Biographie

Schönherr, Albrecht

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Theologe
* 11. September 1911 in Katscher, Kr. Leobschütz/Oberschlesien
† 9. März 2009 in Potsdam

Wer Bischof Schönherr in Predigt und Gespräch erlebte, dem bleibt vor allem seine Besonnenheit und Nachdenklichkeit eindrücklich in Erinnerung. Schönherr war seit 1963 Generalsuperintendent in Eberswalde, von 1967 an zunächst Verwalter des Bischofsamtes für die Ostregion der Berlin-Brandenburgischen Kirche und von 1972 bis 1981 deren Bischof. Er wirkte von 1969 bis 1981 als Vorsitzender des Bundes evangelischer Kirchen in der DDR an der Nahtstelle zwischen Kirche und Politik in dem sicher schwierigsten kirchlichen Amt, das es damals in Deutschland gab. Mit seinem Namen ist seit 1971 die umstrittene Formel von der "Kirche im Sozialismus" verbunden (die aber von dem thüringischen Landesbischof Mitzenheim stammt). Während sein engster Mitarbeiter, der leitende Kirchenjurist Dr. Manfred Stolpe –  der derzeitige Ministerpräsident Brandenburgs –  durch seine enge Zusammenarbeit mit dem Staatssicherheitsdienst bis heute im Zwielicht steht, war Schönherr unstrittig ein Mann, der sein Leben und Wirken in den Dienst seiner Kirche und ihres Auftrags stellte.

Die Familie Schönherr stammt ursprünglich aus dem Erzgebirge. Viele der Vorfahren waren Lehrer. Vater und Großvater arbeiteten als Katasterbeamte. 1917 zog die Familie von Oberschlesien nach Neuruppin um. Im Jahr darauf fiel der Vater Albrecht Schönherrs als Hauptmann der Reserve in Frankreich. Seiner Mutter widmet Schönherr in seinem Lebensrückblick (dem sämtliche Zitate des vorliegenden Textes entnommen sind) ein warmherziges Kapitel und schreibt: "Meine Mutter war ein Beispiel dafür, welche Glaubenssubstanz damals noch… vorhanden war." Schönherr wuchs als Einzelkind "unter den Augen von fünf Lehrerinnen-Tanten und drei Lehrer-Onkeln auf". Da er die Quinta übersprang, absolvierte er das Abitur schon im Alter von 17 Jahren und legte  –  nach Studien in Tübingen und Berlin – als 22jähriger relativ früh seine Erste Theologische Prüfung ab (Oktober 1933). Sein Entschluß, Pfarrer zu werden, geht auf die Konfirmandenzeit zurück. Unter den prägenden theologischen Lehrern nennt er Karl Heim (in Tübingen), einen der herausragenden Forscher im Bereich von Christentum und moderner Naturwissenschaft, Wilhelm Lütgert und Hans Lietzmann in Berlin (den er in seiner Autobiographie als "bekannten Neutestamentler" bezeichnet, der aber ein international angesehener Historiker der alten Kirche war!).

Von entscheidendem Einfluß für Schönherrs ganzes Leben wurde die Begegnung mit Dietrich Bonhoeffer, zuerst in Berlin, später im Predigerseminar in Zingst und Finkenwalde (siehe die Würdigung Bonhoeffers in Ostdeutsche Gedenktage 1995, S. 95 f.). Das Predigerseminar war eine Einrichtung der Bekennenden Kirche (BK). Mitglied der BK war Schönherr seit Oktober 1934. Wer sich für diesen Weg entschied, bewies Mut und war bereit, im Blick auf seine berufliche Zukunft ein hohes Maß an Unsicherheit auf sich zu nehmen. 1936 kam es zu ersten ökumenischen Kontakten auf der Schwedenreise des Predigerseminars unter Leitung Bonhoeffers. Obwohl der BK Amtshandlungen verboten waren, legte Schönherr vor ihrem Prüfungsamt die Zweite theologische Prüfung ab und wurde im April 1936 durch den damaligen vom Dienst suspendierten Generalsuperintendenten der Kurmark, Otto Dibelius, den späteren Bischof, ordiniert. Kurz darauf heiratete er Hildegard Enterlein und wurde von Bonhoeffer getraut. Der Ehe entstammen sechs Kinder. Nach dem frühen Tode seiner Frau 1962 heiratete er die Pastorin Annemarie Schmidt.

Nach der Ordination wurde Schönherr als "illegaler" Pastor offiziell aus der altpreußischen Kirche entlassen. 1936/37 war er im Auftrage der BK als Seelsorger für Theologiestudenten an der Universität Greifswald tätig, bis es gelang, ihn auf einer Patronats-Pfarrstelle in Brüssow unterzubringen (zwischen Prenzlau und Stettin gelegen). Patronatsherr war der greise Generalfeldmarschall von Mackensen. Später schrieb Schönherr: "Meinem Patron von Mackensen verdanke ich viel. Wie mancher alte Soldat war er von schlichter Frömmigkeit." Nach jahrelangem Kriegsdienst, einer Verwundung in den letzten Kriegstagen in Italien, einem Jahr in amerikanischer und 14 Tagen in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, kehrte er im Mai 1946 nach Brüssow zurück. Im November 1946 wurde er Domdechant und Superintendent am Brandenburger Dom und leitete seit 1951 das dortige Predigerseminar.

Am 1. Januar 1963 übernahm Schönherr den neugeschaffenen Sprengel Eberswalde als Generalsuperintendent. Vier Jahre später wurde er zum Verwalter des Bischofsamtes der Ostregion der Berlin-Brandenburgischen Kirche gewählt. Seit dem Bau der Mauer am 13. August 1961 hatten die Bischöfe Dibelius, später Scharf ihr Amt im Osten nicht mehr ausüben können. Scharf wurde von der DDR "ausgesperrt". Dennoch gelang es, formal die Einheit der evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg zu wahren. Die SED hinderte Ratsmitglieder und Synodale, an Tagungen der Evangelischen Kirche in Deutschland teilzunehmen. Der Höhepunkt der Spannungen lag im Jahre 1967. Die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland tagte teils in Fürstenwalde, teils in Berlin-Spandau. Einen Ausweg bot 1969 die Gründung des (von der EKD gesonderten) Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR. Im September 1969 wählte die Konferenz der Kirchenleitungen Schönherr zum Vorsitzenden. Der bisherige Sekretär der Konferenz der Kirchenleitungen, Oberkonsistorialrat Stolpe, übernahm die Leitung des Sekretariats. Erst 1971 wurde Schönherr von den staatlichen Stellen der Umzug von Eberswalde nach Ostberlin gestattet. Im November 1972 wurde er zum Bischof der Ostregion der evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg gewählt. Auf vielen Auslandsreisen vertrat Schönherr seine Kirche in ökumenischer Mission. Rückblickend schreibt er, daß die Kontakte mit der Weltchristenheit dazu führten, "daß die DDR-Kirchen in uns beschämender Weise überschätzt wurden. Je negativer man das DDR-Regime beurteilte, desto heroischer erschien das Häuflein der Christen, das sich der ‚roten Flut‘ standhaft widersetzte".

Schönherr, der dem Weißenseer Arbeitskreis, der das Erbe der BK fortführte, und seit 1961 der Prager Christlichen Friedenskonferenz (CFK) angehörte, zog sich später aus diesen Gremien zurück. Als sich die DDR 1968 am Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei beteiligte, bedauerte die Kirchenleitung von Berlin-Brandenburg in einem Brief an tschechische Gemeinden den Einsatz militärischer Mittel für politische Zwecke, während der DDR-Regionalausschuß der Christlichen Friedenskonferenz den Einmarsch guthieß. Als der Gründer der Konferenz, der Prager Theologe Hromadka, im folgenden Jahr starb, stellte Schönherr seine Mitarbeit ein, "zumal ich in Berlin selber erlebte, wie der Staat die CFK auf massive Weise zu gängeln versuchte."

Nach Ausweis der Akten des Staatssicherheitsdienstes wurde Schönherr in seinem Verhältnis zur DDR als "negativ" bis "schwankend" beurteilt. Über Stolpe lesen wir in Schönherrs Memoiren: "Wie er seine Aufgaben bewältigte, wurde nicht gefragt. Ich sah auch keinen Grund dazu. Wenn er davon sprach, was die ‚Genossen‘ dachten oder wollten, konnte diese Erkenntnis auch ohne Vermittlung des MfS [Ministerium für Staatssicherheit] gewonnen worden sein. Ich habe niemals Grund gesehen, ihm zu mißtrauen." Einer seiner wichtigsten langjährigen Gesprächspartner, der DDR-Staatssekretär für Kirchenfragen, Seigewasser, wollte Schönherr manchmal "damit außer Fassung bringen, daß er mir Inhalte der Kirchenleitungssitzung vom Vortrag auftischte. Ich habe ihm den Gefallen nicht getan." Doch spricht der folgende Satz für sich: "Zu meiner Amtszeit haben wir das Ausmaß und die Zielsetzungen der Stasi zweifellos unterschätzt." Für Synoden wurden von der Staatssicherheit "minutiöse Strategien ausgearbeitet."Im Rückblick urteilt Schönherr: "Daß es auch Berichterstatter aus dem kirchlichen Raum gab, weiß ich konkret erst heute." Und das waren nicht wenige!

Daß Schönherr die politischen Entwicklungen der DDR kritisch einschätzte, zeigt die folgende Festellung: "Wir haben die Verfolgung der Jungen [Gemeinde] und der Studentengemeinden von 1952/53 nicht bloß aus der Literatur, sondern mit der Verlogenheit, der Brutalität und den außerordentlichen Haßgefühlen der Partei und ihres Jugendverbandes miterlebt. Wir wissen, wie man in den fünfziger und sechziger Jahren mit Leuten umgegangen ist, die gegen das Regime aufgemuckt haben…1988/89 stand die Volkspolizei mit Hunden und Schlagstöcken rings um die Kirchen, und sie hat zugeschlagen. Mit großer Mühe konnte im Oktober 1989 in Dresden ein Blutbad abgewendet werden. Man darf es den ‚Vätern‘ nicht unbedingt als Feigheit oder als Sorge um das ‚herzliche Einvernehmen‘ zwischen Kirche und Staat auslegen, wenn sie für die jungen Menschen auf der Straße einen ‚himmlischen Frieden‘ auf DDR-Weise befürchteten… Wer lediglich mit politischen und ideologischen Kategorien an die Geschichte der Kirche der DDR herangeht, wird der vollen historischen Wahrheit nicht gerecht."

Einen Beitrag zur Entspannung der Lage im Verhältnis von Staat und Kirche leistete das Gespräch führender kirchlicher Repräsentanten mit dem SED-Chef und Vorsitzenden des Staatsrates, Honecker, am 6. März 1978. So etwas hatte es seit dem Gespräch des Ministerpräsidenten Otto Grotewohl mit leitenden Geistlichen 1958 nicht mehr gegeben. Der Staat erklärte sich zu gewissen Zugeständnissen bereit, beispielsweise durften sechsmal im Jahr kirchliche Fernsehsendungen ausgestrahlt werden. In kommunalen und staatlichen Altersheimen und im Strafvollzug wurde Seelsorge ermöglicht. Doch war es nicht leicht, diese Zusagen zu verwirklichen. Es war aber als ein Durchbruch zu werten, daß nun "ein konstruktives Gespräch auf allen Ebenen" ermöglicht wurde. "Die Hoffnung freilich, daß der größere Freiraum, der mit der Zeit der Kirche gewährt wurde, sich auf die Innenpolitik der DDR auswirken würde, hat sich in nur geringem Maße erfüllt." Besonders gilt dies für die Bildungspolitik: "Das Ministerium für Volksbildung mit seinen Unterorganisationen verweigerte bis zur ‚Wende‘ jedes Gespräch. Ich vermute, daß das nicht allein auf die besonders starre Haltung der Frau Ministerin Honecker zurückzuführenwar. Alles, was mit der Erziehung zur kommunistischen Persönlichkeit zu tun hatte, war wohl das unantastbare Heiligtum und Brennpunkt aller ideologischen Leidenschaft der Partei."

Die "Koexistenzformel" "Kirche im Sozialismus" war mehrdeutig: "an diesem Begriff scheiden sich die Geister." Freimütig räumt Schönherr ein: "Darum war es ein Fehler, zu dem auch ich mich bekenne, diese Formel gebraucht zu haben, ohne sie klar zu definieren." In einem Spannungsverhältnis dazu steht sein Bekenntnis. "Für den Weg, der mit ‚Kirche im Sozialismus‘ gemeint ist, Buße zu tun, bin ich nicht bereit." Wenn eine mehrdeutige Formel sich als "Fehler" erwies, ist ein solches Beharren schwer verständlich. Genauso, wenn er noch 1993 schreibt: "Es wäre für die Welt nicht gut, wenn der Sozialismus sich so diskreditiert hätte, daß er als kritisches Gegenüber zum Kapitalismus endgültig ausschiede."

Schönherr ist theologischer Ehrendoktor von Greifswald (1963), Debrecen (1967) und Bonn (1986). Am 30. September 1981 schied Schönherr mit 70 Jahren aus dem aktiven Dienst und zog sich in sein Haus nahe von Berlin zurück. Er widmete sich der kirchlichen Weiterbildung der Laien (nie habe er einen so engen Kontakt zur "Basis" gehabt), hielt Vorträge als "Zeitzeuge", pflegte seine Hobbys (Gartenarbeit, Photographie,Wandern und Rudern) und freute sich an seinen zehn Enkeln und elf Urenkeln (1993). Wahrlich ein erfülltes Patriarchenleben!

Lit.: A. Schönherr: … aber die Zeit war nicht verloren. Erinnerungen eines Altbischofs. Berlin 1993. (mit der Angabe von Schriften des Autors S. 428).

 

  Christoph Führ