Biographie

Sawatzky, Gerhard

Herkunft: Rußland (Wolga- u. Schwarzmeer)
Beruf: Schriftsteller
* 26. Dezember 1901 in Südukraine
† 1. Dezember 1944 in Lager Solikamsk/Sowjetunion

Im Arbeitslager Solikamsk, einem der zahlreichen stalinistischen Konzentrationslager für politische Gefangene, endete das Leben des rußlanddeutschen Schriftstellers Gerhard Sawatzky. Sein Leben und sein Werk sind wie das kaum eines anderen deutschstämmigen Autors der Sowjetunion vor dem Zweiten Weltkrieg, ja das eines Minderheitenschriftstellers dort überhaupt, typisch für die Entwicklung des Stalinismus mit allen seinen furchtbaren Folgen.

Gerhard Sawatzky entstammte einer schwarzmeerdeutschen Bauernfamilie aus der Südukraine, dem historischen Neurußland, das von Katharina der Großen den Türken entrissen und mit deutschen Bauern neu besiedelt worden war. Die Schwarzmeerdeutschen mit etwa 400000 Seelen bildeten mit den Wolgadeutschen, ungefähr gleich groß, die beiden größten Bevölkerungsgruppen der über fast das gesamte Riesengebiet der Sowjetunion siedelnden Deutschen. Seine Kindheit verbrachte Gerhard Sawatzky im Altai, in Westsibirien, wo im Zuge der Binnenwanderung sich neue deutsche Siedlungen, sogenannte Kolonien, gebildet hatten und wo heute nach dem demokratischen Umbruch wieder ein deutscher Bezirk mit dem Zentrum Halbstadt eingerichtet wurde. Einen zweiten, Assowo, gibt es inzwischen in Westsibirien, in der Nähe von Omsk. Sawatzky besuchte die Hochschule „Herzen“ in Leningrad, in der Nähe des Baltikums, wo der traditionelle Einfluß der Kultur der Baltendeutschen bis heute noch spürbar ist. Er wurde dann Lehrer an der Wolga, in der Wolgadeutschen Republik, so daß er in allen Hauptsiedlungsgebieten seines rußlanddeutschen Volkes gelebt hat.

Sawatzky wechselte aus dem Schuldienst in den Journalismus über – allein in der autonomen Republik der Wolgadeutschen erschienen damals 21 deutschsprachige Zeitungen – und wurde 1934 Mitglied des Schriftstellerverbandes der Sowjetunion, für professionelle Autoren während der gesamten Sowjetzeit eine fast unerläßliche Notwendigkeit, um sich behaupten zu können und gedruckt zu werden. Gerhard Sawatzky faßte aber seine Mitgliedschaft im Schriftstellerverband ideeller auf als viele andere, die nur auf persönliche, materielle Privilegien aus waren. Er versuchte mit anderen jungen rußlanddeutschen Autoren, eine eigenständige, selbstbewußte sowjetdeutsche Literatur zu schaffen. Er war Delegierter bei der l. Unionskonferenz sowjetdeutscher Schriftsteller und auch Mitglied des l. Unionskongresses der Sowjetschriftsteller, in dem sich die harte Linie des alten (inzwischen auch geistig vergreisten) Maxim Gorki durchsetzte und das dogmatische Prinzip des „sozialistischen Realismus“ zur Pflicht eines jeden Schreibenden der Sowjetunion erklärt wurde. Damit wurde die in den 20er Jahren noch blühende Vielfalt der Stile und Richtungen von einer Neuromantik, den Serapionsbrüdern, bis zu den Sprachexperimenten des ehemaligen Futuristen und dann revolutionär dichtenden Majakowski brutal beseitigt. Auch im geistig-künstlerischen Bereich setzte sich die nivellierende Gewalt der stalinistischen Gleichschaltung durch, nachdem sie 1928/29 die Zwangsindustrialisierung und 1930 die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft durchgepeitscht hatte. Majakowski, der „größte Dichter der Sowjetepoche“, hatte schon 1930 resigniert Selbstmord begangen, andere Autoren, wie Boris Pasternak, gingen gewissermaßen in die innere Emigration. Die Rußlanddeutschen hatten allerdings zunächst als hauptsächlich traditionelle Landbevölkerung mit einer realistisch direkten, mitunter auch vordergründigen Schreibweise anfänglich weniger unter der Verfolgung des „Formalismus“, derNiederhaltung der künstlerischen Vielfalt und Experimentierfreude zu leiden, da sie diese kaum kannten. Auch Sawatzky verstand sich von Haus aus als Realist, als Schilderer des Lebens der Rußlanddeutschen und vor allem als Chronist der Veränderungen dieses Lebens in der neuen Zeit, die vom Geist der sozialen Utopie eines mitunter schon fast naiven brüderlichen Zusammenlebens der Werktätigen aller Nationen geprägt war. Seine Lyrik, gesammelt in dem Band mit dem bezeichneten TitelRote Knospen, feiert jubilierend die neuen Errungenschaften der Arbeiterklasse und des ganzen „werktätigen Volkes“, wobei er sich sogar so weit versteigt zu behaupten, jetzt gäbe es endlich Feiertage auch für die Rußlanddeutschen, was besonders seltsam klingt, da deren Frömmigkeit und kirchliche Feiertagskultur sprichwörtlich war. In dem Poem Die Dürre gelingen Sawatzky aber neben dem oberflächlichen Optimismus einer sozialistischen Bewässerungseuphorie auch Verse von fesselnder Anschaulichkeit über die unendliche Weite und herbe Schönheit seines riesigen Landes. In der Erzählung Unter weißen Mördern schildert er packend Greueltaten der antibolschewistischen Armee des Admirals Koltschak in der Zeit des Bürgerkrieges, was durchaus realistisch ist. „Weiße“ und „Rote“ vergaben sich nichts, Gefangene wurden nicht gemacht, und bei Verdächtigen galt das umgekehrte Rechtsprinzip: im Zweifelsfalle immer gegen den Angeklagten. Dabei gab es neben den „Weißen“ und den „Roten“ auch noch die Grüne Anarchie des Bandenführers Machno sowie die traditionell schwarze Fahne der Anarchie. Mit Vertretern all dieser Richtungen sollte dann der durchaus loyale Sawatzky im stalinistischen Gulag verschwinden. Er nahm selbstverständlich, wie gewünscht, Partei, auch in den Erzählungen Das Partisanengrab und Der Sowjetstern.

Auch den Internationalismus faßte Sawatzky ideell und gleichzeitig auch tatkräftig auf, wurde Mitarbeiter der von Johannes Robert Becher, dem späteren Kulturminister der DDR, herausgegebenen deutschen Exilzeitschrift und war bestrebt, von den deutschen Emigranten zu lernen, besonders was die sprachlich-künstlerische Gestaltung anbelangte. Sein Hauptwerk ist der Roman Wir selbst, das er 1937 vollendet hatte und das schon 1938 gesetzt war, aber nicht mehr gedruckt werden durfte, weil sein Verfasser 1938 verhaftet und in den Archipel Gulag, in Stalins Zwangsarbeitslager, geschickt worden war.

Was war geschehen? Ein totaler Umbruch! Von der Politik der „Korenisazija“, der Verwurzelung der über 150 Völker der Sowjetunion in dem neuen Bundesstaat, über die Herausbildung nationaler Führungskräfte, war nun Stalin im „entwickelten Stalinismus“ dazu übergegangen, die Führungskräfte der Nationalitäten zu liquidieren. Die Rußlanddeutschen waren zuerst und am nachhaltigsten davon betroffen, da der Nationalsozialismus in Deutschland ein willkommener Anlaß war, undifferenziert mit den Rußlanddeutschen abzurechnen, sie pauschal zu verurteilen. Gerhard Sawatzky wurde im Zuge dieser generellen Repressionspolitik schon 1938, drei Jahre vor der Auflösung der Wolgadeutschen Republik und der Verbannung sämtlicher Rußlanddeutscher nach Sibirien und Kasachstan, verhaftet, in einem Schauprozeß unschuldig verurteilt und ins Arbeitskonzentrationslager gesteckt, in dem er mit vielen anderen politischen Häftlingen elend zugrunde ging – dreieinhalb Wochen vor seinem 43. Geburtstag, nach sechs Jahren schlimmer Haft.

Gerade mit seinem Roman Wir selbst, dessen Manuskript wie durch ein Wunder von seiner Lebensgefährtin unter Lebensgefahr gerettet wurde, hat sich Sawatzky für eine selbstbewußte, tatkräftige, autonome und mit den anderen Völkern gleichberechtigte rußlanddeutsche Nationalität eingesetzt, was gerade damals am wenigsten genehm war. Falls es überhaupt eine Möglichkeit gibt, seine Vorstellungen zu verwirklichen, so erst nach dem demokratischen Umbruch, in dessen Verlauf bisher immerhin zwei deutsche Bezirke in Westsibirien entstanden sind. Als Opfer seiner eigenen Utopie, des Verrats dieser Utopie durch den Stalinismus und den Totalitarismus und nicht zuletzt auch infolge fehlender Solidarität der deutschen Emigranten, Johannes R. Bechers, Walter Ulbrichts, Alfred Kurellas und anderer, die zur selben Zeit, als die deutsche Wolgarepublik vernichtet wurde, von Stalin hofiert wurden, weil er sie für seinen späteren Endsieg in Ost- und Ostmitteleuropa brauchte, mußte Gerhard Sawatzky sterben. Ein Beispiel mehr für die Gewalttätigkeit des menschenverachtenden Totalitarismus.