Biographie

Schaukal, Richard von

Herkunft: Sudeten (Böhmen u. Mähren, österr. Schlesien)
Beruf: Dichter, Ministerialbeamter
* 27. Mai 1874 in Brünn/Mähren
† 10. Oktober 1942 in Wien

Altersgenosse Hugo von Hofmannsthals, dem er 1924 zum 50. Geburtstag huldigte, und Karl Kraus‘, den er 1933 mit dem Versuch eines geistigen Bildnisses würdigte, wuchs der 1918 von Kaiser Karl wegen seiner Verdienste um Österreich geadelte mährische Kaufmannssohn Richard Schaukai in seiner innig geliebten, in späteren Jahren jedoch von ihm als seelenlos gewordene Industrie-Agglomeration geschmähten und gemiedenen Heimatstadt Brünn heran, wo er 1892 maturierte, just als der sechs Jahre jüngere Robert Musil dort die Realschule besuchte. Genuin gegensätzliche Naturen: dem nachmaligen, von Mathematik und Naturwissenschaften faszinierten Ingenieur Musil, dem kühlen Kritiker ‚Kakaniens‘, steht der technikfeindliche, leidenschaftlich kaisertreue k.k. Staatsbeamte Schaukai gegenüber, haben sie doch eine bedeutsame Trias gemeinsam: das prägende Kindheits- und Jugenderlebnis Mähren, den entsagungsvoll strengen Dienst an der Literatur und das Sterben in fast völliger Vergessenheit innerhalb des gleichen Kriegsjahres 1942.

Während aber Musil mittlerweile zu den herausragendsten deutschsprachigen Autoren unseres Jahrhunderts gerechnet wird, nimmt man Schaukai bestenfalls als einen der zahlreichen Vertreter des literarischen Jungen Wiens summarisch zur Kenntnis. Sein eigenständiges lyrisches Spätwerk und seine exquisiten Übertragungen aus dem Englischen (Shakespeares Sturm) und Französischen (Novellen von Mérimée, Lyrik der Symbolisten Mallarmé und Verlaine und des Parnassiens Hérédia sowie Prosa seines Zeitgenossen Georges Duhamel) harren noch der Wiederentdeckung. Nur seine produktive Auseinandersetzung mit dem heutzutage abermals modischen Typus des Dandys führte zu Neuauflagen seiner Übersetzung von Barbey d’Aurevillys Du dandysme et de G. Brummell und seines eigenen Beitrags zu diesem so überaus erfolgreichen englischen „Exportartikel“, der Skizzen- und Aphorismen-Sammlung Leben und Meinungen des Herrn Andreas von Balthesser, eines Dandy und Dilettanten. Sie erschien erstmals 1907 in dem jungen, nicht zuletzt wegen seiner ambitiösen Buchausstattung hochgeschätzten und auch von Schaukal bevorzugten Georg Müller-Verlag in München. Der Balthesser wurde mit sieben Auftagen zu Lebzeiten des Autors sein größter Erfolg – ein Bestsellerproduzent war er nie, konnte und wollte es auch nicht sein. Als der monokelbewehrte Schöngeist Andreas von B. in 830 in der Presse numerierten Exemplaren in die Welt trat, war sein Schöpfer bereits nach einem Jurastudium und Beamtentätigkeiten in Brünn und Mährisch-Weißkirchen seit vier Jahren als Verwaltungsjurist im Wiener Ministerratspräsidium beschäftigt. 1909 wurde er Präsidialchef im Ministerium für öffentliche Angelegenheiten. Gleich E. T. A. Hoffmann, den er edierte und über den er 1904 und 1923 Studien veröffentlichte, vereinigte er in sich einen Künstler und Juristen, und so war es nur natürlich und folgerecht, daß er sich als Kreisler redivivus fühlen mochte. Die Epistelsammlung Kapellmeister Kreisler. Dreizehn Vigilien aus einem Künstlerdasein (1906) bezeugt diese Wahlverwandtschaft mit der bedeutendsten Kunstfigur des Berliner Kammergerichtsrates.

Zu Marie von Ebner-Eschenbach und Ferdinand von Saar, den renommiertesten österreichischen Schriftstellern der vorangegangenen Generation, suchte er persönlichen Kontakt. Von den um 1800 Geborenen hat er Adalbert Stifter mehrfach essayistisch, einmal auch poetisch (1915 mit einem Sonett) seine Reverenz erwiesen. Noch höher als Grillparzer schätzte er eigenartigerweise, vielleicht aus neuromantischer Hinneigung zum Phantastischen, den liebenswerten Meister des Alt-Wiener Zaubermärchens, Ferdinand Raimund.

Nach dem Untergang der Monarchie zog sich R. v. Schaukal ganz in den Kreis seiner Familie und in sich selbst zurück. Auf eigenen Wunsch quittierte er Ende 1918 den Staatsdienst und wurde mit dem Titel eines Sektionschefs pensioniert. Eine ,brave new world‘, wie sie Miranda in Shakespeares von ihm so geliebten Tempest vorschwebte, vermochte er in dem amputierten Nachkriegs-Österreich nicht zu erblicken. Trost fand er in naturnahem Leben und in seiner immer mehr erstarkenden Religiosität. Gedichte zu schreiben hörte er nicht auf. Eines davon, aus der Sammlung Herbsthöhe (1933), Worte eines karg und wesentlich Gewordenen, stehe am Ende unserer Schattenbeschwörung:

SEPTEMBER
Herbstnebel hüllt die Höhen
und geistert um den Wald.
Vereinsamt starren Föhren.
Die Luft geht regenkalt.

Was sind im Wiesendunkel
für fahle Blumen erwacht?
Der Sommer ist versunken.
Es wird Nacht.

Werke: Werke in Einzelausgaben. 6 Bde. München/Wien 1965-67. – Leben und Meinungen des Herrn Andreas von Balthesser. Cotta’s Bibliothek der Moderne. Bd. 46. Stuttgart 1986. – Jules Amédée Barbey d’Aurevilly: Vom Dandytum und von G. Brummell. Ins Deutsche übertragen und eingeleitet von Richard von Schaukal. Greno 10/20. Nördlingen 1987.

Lit.: Nagl/Zeidler/Castle: Deutsch-österreichische Literaturgeschichte. Bd. 4. Wien 1937, S. 1827-33 (Beitrag von J. Cerny). – Ernst Alker: Geschichte der deutschen Literatur von Goethes Tod bis zur Gegenwart. Bd. 2. Stuttgart 1950, S. 380f., 444f. Dritte, veränd. u. verb. Aufl. unt. d. Tit.: Die deutsche Literatur im 19. Jahrhundert (1832-1914). Kröners Taschenausgabe. Bd. 399. Stuttgart 1969, S. 827f., 887.

Bild: Holzschnitt von Paul Renner. Aus dem Katalog des Georg Müller-Verlags 1903-1908.