Biographie

Schiemann, Paul

Herkunft: Baltikum (Estland, Lettland, Litauen)
Beruf: Schriftsteller, Journalist, Politiker
* 17. März 1876 in Mitau/Kurland
† 23. Juni 1944 in Riga

„Politik aber ist die Arbeit an dem Gedeihen des Raumes, in dem man lebt“, schrieb Schiemann zu einem Zeitpunkt, als ihn nicht nur Krankheit daran hinderte, die Politik seines Heimatlandes mitzugestalten. Denn im Jahre 1937 gab es in Lettland kein Parlament mehr, vor dessen Forum er als „Leader“ der deutschbaltischen Saeimafraktion seine großen politischen Leistungen erzielt hatte. Den lettischen Nationalismus aber übertraf noch der deutsche, der in diesen Jahren in die deutsche und europäische Volksgruppenbewegung hineinwirkte. Seit 1935 war Schiemann auch das internationale Forum verschlossen, so daß ihm nur der letzte verzweifelte Versuch einer „Gegengründung“ blieb. Ende der 30er Jahre geriet der aufrechte Demokrat dann vollends zwischen die Fronten: Für jemanden, der als Politiker und als Publizist engagiert gegen Bolschewismus und Nationalsozialismus gekämpft hatte, gab es keinerlei Wirkungsmöglichkeiten mehr. Schiemann nahm nach der Auslieferung der baltischen Staaten an die sowjetische Interessensphäre in den Abkommen zwischen Hitler und Stalin 1939 nicht teil an der „diktierten Option der Umsiedlung der Deutschbalten in das soeben dem nationalsozialistischen Machtbereich einverleibte Posen bzw. Westpreußen. Er durchlitt zwei weitere Okkupationen, bevor er 1944 – isoliert von den deutschen Machthabern – in Riga einer hartnäckigen Krankheit erlag.

Der Sohn eines Rechtsanwalts war bereits in seiner Jugend politischem Druck ausgewichen: dem der Russifizierung der deutschen Schulen, als er nach der in Mitau begonnenen Gymnasiastenzeit in Elberfeld sein Abitur bestand. Nach dem Studium an deutschen Universitäten wurde er 1902 in Greifswald zum Dr. jur. promoviert und im folgenden Jahr Schriftleiter an der Revalschen Zeitung. Bereits in diesen frühen estländischen Jahren entwickelte er jene Doppelbegabung, die seiner späteren Tätigkeit jene unverwechselbare Prägung geben sollte: In der modernen Literatur seiner Zeit ebenso engagiert wie in der Politik, war der kenntnisreiche Theaterkritiker und Journalist als Mitbegründer der Estländischen Konstitutionellen Partei und des Deutschen Vereins auch politisch tätig. 1907 wechselte er als Redakteur an die Rigasche Rundschau, erfuhr 1914 als „tragisches Geschick einer Minderheit“ die Notwendigkeit, seine Staatstreue als Offizier der russischen Armee beweisen zu müssen, und konnte sich am Ende des Krieges der Verhaftung durch die Bolschewiki nur durch die Flucht nach Deutschland entziehen. Dort aber wurde ihm wegen seiner Politik, die die Selbständigkeitsbestrebungen der baltischen Völker unterstützte und damit im Gegensatz zu jener der bislang führenden Ritterschaften stand, jede politische und publizistische Tätigkeit unmöglich gemacht.

1918/19 verfaßte Schiemann als Theaterkritiker und Feuilletonist in Berlin mehrere Schriften gegen die Gefahr des Bolschewismus, bis er im Sommer 1919 nach Riga zurückkehrte, wo er mit der Wiederbegründung der Deutschbaltischen Demokratischen Partei und der Übernahme der Hauptschriftleitung der Rigaschen Rundschau die beiden ausschlaggebenden Tätigkeitsfelder der nächsten Jahre en sollte: als Rigaer Stadtverordneter und in den folgenden Jahren als Mitglied aller lettländischen Parlamente – des Volksrats, der Konstituante sowie aller vier Saeimas. Seit 1922 führte er die deutsche Parlamentsfraktion, ab 1925 vertrat er die deutschen Minderheiten Europas im Vorstand der meist in Genf jährlich tagenden europäischen Nationalitätenkongresse. Das Jahr 1933 brachte aufgrund der auch im lettischen Deutschtum wirksam werdenden nationalsozialistischen Einflüsse sein Ausscheiden aus den wichtigsten Arbeitsfeldern – am 30. Juni wurde er aus der Redaktion der Rigaschen Rundschau verdrängt, und am 20. Oktober schied er aus der parlamentarischen Arbeit aus, nachdem er bereits während dervorangegangenen Saeima zeitweilig sein Mandat krankheitshalber hatte niederlegen müssen.

Die Bedeutung des Politikers Schiemann liegt zweifellos in der auch von seinen Gegnern anerkannten Fähigkeit der Sammlung fast aller deutschbaltischen Kräfte unter dem von ihm geprägten Motto der „nationalen und sozialen Solidarität“. Das frühe Bekenntnis zur Selbständigkeit der baltischen Staaten und zu deren parlamentarisch-demokratischen Grundlagen erleichterte ihm die Zusammenarbeit mit den verschiedenen politischen Richtungen. Was ihm mit der Zusammenfassung der Abgeordneten der deutschbaltischen Parteien zur geschlossen auftretenden Fraktion gelang, versuchte er auch mit der Bildung eines Minoritätenblocks in der Saeima. In seiner baltischen Heimat wie besonders auf der europäischen Ebene der Genfer Kongresse wurden seine Vorstöße in Richtung einer konsequenten Trennung national-kultureller Belange von den allgemein-staatlichen in seiner Theorie vom „anationalen Staat“ nicht von allen Betroffenen anerkannt; sie bestimmten aber die Theorie-Diskussionen dieser Jahre. Da er die Zugehörigkeit zum Volkstum als eine Angelegenheit des Individuums betrachtete, forderte er konsequent die Anwendung des Personalitätsprinzips bei der Organisation der Volksgruppen. Zusammen mit seinen beiden estländischen Landsleuten, dem Generalsekretär der Europäischen Nationalitätenkongresse, Ewald Ammende, und Werner Hasselblatt, dem Abgeordneten-Kollegen aus Reval und geistigen Vater der estländischen Kulturautonomie, gehörte Schiemann zu den führenden Nationalitätenpolitikern seiner Zeit. Bereits von Zeitgenossen wurde betont: „Reiche journalistische, politische wie schriftstellerische Erfahrungen mischen sich bei ihm mit staatsmännischem Blick und praktischer Kenntnis der Politik der Nachbarn Lettlands“ (Wertheimer). Über die Mehrschichtigkeit seiner Persönlichkeit ist später gesagt worden: „Überzeugter Demokrat aus alter Familie … Freigeist mit starken landsmannschaftlichen Bindungen, nationaler Patriot mit vornehmem Solidaritätsempfinden, scharfer und konsequenter Gegner des Nationalsozialismus, moderner Ideenpolitiker und zugleich Erbe einer sehr alten landständischen und landespolitischen Tradition, gehörte Schiemann zu den interessantesten Gestalten des im Massenzeitalter rasch sich wandelnden alten Europa“ (R. Wittram). Als Schiemann noch unter deutscher Okkupation in Riga starb, durfte am Grabe sein politisches Lebenswerk nicht gewürdigt werden. Zeitweilig hatten Nationalismus und Totalitarismus gesiegt gegenüber einer Minderheitenpolitik, die verankert war im Boden des Rechtes und der gegenseitigen Anerkennung unterschiedlicher Kultur- und Lebensformen. Ihre theoretische Begründung und die Ansätze zu ihrer praktischen Gestaltung in den ersten baltischen Republiken wurden auch in den folgenden Jahrzehnten, nun von den sowjetischen Machthabern, verleumdet oder verdrängt. Erst mit der neuen Unabhängigkeit kann nach fünf Jahrzehnten wieder angeknüpft werden an Lösungsversuche der Minderheitenfrage, die einst erfolgreich unternommen wurden. Das politische Werk Paul Schiemanns gehört zum geistigen Erbe deutschbaltischer Tätigkeit in den baltischen Staaten, das genutzt werden sollte beim Aufbau neuer Demokratien in Ostmitteleuropa.

Werke: Die Arbeiten des Estländischen Provinzialrats. Reval, Leipzig 1907. – Auf dem Wege zum neuen Drama. Reval 1912. – Die Kultur. Aufgaben der d-b Presse, Riga 1928. – Ein europäisches Problem. Unabhängige Betrachtungen zur Minderheitenfrage. Wien, Leipzig 1937. – Begegnungen vor dem Ersten Weltkrieg. Hg. von H. v. Rimscha. In: Balt. Hefte l (1954/55), H. l, S. 10- 17; H. 2, S. 18 -22. – Zwischen zwei Zeitaltern. Erinnerungen 1903 – 1919. Bearb. von H. Kause (Schr. der Carl-Schirren-Ges. 3). Lüneburg 1979. – Die Umsiedlung 1939 und die europ. Minderheitenpolitik. Bearb. von D. A. Loeber. ,In: Jb. d. balt. Deutschtums 21:1974 (1973), S. 99 -106. -Leitartikel. Reden. Aufsätze. 2 Bde. in 7 Heften, Pers. -, Orts- und Sachreg. Hg. von H. Donath. Frankfurt/M. 1980 – 1987.

Lit: Deutschbalt. Biogr. Lexikon. Hg. von W. Lenz. Köln, Wien 1970, S. 676. – F. Wertheimer: Von deutschen Parteien und Parteiführern im Ausland. Berlin 7/1930. – W. Wachtsmuth: Von deu. Arbeit in Lettland 1918 – 1934, Bd. l – 3, Köln 1951 – 53; bes. Bd. 3: Das polit. Gesicht d. deu. Volksgruppe in Lettland in d. parlamentar. Periode 1918 – 1934. – Ders.: Paul Schiemann – „Recht geht vor Macht“, in: Balt. Köpfe. Bovenden 1953, S. 153 – 165. – H. v. Rimscha: Paul Schiemann. In: Jahrb.. f. Gesch. Osteur. 2 (1954), S. 475-478. – W. v. Rüdiger: Aus dem letzten Kapitel d-b. Gesch. in Lettl. 1919 – 1939. 2. Teil. Hannover-Wülfel 1955. – H. v. Rimscha: Paul Schiemann als Minderheitenpolitiker. In: Vierteljahrsh. f. Zeitgesch. 4 (1956), S. 43-61. – Ders.: Die Politik Paul Schiemanns während der Begründung der Balt. Staaten im Herbst 1918. In: Zeitschr. f. Ostforschg. 5 (1956), S. 68 – 82. – M. Dörr: Paul Schiemanns Theorie vom „Anationalen Staat“. In: Gesch. in Wissensch. u. Unter. 8 (1957), S. 407 – 421. – D. A. Loeber: Paul Schiemann damals und heute. In: Jahrb. des : Deutschtums 21:1974 (1973), S. 107 -114. – H. Kause: Paul Schiemann, die Balten und ihre Zeitgesch. In: Jb. d. balt. Deu-tums 23:1976 (1975), S. 32 – 39. – M. Garleff: Deutsch-balt. Politik zw. den Weltkriegen (Quellen u. Studien z. balt. Gesch. 2), Bonn-Bad Godesberg 1976. – Ders.: Paul Schiemanns Minderheitentheorie als Beitragzur Lösung der Nationalitätenfrage. In: Zeitschr. f. Ostforschg. 25(1976), S. 632 -660. – Ders.: Nationalitätenpolitik zw. liberalem und völkischem Anspruch. Gleichklang und Spannung bei Paul Schiemann und Werner Hasselblatt. In: Reval und die baltischen Länder (FS H. Weiss). Marburg/Lahn 1980, S. 113 – 132. – H. Kause: „Esist eine Lust zu leben!“ Einige Beobachtungen zur Stellung Paul Schiemanns i. d. d-b Öffentlichkeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Ebd., S. 105 – 112. – H. Kause: Die Einstellung Paul Schiemanns zur d-b Politik vor 1914. In: Die balt. Provinzen Rußlands zw. den Revolutionen von 1905 und 1917 (Quellen u. Studien z. balt. Gesch. 4). Köln, Wien 1982, S. 155 – 172. – M. O. Balling: Von Reval bis Bukarest. 2 Bde. Kopenhagen 1991.