Biographie

Schirren, Carl Christian Gerhard

Herkunft: Baltikum (Estland, Lettland, Litauen)
Beruf: Historiker
* 8. November 1826 in Riga/Livland
† 11. Dezember 1910 in Kiel

Der in einem Pastorenhause geborene Carl Schirren besuchte in seiner Vaterstadt das Gymnasium und studierte von 1844 bis 1848 in Dorpat/Tartu Geschichte. Anschließend leitete er in Riga eine Privatschule, um dann als Oberlehrer nach Dorpat zurückzukehren, wo er bald auch Privatdozent und ab 1858 Universitätsprofessor war, zunächst für Geographie und Statistik, danach, von 1863 bis 1869, für Geschichte Rußlands. In der Zeit an der Dorpater Alma mater trat Schirren mit höchst beeindruckenden Leistungen hervor. Aufgrund von Archivarbeiten in Stockholm veröffentlichte er fünf Bände mit Quellen zur Geschichte des Untergangs livländischer Selbständigkeit, d.h. mit Zeugnissen aus den Jahren nach 1558, in denen die alte deutsch geprägte livländische Konföderation unterging und Liv- und Estland unter polnische und schwedische Herrschaft gelangten. Zwei weitere Quellenbände dokumentierten den die Rechte der Deutschen wahrenden Übergang Liv- und Estlands unter russische Herrschaft in der Zeit des Nordischen Krieges (1700–1721). Quellenkundliche Spezialuntersuchungen von Schirren galten Problemen des 13. Jahrhunderts. Zeitweilig war er auch Präsident der Gelehrten Estnischen Gesellschaft und Chefredakteur des konservativen „Dorpater Tageblatts“.

Mehr als mit dieser Zeitung hat Schirren durch Vorlesungen über die Geschichte Livlands, die er 1862 und 1866 hielt, auf die Öffentlichkeit gewirkt. In mitreißender Rede führte er Höhen und Tiefen der baltischen Geschichte und die Fähigkeit des von Rußland wesensverschiedenen Livland zu selbständiger Entwicklung vor Augen. Diese Vorlesungen bestärkten die Zuhörer in ihrem baltischen Patriotismus.

Noch tiefer hat Schirrens Buch „Livländische Antwort an Herrn Juri Samarin“, erschienen 1869, die Zeitgenossen und die Nachwelt beeinflußt. Dieses Buch stellte eine Erwiderung auf eine polemische Schrift des Slavophilen Samarin dar, der die Autonomie der Ostseeprovinzen zugunsten der Angleichung an Rußland beseitigt wissen wollte. Sprachgewaltig und mit scharfer Dialektik verteidigte Schirren das Recht Livlands auf den lutherischen Glauben, die deutsche Sprache, die Selbstverwaltung und die eigene Gerichtsbarkeit. Dies alles sei den Ostseeprovinzen Rußlands seit Peter dem Großen durch Privilegien verbürgt. Indem Schirren hier den Deutschbalten den hohen Wert ihres historischen Erbes vor Augen führte, trug er wesentlich zur Prägung ihres Selbstverständnisses bei. Allerdings wurden dabei die Russen als Volk abgewertet und die estnischen und lettischen Heimatgenossen der Deutschbalten marginalisiert. Auch konnte Schirrens Berufung auf die herkömmliche ständische Landesverfassung als politisches Programm auf die Dauer nicht genügen. Auf jeden Fall hat aber die „Livländische Antwort“ den Verteidigungskampf der Deutschbalten gegen die St. Petersburger Russifizierungspolitik enorm gestützt.

Die Veröffentlichung dieser Schrift hatte sofort zur Folge, daß Schirren seine Stelle an der Universität verlor und sich genötigt sah, mit seiner Familie nach Deutschland überzusiedeln. Mit einer Pension der Livländischen Ritterschaft konnte er hier Archivstudien treiben, bis er 1874 an die Universität Kiel berufen wurde, wo er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1907 das Fach Geschichte vertrat. Schirren wandte sich dort vorübergehend quellenkritischen Problemen der frühen Geschichte Holsteins zu und publizierte weitere Quellenbände zur baltischen Geschichte des 16. Jahrhunderts. Vor allem aber blieb er mit der Sammlung von Quellenmaterial über den Nordischen Krieg befaßt. Tragischerweise kam es nicht dazu, daß er die geplante Darstellung dieser Epoche des Umbruchs niederschrieb. Zu hohe Ansprüche an sich selbst, Bedenken hinsichtlich der Wirkung seiner Forschungsergebnisse und sein zunehmendes Alter gehörten zu den Bedingungen dafür. So verbindet sich sein Name für die Nachwelt mehr mit der „Livländischen Antwort“ als mit einem großen historischen Werk, obwohl Schirren als Herausgeber von Quellen und scharfsinniger Forscher für die baltische Geschichte sehr Bedeutendes geleistet hat.

Lit.: F. Rachfahl: Carl Schirren – eine Lebensskizze, in: C. Schirren: Zur Geschichte des Nordischen Krieges, Kiel 1913, S. 1–48. – R. Wittram: Carl Schirrens Livländische Antwort, in: ders.: Das Nationale als europäisches Problem, Göttingen 1954, S. 161–182. – I. Neander: Carl Schirren als Historiker, in: Geschichte der deutschbaltischen Geschichtsschreibung, hg. von G. von Rauch, Köln/Wien 1986, S. 175–202.

Bild: Neander: Carl Schirren als Historiker, wie oben, S. 208.

Norbert Angermann