Biographie

Schon, Jenny

Herkunft: Sudeten (Böhmen u. Mähren, österr. Schlesien)
Beruf: Schriftstellerin
* 16. Dezember 1942 in Trautenau

Jenny Schon ist Schriftstellerin. Eines ihrer mit Verve hingelegten Werke, das ihr großartig gelang und in dem sich auch ihre komplexe Persönlichkeit eindrucksvoll spiegelt, ist ihr Roman Der Graben. Erzählt wird darin von der jahrzehntelang verdrängten und nur nach und nach wiederentdeckten böhmischen Herkunft einer ihrer Vitalität wegen bewundernswerten Frau und von ihrem Bedürfnis, als Mensch unter Menschen den Graben wieder zuzuschütten, der zwischen den Völkern gewaltsam gezogen worden war. Den Anfang des Romans bildet die Erzählung von einem noch unbestimmten, wirren Ahnen, dass da unter der Decke des gegenwärtigen unbeschwerten Lebens eine irritierende Vergangenheit liegen müsse. Was folgt? „Je tiefer mein Spaziergang in die Vergangenheit der Erinnerung führt, um so mehr verfliegen die Staubpartikel, die den Weg unkenntlich gemacht haben“.

Jenny Schon widerstrebt es, über das unmittelbar Erfahrbare und Nachvollziehbare hinaus den Mitmenschen mit moralisierenden Kommentaren vorzugeben, was sie sich dabei denken sollen. Sie erzählt anschaulich, Dialoge gibt sie in direkter Rede wieder, Fahrten, Häuser und Land, Ängste, Träume und innere Vorgänge beschreibt sie so, dass der Eindruck einer objektiv ausgerichteten Authentizität weitestgehend gewahrt bleibt. Ihre Ausdrucksfähigkeit dabei ist beachtlich.

Diese Variante von Realismus, der ihrem Erzählstil eigen ist, hat schon einige Male zu einer irrigen Vermutung Anlass gegeben, nämlich dass ihre Romane, einem bloßen Mitteilungsbedürfnis folgend, autobiographisch gemeint seien. Die Frau im Roman ist nicht schlichtweg identisch mit der Autorin, sondern sie ist eine die Botschaft des Romans anschaulich transportierende eigenständige Figur. Die Schriftstellerin beschränkt sich dabei streng nur auf die Authentizität des erzählten Details, im Übrigen nimmt sie sich selbst um des Wahrheitsgehalts des Ganzen willen zurück und gestaltet aus dem Material ein Kunstwerk. Ihr Streben nach innerer Wahrheit des Erzählten, ihr Bemühen um Authentizität der Darstellung und die große Anschaulichkeit ihres Stils konnten bei manchen Lesern, so lässt sich allenfalls vermuten, zu der Verwechslung der Romangestalt mit ihrer Schöpferin führen. Wer aber genauer zuhört, vernimmt die weit darüber hinaus gehende Absicht eines behutsamen Versuchs, allegorisch gesprochen: Brücken über den verfluchten Graben zu bauen.

Jenny Schon selber hat, wenn man sich den Verlauf ihres Lebens ansieht, schon einige mehr oder weniger spektakuläre Wendungen und Umbrüche erlebt. Als kleines Kind wurde sie, das sagt sich so leicht und wiegt doch unerhört schwer, an der Hand ihrer Mutter aus ihrer Geburtsheimat Böhmen ins völlig Ungewisse und nur mit Glück überhaupt Überstandene hinein vertrieben, zuerst nach Sachsen, dann ins Rheinland. Sie war zwar so klein, dass sie die am Anfang dieser Kette erfahrene unmenschliche Behandlung noch weniger verstehen konnte als die Erwachsenen, denen die bekannten skandalösen Ereignisse ja auch schon unverständlich waren, aber etwas von den Folgen des Vertriebenenschicksals bekam sie doch so nachdrücklich zu spüren, dass sich später um das Unverstandene herum ein Verletzungssyndrom entwickelte, das ärztliche Hilfe erforderlich machte. Natürlich reiste sie als junge Frau viel und gern. Aber auf einmal machte ihr der bloße Ortswechsel so schwer zu schaffen, dass man ihr den Rat gab, die Reise nach innen anzutreten. Da kam heraus, was vorher, in ihrer Kindheit, in sie unverschuldet hineingepresst worden war.

Großen Mut bewies Jenny Schon in ihrem 2011 veröffentlichten Werk PostelbergKindeskinder diese Posttraumatisierung zu schildern. Es begann, als sie nach der Wende recht naiv in ihrer Geburtsheimat über einen Strohmann ein Haus kaufte. Deutsche haben in Tschechien keinen Grund und Boden zu haben! Das sagen die dortigen Gesetze. Das begriff sie zu langsam, ihre Seele war da schneller. Sie streikte, wurde krank, untersagte jegliche Reisen, außer der Reise ins Innere, die ihr ihre Ärztin verordnet hatte.

Jenny Schon hat ein großes lyrisches Talent, das sich bereits zeigte, als sie noch zur Schule ging. Viele Themen hat sie lyrisch behandelt. Ihre ganze reiche Seele steckt in ihren Gedichten. Was nun insbesondere ihre Bemühungen um die Verständigung zwischen Deutschen und Tschechen betrifft, ist ihr Zyklus Böhmische Polka hervorzuheben, der auch ins Tschechische übersetzt vorliegt. Die Kraft dieser Texte weist auf ihre innere Nähe zu den literarischen Expressionisten, nicht nur in ihrer Bildsprache, sondern oft auch rhythmisch. Wie mit Hieben ist die Erfahrung dessen ausgedrückt, was in der beschönigenden Diktion „odsun“ genannt wurde: „Gegriffen – mich – weg“.

Von den Paradoxien, die sie in ihrem vom Heimatverlust unbewusst geprägten Leben erfahren hat, liest man jetzt in ihrem Gedicht- und Erzählband Rheinisches Rondeau die expressionistisch gedrängten Verse über „Sehnsucht“: „Ich bin angekommen/ Nachdem/ Die Geschichte der Väter/ Mich ins Rheinland trieb/Da/ War ich nie … /Es trieb fort mich/ Immer wieder/ Nach Arkadien…/ Heimat/ Hatte ich gehabt/ Im Kinderwagen… /Da/ Hab ich gelebt in einem anderen Leben.“ Anders ist ihr Ausdruck, wo sie die Elbe besingt oder das Riesengebirge oder die Liebe, und doch ist es überall ihr eigener Ton, ist es sie selber.

In der böhmischen Heimat ihrer Mutter geboren, gelangte Jenny Schon 1945 im Zuge der wilden Vertreibungen nach Brühl bei Köln, in die rheinische Heimat ihres Vaters. Engagement war ein sich früh bei ihr herausbildendes Verhaltensmuster. Der Drang, die Eingliederung in das eigentlich ihr zunächst vielfach fremde gesellschaftliche Umfeld zu finden, führte sie in verschiedene Richtungen. Die äußeren Verhältnisse, in denen sie aufwuchs, waren für ein aus der Fremde gekommenes Mädchen nicht gerade reizvoll. Es gab in Brühl die Martin-Luther-Schule, die sie gern besuchte, aber in der katholischen Nachbarschaft vermieden es die Eltern, ihre Kinder mit der Protestantin spielen zu lassen, die noch dazu eine Vertriebene war. Sie durchlief eine Ausbildung zur Steuerfachkraft in Köln, dort nahm sie die Gelegenheit wahr, die Bücherwelt für sich zu entdecken, so dass sie selber produktiv wurde.

Als die Mauer gebaut wurde, ließ sie die beruflichen Zukunftsaussichten im Rheinland hinter sich liegen und fuhr nach Berlin, um vor allem den im Westteil der Stadt Eingeschlossenen, aber in Grenzen auch den Eingesperrten im Osten beizustehen, auszuhelfen mit ihrer dringend benötigten Arbeitskraft einerseits und ihrer menschlichen Verständnisbereitschaft andererseits. Mitgenommen hatte sie bereits zwei fertige eigene Romane, die ihren wachsenden Ansprüchen aber nach einiger Zeit nicht mehr genügten, so dass sie sie verbrannte. Sie bildete sich neben der Berufstätigkeit schulisch und beruflich weiter, studierte, suchte ihren Platz in der damaligen Studentenbewegung, in der sie allerdings auch manche Desillusionierung und sogar böse Einengungen erfahren musste, gerade auch was ihre schriftstellerischen Träume betraf. Sie war inzwischen mit einer zweiten Berufsausbildung Buchhändlerin geworden und Gründungsmitglied einer eigenen Buchhandlung.

Die Fächer, die sie an der Freien Universität wählte, entsprachen ebenfalls ihrer Neigung zum Engagement. Das Bild, wie sich China anschickte, aus eigener Kraft emporzukommen, zog sie unwiderstehlich an. Sie studierte Sinologie, fuhr allen damals widrigen Umständen zum Trotz nach China, schrieb darüber und schloss mit dem Magisterexamen das Studium ab. Sie übernahm Lehraufträge. Ihr Wissensdurst und ihre Sehnsucht nach Neuem, Unbekannten, nach dem Sinn hinter dem Seienden ließ sie Philosophie und Kunstgeschichte studieren. Ihr Aufbaustudium brachte ihr auch die Geschichte Berlins näher, so dass sie eine hochkompetente und höchst anschaulich erklärende eigenständige Stadtführerin wurde und noch immer ist.

Nun wird sie siebzig Jahre alt. Was für ein Rückblick bietet sich da an: Wie ist es, verblassende Texte zu lesen und schweigend an ihnen vorbei zu gehen, vom HimmelsW, von erst vor kurzem entdeckten mittelalterlichen Waldhufenhöfen im Riesengebirge, vom Grabmal der heiligen Herzogin Hedwig in Trebnitz, oder jetzt eben erst in einem Gruß vom Ufer der Havel vor den Toren Berlins die Stelle: „weite kalte landschaft über wassern darin sich spiegelt eine ewigkeit von der ich nur einen winzigen teil kenne“, und kommentarlos zu schweigen und dabei eine Schriftstellerin beschreiben zu sollen. Es ist irgendwie absurd. Aber wahr.

Literarische Werke (Auswahl): Böhmische/Česká Polka, Ge­dich­te und Fotos, Titelfoto, deutsch-tschechisch, Geest Verlag, Vech­ta 2005. – Der Graben, Roman, verlag am park/edition ost, Berlin 2005. – Die Sammlerin, Roman, Titelfoto, trafo Verlag, Berlin 2009. – Wie Männer mich lehrten die Bombe zu halten und ich sie fallen ließ, Gedichte und Fotos, Titelfoto, Geest Verlag, Vechta 2009. – Postelberg­Kindes-kinder – Träume und Trauma, mit Joachim Süss, Odertor/Gerhard-Hess Verlag, Bad Schussenried, Erzählungen, Gedichte und Fotos, 2011. – Wo sich Gott und die Welt traf – Westberlin – Zum 50. Jahrestag – 13. August 1961 (Hrsg.); mehrere eigene Beiträge, Erzählungen, Gedichte, Geest Verlag, Vechta 2011. – Rheinisches Rondeau – Kindheit im Adenauer Deutschland, Gedichte, Erzählungen, trafo Verlag Berlin, 2012. – fussvolk – Gedichte für Freunde, Geest Verlag, Vechta Ende 2012.

Aufsätze, Kataloge, Periodika: Emil Schwantner, Ein starkes Temperament in stetem Kampfe um seine formale Bändigung, Katalog, tschechisch-deutsch, Städtische Galerie Trautenau/Trutnov 1996. – Gold geb ich für Eisen – Kriegerdenkmäler in Berlin, in: Berlinische Monatsschrift, November 1997. – Ein Haus und sein Genius. Zum 80. Todestag des Bildhauers Franz Metzner, in: Jahrbuch Heimat-Verein Berlin-Zehlendorf, 1999. – Ein fast vergessener Moderner (Franz Metzner), in: Berlinische Monatsschrift, Juli 1999. – Schallendes Gelächter im Aupa-Tal. Igo Etrich zum Gedenken, in: Stifter-Jahrbuch München 2000. – Dem Bildhauer Franz Metzner zum 80. Geburtstag im Jahre 1999, in: Jahrbuch Mies-Pilsen, 9/2000. – Seine Spuren werden gesichert – Dem Trautenauer Bildhauer Emil Schwantner zum 50. Geburtstag, in: Stifter Jahrbuch, München, 19/2005. – Bildwerke im öffentlichen Raum Ostböhmens – Auf den Spuren des akademischen Bildhauers Emil Schwantner, in: Friedhof und Denkmal, Sepulkralmuseum Kassel, 5/2008. – Franz Metzner in: Stifter Jahrbuch, 2010. – Dokumentation zu Emil Schwantners Bildwerke im öffentlichen Raum Ostböhmens, Museum Trautenau/Trutnov, erscheint 2012/13. – Franz Metzner in: Jahrbuch Leipzig, erscheint 2013.

Bild: Archiv des Verfassers.

Horst Schulze