Biographie

Schmidt, Julian

Herkunft: Westpreußen
Beruf: Kritiker, Literaturhistoriker
* 7. März 1818 in Marienwerder/Westpr.
† 27. März 1886 in Berlin

„In der deutschen Literatur wird sein Name, nicht allzuweit von dem Lessings entfernt, zu den unvergeßlichen gehören“, schrieb die damals führende Berliner „Nationalzeitung“ in ihrem Nachruf. Ähnlich respektvoll würdigten die sonstige Presse und zahlreiche Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens Wirken und Werk des Kritikers und Literarhistorikers Julian Schmidt aus Anlaß seines Todes am 27. März 1886. Hundert Jahre später kennt die „gebildete Welt“ von ihm allenfalls das Wort, das Gustav Freytag seinem Roman „Soll und Haben“ als Motto vorangestellt hat: „Der Roman soll das deutsche Volk da suchen, wo es in seiner Tüchtigkeit finden ist, nämlich bei der Arbeit“. Aus der Geschichte des deutschen Geisteslebens ist der große Ost-Westpreuße, zumindest für die Fachwelt, nicht mehr wegzudenken, auch wenn sein Rang und Einfluß literatur- und zeitungswissenschaftlich noch immer nicht gültig bestimmt worden ist.

Heinrich Aurel Julian Schmidt wurde am 7. März 1818 in Marienwerder als Sohn eines Rechnungsbeamten geboren, Nach Absolvierung des städtischen Gymnasiums studierte er in Königsberg Philosophie, Germanistik und Geschichte und schloß das Studium mit Promotion und Lehramtsdiplom ab. Das geistige Königsberg jener Zeit war ein Hort leidenschaftlich engagierter liberaler Strömungen, vor allem auch in der Studentenschaft. Der junge Schmidt war schon damals einer ihrer Stimmführer. 1842 nach Berlin übersiedelt und zunächst als Lehrer am Luisenstädtischen Gymnasium tätig, sah er sich in dem Bemühen um einen weltanschaulich und politisch festen Standpunkt als Grundlage für öffentliches Wirken mit den äußerst virulenten Auseinandersetzungen um die Hegelsche Geschichtsphilosophie und das literarisch-linksrevolutionäre „Junge Deutschland“ der Laube, Guzkow, Heine, Borne etc. konfrontiert. Frucht dieser Studien war sein erstes großes Werk, die zweibändige „Geschichte der Romantik in dem Zeitalter der Reformation und der Revolution“, die am Vorabend der März-Unruhen 1848 erschien und in der intellektuellen Welt großes Aufsehen machte. Grundzug dieses letztlich auch auf die Tagesereignisse bezogenen historisch-kritischen Werkes ist eine Absage an die Überfremdung des nationalen und realistischen Sinnes im geistigen und politischen Denken und Handeln durch bloße Spekulation und Phantastereien zugunsten einer freiheitlich offenen, aber im Kantischen Sinne sittlich gebundenen Lebenshaltung. Die Vorrede wurde in der Wochenschrift „Die Grenzboten“ abgedruckt, die 1841 von dem österreichischen Journalisten und Politiker Ignaz Kuranda in Brüssel gegründet worden war und seit einigen Jahren in Leipzig erschien. Schmidt wurde Mitarbeiter, Redakteur und noch im gleichen Jahre, zusammen mit dem schlesischen Autor und Dozenten Gustav Freytag, Miteigentümer und Herausgeber dieser Zeitschrift. Bisher großdeutsch-demokratisch orientiert, wurde der neue Kurs kleindeutsch-preußisch und gemäßigt liberal ausgerichtet. „Es wird, es darf kein Staat auf einer tabula rasa aufgebaut werden“, lautete die Losung der jungen Herausgeber.  Die „Grenzboten“  eroberten sich unter ihrer Leitung schon in den nächsten Jahren unter Hinzuziehung zahlreicher, damals gleichfalls junger und später hochberühmter Mitarbeiter alsbald eine führende Stellung im preußisch-deutschen Pressewald.

Um dem Handicap der Zensur der Restauration zu entgehen, wich Julian Schmidt weitgehend auf das literarische Feld aus, ermutigte und interessierte jedoch diedemokratischen Kräfte durch die Bestimmtheit und Gradlinigkeit seiner kritischen Haltung, die auch auf das politische Leben abfärbte. 1853 erschien als Extrakt dieser literarkritischen Arbeit seine „Geschichte der deutschen Nationalliteratur im 19. Jahrhundert“, die ein sensationeller Erfolg wurde, noch im gleichen Jahrzehnt mehrere Auflagen erlebte und in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Seine kritische Feder brach dem literarischen Realismus der Jeremias Gotthelf, Gustav Freytag, Otto Ludwig, Berthold Auerbach, Fritz Reuter u.a. Bahn. Den Anfang machte schon im nächsten Jahr Gustav Freytags Roman „Soll und Haben“, ein „Dauerbrenner“, der bis in unsere Zeit hin in breiten, gebildeten Schichten seinen Erfolg behauptet hat. „Bei uns“, so schrieb Schmidt in der Widmung seiner Literaturgeschichte an Freund Freytag, „hat sich die Idee festgesetzt, das Kennzeichen des Dichters sei die Krankheit, die ewige Verstimmung, die Selbstvergötterung, der Weltschmerz, aber ich war stets der Überzeuung, der Dichter unterscheide sich nur dadurch vom gewöhnlichen Menschen, daß er die Gegenstände lebhafter, reiner und idealer sehe“, daß er „Lust am Leben“ habe und einen „erhöhten Sinn für die Wirklichkeit entwickele“.

Mit dieser Tendenz stach Schmidt vor allem auch in das Wespennest der früh-sozialistischen Unruhen. Mit der Streitschrift „Herr Julian Schmidt, der Literarhistoriker“ machte der junge Ferdinand Lassalle Front gegen den „literarischen Schulze-Delitzsch“. Sie erlebte mehrere Auflagen, änderte aber nichts an der überragenden Stellung, die Schmidt in den nächsten Jahrzehnten in der literarischen Welt behaupten konnte. Trotz stärkster Inanspruchnahme durch die journalistische Tagesarbeit veröffentlichte er noch in den 50er Jahren eine zweibändige Geschichte der „Französischen Literatur seit der Revolution 1789“ und einen Abriß der Geschichte der englischen Literatur. 1861 wurde er Chefredakteur der von den gemäßigten demokratischen „Altliberalen“ gegründeten und zunächst großzügig ausgestatteten „Berliner Allgemeinen Zeitung“. Dieser Auftrag war Höhepunkt und zugleich Wendepunkt in seinem öffentlichen Wirken. Redaktionsführung unter parteipolitischerGängelung war nicht Sache dieses geistig unabhängigen Kopfes, es gab Konflikte. Zwei Jahre später mußte die Zeitung aus finanziellen Gründen ihr Erscheinen einstellen. Seither lebte und wirkte Schmidt in Berlin als freier, hochangesehener Schriftsteller und Gelehrter. Politisch unterstützte er publizistisch die Deutschlandpolitik Bismarcks und war maßgeblich auch an der Gründung der Nationalliberalen Partei beteiligt, der er bis zu seinem Lebensende angehörte. Das Schwergewicht seiner Tätigkeit lag jedoch weiterhin auf literarischem und literarhistorischem Gebiet. 1862/63 war seine zweibändige „Geschichte des geistigen Lebens von Leibniz bis auf Lessings Tod“ erschienen. Es folgten Werke über Schiller, Herder und eine literarische „Porträt“-Reihe, Auswahlsammlungen aus seiner Tageskritik, die das gesamte literarische Feld in Deutschland und im angrenzenden Ausland im Blick hatte. In Berlin war er Mittelpunkt des „Donnerstagsklubs“, eines hervorragenden Ausstrahlungszentrums geistiger Ideen (Rothacker), dem namhafte, alsbald berühmte junge Gelehrte wie Wilhelm Dilthey, Hermann Grimm, Wilhelm Scherer und Heinrich von Treitschke angehörten.

Sein Hauptanliegen war die Ausgestaltung seiner deutschen Literaturgeschichte zu einem wissenschaftlichen Werk, in dem die Spuren der allzu subjektiven Tageskritik zugunsten einer sachlich ausgerichteten historischen Schau getilgt werden sollten. Dieses großangelegte Werk konnte er jedoch nicht mehr vollenden. Am 26. März 1886 starb er unerwartet an Lungenschlag, mit der Feder in der Hand, bei der Abfassung einer Monographie über Leopold von Ranke, der ihm wenig später im Tode nachfolgte. Zwei der auf fünf Bände geplanten Literaturgeschichte „letzter Hand“ waren am gleichen Tag erschienen. Vollständig lag das Werk, dessen Abschluß der Fürsorge seiner Witwe Elisabeth Schmidt und der Mithilfe von Wilhelm Scherer und Erich Schmidt zu danken ist, erst im Jahre 1896 vor. Es fand eine Verbreitung wie kein anderes wissenschaftliches Werk dieser Art.