, letzterem vor, er stamme ja selbst von Esten ab. Diesen Spuren ging erst der Hamburger Mediävist Paul Johansen nach, der tatsächlich archivarische Hinweise auf Rüssows estnischen Vater ermitteln konnte. Damit wäre der soziale Aufstieg des Pastoren vom Fuhrmannssohn in die städtische Oberschicht wohl ein seltener Fall von vertikaler Mobilität im frühneuzeitlichen Reval, für den freilich eine weitgehende Assimilation in die deutsche Kultur Voraussetzung war. Letztlich wird es sich trotz Johansens beeindruckender Indizienkette nicht mehr mit absoluter Sicherheit beweisen lassen, daß Rüssow tatsächlich Sohn des um 1530 nach Reval gezogenen Fuhrmanns Simon Rissa (Ritze) gewesen ist; über seine Mutter konnte auch Johansen nichts in Erfahrung bringen. Begreiflicherweise machte die These von der estnischen Abkunft des Chronisten vor allem in Estland selbst Furore, wo Rüssow in den siebziger Jahren sogar zu literarischen Ehren kam: Der bekannte estnische Schriftsteller Jaan Kross machte ihn zum Helden eines umfangreichen historischen Romans, in dem der soziale Balanceakt der Assimilation in eine fremde Kultur unter Bewahrung der eigenen Wurzeln meisterhaft geschildert wird.

Das genaue Geburtsdatum Rüssows ist nicht überliefert. In seiner Chronica gibt der Pastor an, die Zeitläufe seiner Heimatstadt seit der Zeit des Ordensmeisters Hasenkamp (1535-1549) erlebt zu haben. Da auch Historiker sich in solch einem Fall auf ihre Phantasie und Intuition verlassen müssen, mag man es mit Jaan Kross halten, der sich aus naheliegenden Gründen für ein genaues Geburtsdatum entscheiden mußte. Kross zufolge ist Rüssow 1535 oder 1536 geboren; diese Wahl findet ihre Bestätigung in der neueren Forschung (H.v.z. Mühlen), bleibt aber Spekulation.

Auch über Rüssows Schulzeit in Reval ist nichts bekannt. Über gesicherte Angaben verfügen wir erst in bezug auf sein Studium am Stettiner Pädagogium. Dorthin hatte ihn Bartholomäus Frölinck, Konrektor der Revaler Stadtschule – damit möglicherweise ein Lehrer Rüssows – und späterer Pastor der St. Olai-Gemeinde, vermittelt. Frölinck war mit dem Rektor des 1543/44 gegründeten fürstlichen Pädagogiums zu Stettin, Magister Matthäus Wolff, bekannt. Im Pädagogium studierte Rüssow von Weihnachten 1558 bis Januar 1562 klassische Sprachen und Theologie. Da offensichtlich aufgrund des ausgebrochenen Livländischen Kriegs das Lehrgeld aus Reval das Pädagogium nicht erreichte, mußte er zu Beginn des Jahres 1562 Stettin verlassen, worüber Wolff in einem Brief nach Reval berichtete. Über Wittenberg und Bremen gelangte Rüssow 1563 wieder in seine Heimatstadt, wo inzwischen sein Vater gestorben war. Hier wurde er, trotz des nicht abgeschlossenen Studiums, im März oder im November 1563 zum Pastor an der St. Olaikirche ordiniert. Nach dem Tod Frölincks 1559 amtierte in der Olai-Gemeinde der Stadtsuperintendent Johannes Robertus von Geldern, dessen Protektion Rüssow wohl seine Berufung zum Hilfsprediger an der Heiliggeist-Kirche zu verdanken hatte. Im März 1566 finden wir Rüssow erstmals als Mitglied der Stadtpriesterschaft erwähnt. Von 1567 bis zu seinem Tode war Rüssow dann schließlich Hauptpastor der Heiliggeist-Gemeinde.

Vor dem Hintergrund seiner vermutlich estnischen Herkunft verdient es Erwähnung, daß die Heiliggeistkirche Zentrum der städtischen Esten war, die als Angehörige des Transportgewerbes für die Kaufmannsstadt von wesentlicher Bedeutung waren. Trotzdem verblieb Rüssow dem Rang und dem Gehalt nach stets unter den Pastoren der deutschen Gemeinden. Er konnte zwar durchaus Senior der Priesterschaft werden, nicht aber Superintendent. Auf der anderen Seite war das Heiliggeist-Pastorat ein frühes Zentrum estnischer Schriftkultur, da nach der Reformation von hier aus Bemühungen ausgingen, geistliche Schriften zu übersetzen, um sie den Esten zugänglich zu machen.

Aus dem darin zutage tretenden Verantwortungsgefühl eines Pastors der städtischen Esten heraus mag sich bei Rüssow auch die Idee entwickelt haben, eine livländische Chronik zu schreiben, in der nicht so sehr Könige und Bischöfe, sondern vielmehr die persönlichen Schicksale von Bauern und Stadtbewohnern im Mittelpunkt des Interesses stehen. In der dritten Auflage seiner Chronica offenbarte er in Reaktion auf seine Kritiker, die ihn offensichtlich ermahnt hatten, er als Geistlicher solle sich nicht um weltliche Angelegenheiten kümmern, etwas von seinem Selbstverständnis als Pastor. Seiner Ansicht nach bestehe die Aufgabe eines Predigers darin, „de Wunderdaden, Straffe vnde Gnade Gades“ nicht nur mündlich, sondern auch schriftlich „manck dem Volcke thouorkündigen.“ Und bei allem Lob, das heutige Historiker dem Chronisten aufgrund seiner faktischen Verläßlichkeit vor allem für die Zeit des Livländischen Kriegs zuteilen mögen, darf dies Selbstverständnis des lutherischen Geistlichen nicht übersehen werden. In seinem Weltbild war alle Geschichte Ausdruck göttlichen Willens, so daß die Katastrophe des Livländischen Kriegs als Strafgericht gesehen wird, das die Menschen zu Einkehr und Buße bekehren soll. Somit relativiert sich auch die oft geäußerte Meinung, Rüssow habe ein abschreckendes Rußlandbild vermitteln wollen, indem er die Kriegsgreuel „dem Muscowiter“ angelastet habe. Ethnisch motivierte Feindbilder sucht man in der Chronica jedoch vergebens. Auch Ivan IV. Groznyj (der „Schreckliche“) ist für Rüssow ein „Werkzeug Gottes“ wie jeder andere Sterbliche. Und unter dem Krieg litten vor allem die einfachen Leute, die sich gegen Verschleppung, Plünderung oder die Einberufung zu den Waffen nicht wehren konnten. Eine Lebensführung nach den christlichen Geboten sei immer noch die beste Garantie gegen Krieg und Unheil. Rüssows moralische Kritik konzentriert sich daher auf die, wie er meint, unchristliche Lebensweise des Adels vor dem Krieg, der es versäumt habe, seine Vorbildfunktion dem einfachen Volk gegenüber zu erfüllen. Und damit, so ist zu ergänzen, habe gerade der Adel nicht nur den göttlichen Zorn über Livland gebracht, sondern auch die Aufgabe der Pastoren sehr erschwert. Dieser Mahnung zur Einkehr und Buße verdanken wir die hinreißend geschilderten Szenen adliger Ausschweifung und bäuerlichen Aberglaubens, welche dieChronica noch heute zu einer reizvollen Lektüre machen.

Werke: Chronica Der Prouintz Lyfflandt […], Rostock 1578. – Nye Lyfflendische Chronica […], Rostock 1578. – Chronica der Prouintz Lyfflandt […], Bart 1584; Neuedition in: Sciptores rerum Livonicarum, Bd. 2, Riga, Leipzig 1848, S. 1-194; Fotomech. Nachdr., Hannover-Döhren 1967.

Lit.: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 30 (Theodor Schiemann). – William Urban: The Nationality of Balthasar Russow, in: Journal of Baltic Studies 12 (1981), S. 160-172. – Arved v. Taube: „Der Untergang der livländischen Selbständigkeit“: Die livländische Chronistik des 16. Jahrhunderts, in: Geschichte der deutschbaltischen Geschichtsschreibung, hrsg. v. Georg v. Rauch, Köln, Wien 1986, S. 21-41. – Paul Johansen: Balthasar Rüssow als Humanist und Geschichtsschreiber. Aus dem Nachlaß ergänzt und hrsg. v. Heinz von zur Mühlen, Köln, Weimar, Wien 1996. – Karsten Brüggemann: Russen in Livland: Überlegungen zum ‚Rußlandbild‘ Balthasar Rüssows anhand seiner „Chronica der Prouintz Lyfflandt“ (1584), in: Zwischen Lübeck und Novgorod. Wirtschaft, Politik und Kultur im Ostseeraum vom frühen Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, hrsg. v. Ortwin Pelc, Gertrud Pickhan, Lüneburg 1996, S. 249-268.

Roman: Jaan Kross, Kolme katku vahel (Zwischen drei Pestseuchen), Bd. 1-4, Tallinn 1969-1980; dt.: Das Leben des Balthasar Rüssow. Historischer Roman, Bd. 1-3, Berlin 1986; München 1995.