Eugen Sänger, Sohn eines Kaufmanns, besuchte die Grundschulen in Budaörs und Kelenföld in Ungarn, damals zum Habsburgerreich gehörend, und von 1916 bis 1923 die Bundes-Oberrealschule in Graz (Steiermark). Dann studierte er an den technischen Hochschulen Graz und Wien Bauingenieurwesen. Bestimmend für seine Berufswahl wurden der Roman „Auf zwei Planeten" von Kurd Laßwitz und Hermann Oberths Buch „Die Rakete zu den Planetenräumen". Nach Ablehnung eines Dissertationsentwurfs „Raketenflugtechnik" promovierte er am 5.7.1930 zum Doktor der technischen Wissenschaften über das Thema „Die Statik des vielholmig-parallelstegigen, ganz- und halbfreitragenden, mittelbar und unmittelbar belasteten Fachwerkflügels". Von 1930 bis 1935 Assistent am. Institut für Baustoffkunde der TH Wien, beschäftigte er sich daneben mit der Berechnung und Erprobung von Raketentriebwerken. Er führte erste erfolgreiche Versuche mit zwangslaufgekühlten Flüssigkeitsraketentriebwerken durch, wobei sein Endziel entsprechend dem Ideal der „Wiener" Schule Franz von Hoeffts und Guido von Pirquets die Entwicklung eines Raumflugzeugs war. Das Ergebnis seiner Untersuchungen veröffentlichte er 1933. Bei seinen praktischen Versuchen wies er nach, daß Raketentriebwerke Ausströmgeschwindigkeiten bis zu 3000 m/s erreichen konnten.
Da er in seiner Heimat keine Förderung seiner Forschungsarbeit erhalten konnte, ging Eugen Sänger nach Deutschland und setzte ab 1.2.1936 seine Arbeiten zunächst bei der DVL in Berlin-Adlershof und ab Februar 1937 bei der DFL in Braunschweig und Trauen (Lüneburger Heide) fort, wo er den Auftrag hatte, eine Versuchsstelle für Raketenflugtechnik zu entwerfen, und an der Entwicklung von Flüssigkeitsraketentriebwerken von 3 bzw. 100 t Schub arbeitete. Als an höherer Stelle entschieden wurde, diese Entwicklungen einzustellen, setzte er im September 1942 seine wissenschaftliche Tätigkeit bei der Deutschen Forschungsanstalt für Segelflug (DFS) in Ainring fort. Hier wurden Staustrahltriebwerke sein Forschungsschwerpunkt. Ab Ende 1945 widmete er sich in Frankreich am Arsénal de l’Astronautique, später bei der Firma Nord-Avion überwiegend Fragen der Entwicklung großer Staustrahltriebwerke. Im Herbst 1954 gelang es Eugen Sänger, mit Unterstützung der Gesellschaft für Weltraumforschung, in Stuttgart eine Forschungsbasis in der Form des „Forschungsinstituts für Physik der Strahlantriebe 44 (FPS) zu erhalten. An der TH Stuttgart erhielt er ab Wintersemester 1954/55 einen Lehrauftrag, 1957 wurde er zum Honorarprofessor ernannt. Das von ihm geleitete FPS beschäftigte sich u.a. mit der Entwicklung von Heißwasserraketen und Staustrahlantrieben für Hubschrauber sowie von chemischen Flüssigkeitsraketen, ferner mit theoretischen Arbeiten über Plasmaraketen, Photonenraketen, mit gaskinetischer Strömung und einschlägigen thermodynamischen Prozessen.
Am 1.3.1963 wurde Eugen Sänger zum ordentlichen Professor an der TU Berlin auf den ersten deutschen Lehrstuhl für Raumfahrttechnik (damals Lehrstuhl für Flugtechnik V genannt) berufen. In Berlin zu wirken war ihm lediglich ein Jahr vergönnt, da er plötzlich am 10.2.1964 in Ausübung seines Dienstes verstarb. Eugen Sänger kann als Vater der wiederverwendbaren Raumfahrzeuge angesehen werden, die in den achtziger Jahren zum Hauptträger der Raumtransporte avancieren. Er hat in erheblichem Maße die theoretischen Grundlagen für diese Systeme erarbeitet. Wir verdanken ihm auch wesentliche Beiträge zur Theorie und Entwicklung der Staustrahlantriebe und Heißwasserraketen. Schließlich ist er derjenige Forscher, dessen schöpferische Tätigkeit mit der Theorie der Photonenrakete die Möglichkeiten und Grenzen der fast lichtschnellen Raumfahrt aufgezeigt hat.
Eugen Sänger war von den dreißiger Jahren bis zu seinem frühen Tod die Speerspitze der Raumfahrttheorie und hat demonstriert, daß ein einzelner schöpferischer Forscher die Leitlinien der technischen Entwicklung der Raumfahrt aufzuzeichnen vermag. Wenn er auch oft der Ansicht war, daß seine Ideen schneller verwirklichbar sein müßten, als die tatsächliche Entwicklung dies bewerkstelligte, so ist das doch eher den Zeitumständen zuzuschreiben als ihm selbst.
Zeit seines Lebens war es ihm ein besonderes Anliegen, in den Fachgesellschaften einen Beitrag zur Verbreitung des Gedankens der Raumfahrt sowie zum Selbstverständnis der in dieser Disziplin tätigen Wissenschaftler zu leisten. So wurde er 1951 zum ersten Präsidenten der Internationalen Astronautischen Föderation gewählt, ein Amt, das er bis 1953 innehatte. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland war er Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Raketentechnik und Raumfahrt (DGRR) in der Zeit von 1956 bis 1963. Auch war er Gründungsmitglied der International Academy of Astronautics, Paris, einer Institution, für die er sich zusammen mit Prof. von Kármán sehr einsetzte.
Eugen Sänger war Ehrenmitglied zahlreicher astronautischer Gesellschaften in Deutschland, Großbritannien, Österreich, USA, Norwegen, Schweden, Schweiz, Argentinien und Italien. Er erhielt die Hermann-Oberth-Medaille der Gesellschaft für Weltraumforschung, das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst erster Klasse und das Bundesverdienstkreuz erster Klasse, ferner die Goldene Gagarin-Medaille der Assoziazione Internationale Uomo nelle Spazio. Er wurde zum Kommandeur des Ordens Mérite pour la Recherche et l‘Invention, Paris, ernannt. – Ihm zu Ehren stiftete die Deutsche Gesellschaft für Luft- und Raumfahrt die Eugen-Sänger-Medaille, die für Verdienste auf dem Gebiet der wiederverwendbaren Raumfahrzeuge vergeben wird. Zu den Ehrungen nach seinem Tode gehören ferner die Benennung eines Mondkraters (4° N, 102° O) nach Eugen Sänger (1970) und die Aufnahme in die International Space Hall of Farne in Alamogordo, New Mexico (1976).
Werke: Raketenflugtechnik. R. Oldenburg, München/Berlin 1933. – Das Buch erfuhr Übersetzungen in Englisch, Russisch, Japanisch. – Neuere Ergebnisse der Raketenflugtechnik. Flug 1934, Sonderheft l, S. 1–22. – Über einen Lorinantrieb für Strahljäger. Zentrale für wiss. Berichtswesen, Berlin-Adlershof, UM 3509 (1943) zusammen mit I. Bredt). – Über einen Raketenantrieb für Fernbomber. Zentrale für wiss. Berichtswesen, Berlin-Adlershof, UM 3538 (1944) (zusammen mit I. Bredt). – Theorie der Gemischaufbereitung in stationären Feuerungen (Manuskript 1948). Brennstoff-Chemie 32 (1951), S. 1–12, 33–50. – Gedanken zum Überschall-Weltluftverkehr. Weltluftfahrt l (1949). S. 167–168. – Gaskinetik sehr großer Flughöhen. Schweizer Arch. angew. Wiss. u. Techn. 16 (1950), S. 43–63. – Zur Theorie des stationären und pulsierenden Staustrahlantriebes. Schweizer Arch. angew. Wiss. u. Techn. 16 (1950), S. 341–352, 369–378. – Zur Soziologie des Forschers. Privatdruck, Köln 1950. – Z. VDI 94 (1952), S. 1040. – Was kostet die Weltraumfahrt? Weltraumfahrt 2 (1951), S. 49–55. – Zur Theorie der Photonenraketen. Ing.-Arch. 21 (1953), S. 213–226. – Stationäre Kernverbrennung in Raketen. Astronautica Acta l (1955), S. 61–88. – Heißwasserraketen als wirtschaftliche Starthilfen. Luftfahrttechn. l (1955), S. 71–72. – Gemeinsamkeit und Befriedung der Luftfahrt und Raumfahrt im 20. Jahrhundert. Weltraumfahrt 8 (1957), S. 1–6. – Zur Strahlungsphysik der Photonen-Strahlantriebe und Waffenstrahlen. Forschunginst. f. Physik der Strahlantriebe, Stuttgart, Mitt. 10 (1957). – Raumfahrt – technische Überwindung des Krieges. Außenpolitik 9 (1958), S. 206–220. – Rowohlts Deutsche Enzyklopädie, Band 59, Hamburg 1958. – Atomraketen für Raumfahrt. Astronautica Acta 6 (1960), S. 3–15. – Das Bild des Übermenschen in der modernen Technik. In: E. Benz (Herausgeber): Der Übermensch, S. 415–448. Rhein-Verlag, Zürich/Stuttgart 1961. – Raumfahrt – heute, morgen, übermorgen. Econ-Verlag, Düsseldorf 1963. – Memorandum zur Raumfahrt in der Bundesrepublik. Flugwelt 17 (1965). S. 390–394.
Lit.: H. Gartmann: Träumer, Forscher, Konstrukteure. 6. Kap., S. 192–222: Zwischen Luftfahrt und Raumfahrt (Eugen Sänger). Econ-Verlag, Düsseldorf 1955. – L. Bölkow: Eugen Sänger f. Jahrbuch 1964 der WGLR, S. 489–494. – I. Sänger-Bredt und R. Engel: The development of regeneratively cooled rocket engines in Austria and Germany from 1926 to 1936.Proc. First and Second History Symposia of the International Academy of Astronautics, 1967/68, S. 217–247.Smithsonian Institution Press, Washington, D. C., 1974. – I. Sänger-Bredt: Beiträge Eugen Sängers zur Entwicklung der Raumfahrttechnik. Deutsche Luft- und Raumfahrt, Mitt. 71–24 (1971), S. 74–98. – I. Sänger-Bredt: The Silverbird story. J. Brit. Interplan. Soc., Spaceffight 15 (1973), S. 166–181. – I. Sänger-Bredt und E. Schäfer: Beiträge Eugen Sängers zur Technik kosmischer Raketen. Beiträge zum XIII. Intern. Kongreß für Geschichte der Wissenschaften. Moskau 1971, Sektion XII, S. 162–187. Nauka, Moskau 1974. – K. W. Streit und J.W.R. Taylor: Geschichte der Luftfahrt. S. 426– 435: Das Staustrahltriebwerk. Sigloch Service Edition, Künzelsau 1975. – E. A. Steinhoff (Herausgeber): The Eagle has returned. S. 312–316.: Eugen Sänger – Biography.American Astronautical Society, Science and Technology Series, Vol. 45, San Diego 1977.
Quelle: Kurzbiographien aus der Luft- und Raumfahrt 1/82, mit freundlicher Genehmigung der DGLR (Deutsche Gesellschaft für Luft- und Raumfahrt e.V.) nachgedruckt.