Biographie

Schumacher, Kurt

Herkunft: Westpreußen
Beruf: Politiker
* 13. Oktober 1895 in Kulm/Weichsel
† 20. August 1952 in Bonn

Am 15. November 1949, als der Deutsche Bundestag in einer seiner ersten großen Debatten um die von den Westmächten gewünschte und von Konrad Adenauer betriebene Westintegration der jungen Bundesrepublik rang, trat der Oppositionsführer Schumacher dem Bundeskanzler hart entgegen. Auch er bekannte sich zum "menschlichen und kulturellen Stil des Westens", trat für die "Idee der Vereinigten Staaten von Europa" ein, geißelte allen "nationalistischen Unfug". Aber in Adenauers sehr eigenständigem Vorgehen in dieser "Lebensfrage" der Deutschen sah er nicht nur eine Mißachtung des Parlaments, sondern zugleich eine Preisgabe deutscher Interessen, vor allem auch einen Schlag gegen den "Kampf um die Rückgewinnung der Gebiete östlich der Oder und Neiße". Das mündete eine gute Woche später, als der Kanzler die Sozialdemokraten ungemein reizte, in den erregten Zwischenruf "Der Bundeskanzler der Alliierten". In diesen dramatischen Tagen wurde der Habitus des Politikers Kurt Schumacher pointiert sichtbar.

Haltung und Stil dieses Mannes gründeten nicht zuletzt in seiner Herkunft aus dem Grenzland im Osten. Sohn eines Kaufmanns und freisinnigen Stadtverordneten in Culm an der Weichsel, dieser seit 1772 preußischen Deutschordensgründung, kam Schumacher aus kulturell selbstbewußtem evangelischen Bürgermilieu. Inmitten einer polnischen Mehrheit war es entschieden national und von einer unbedingt preußischen Art, welche im deutschen Westen und Süden als schroff galt. 1914 zog er nach dem Notabitur als Kriegsfreiwilliger ins Feld; schon nach wenigen Monaten verlor er durch eine schwere Verwundung den rechten Arm. Er studierte in Halle, Leipzig und Berlin Staatswissenschaften und Jurisprudenz und wurde mit einer Dissertation über den Staatsgedanken in der deutschen Sozialdemokratie promoviert, die in der Tradition Ferdinand Lassalles dem Staat einen hohen sittlichen und sozialen Wert zuschrieb. Dies war nicht nur eine akademische Erörterung.

Denn Schumacher, schon als Gymnasiast in politischem Meinungsstreit engagiert, war Anfang 1918 der SPD beigetreten, für sie in der November-Revolution Mitglied des Groß-Berliner Arbeiter- und Soldatenrats gewesen und 1920 als Redakteur ihres Stuttgarter Organs, derSchwäbischen Tagwacht, nach Württemberg gegangen. Dort gewann er, seit 1924 im Landtag, bald durch intellektuellen Rang, Energie und politischen Kampfwillen Einfluß. Er gründete eine gegen den Strassenterror der militanten Rechten gerichtete republikanische Schutztruppe, die dann im ‚Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold‘ aufging. 1930 kam der erbitterte Feind der Nationalsozialisten in den Reichstag, wo er sich mit einer schneidenden Stegreifrede gegen Goebbels exponierte. Da er weder 1933 zur Flucht noch später zu Gnadengesuchen bereit war, verbrachte er die NS-Zeit nahezu ununterbrochen in Konzentrationslagern, vorwiegend in Dachau. Diese Zeit zerrüttete Schumachers Gesundheit, aber brach seine politische Leidenschaft nicht, ja, gab ihm charismatische Kraft und nährte ein märtyrerhaftes Sendungsbewußtsein. Das ließ ihn für die "Zeit nach Hitler" eine führende politische Rolle beanspruchen.

Bereits im April 1945 begann er, die Sozialdemokratische Partei, deren alter Vorstand noch im Londoner Exil weilte, mit seinem ‚Büro Dr. Schumacher‘ von Hannover aus zielstrebig wieder aufzubauen. Von der britischen Besatzungsmachtgefördert, setzte er sich in den westlichen Zonen zunächst inoffiziell, 1946 dann als gewählter 1. Vorsitzender durch. Rasch rückte der von der Verfolgung gezeichnete, unbeugsame und so offenkundig integre Mann, der wie eine Verkörperung des besseren Deutschland erschien, ins Zentrum der politischen Arena. Er gewann eine starke innerparteiliche Autorität und fand zugleich als Anwalt eines geschlagenen, hungernden Volkes großen Zulauf in der Bevölkerung. Mit glänzender Feder, mit scharfem Wort warb er für einen patriotischen Sozialismus in internationaler Solidarität im Sinne von Lassalle und Jaurès, der nach dem Versagen der bürgerlichen Ordnung allein Deutschland wieder aufrichten könne. Marx folgte er zwar im sozialen Impuls, doch nie seiner Lehre als einem Dogma. Er kämpfte gegen Privilegien aller Art für eine egalitäre Demokratie. Und mit dem moralischen Anspruch des Widerstandes forderte er von den Besatzungsmächten unentwegt mehr Rücksicht auf die Interessen der Deutschen, die vom Objekt wieder zum politischen Subjekt werden und die Einheit ihres Reiches in den Vorkriegsgrenzen zurückgewinnen müßten.

All dies, besonders das letztere, geschah mit so leidenschaftlicher Überzeugung, in oft so brüskem Ton, daß er wie kein anderer der führenden deutschen Politiker im Ausland trotz hoher Achtung provozierte und im Innern polarisierte. Seine kompromißlose Art, die kategorische Schärfe verstärkte sich noch, als Schumacher nach der unerwarteten Niederlage der SPD in der 1. Bundestagswahl 1949 nicht Kanzler, sondern Adenauers Gegenspieler wurde. Sich mit eisernem Willen gegen den körperlichen Verfall stemmend, zwang er seine Partei in den Grundentscheidungen über die innnere Ordnung und die äußere Orientierung des westdeutschen Staates zu unbedingter Opposition gegen den Regierungskurs. Das führte, zumal sein prinzipieller Blick die akuten Alltagsnöte nicht immer traf und er in preußisch-sozialdemokratischer Tradition ganz zentralistisch dachte, auch innerhalb der Partei zu Konflikten mit den pragmatischen, auf eine rasche Westintegration drängenden Bürgermeistern Reuter (Berlin), Kaisen (Bremen) und Brauer (Hamburg) wie mit dem bayerischen Föderalisten Högner. Die Gestalt der Bundesrepublik – Teilstaat, Föderalismus, Marktwirtschaft, Westintegration, Wiederbewaffnung – zeigt, wie wenig der reale Einfluß Schumachers Einsatz entsprach. Dieser folgte, bei allem politischen Scharfsinn, wohl zu doktrinär Weimarer Vorstellungen. Adenauers flexible Politik erwies sich als zeitgemäßer; Schumachers eigene Partei näherte sich denn auch nach seinem Tod diesem Weg.

Doch das ist nur die eine Seite. In drei Punkten konnte dieser rastlose, von Idealen beseelte und zugleich machtbewußte Mann die politische Kultur der Bundesrepublik durchaus bleibend prägen. Als stärkste Stimme nationaler Selbstbehauptung hat dieser "unbeirrbare Patriot" (Wolfgang Benz), der aus der NS-Zeit wahrlich glaubwürdig hervorging, den Deutschen geholfen, gegen die kollektive Verurteilung von außen und vielerlei eigene Selbstentwertung Identität zu bewahren. Als Oppositionsführer hat er dieser Rolle ein im deutschen Parlamentarismus ungewohntes Gewicht gegeben; neben Adenauers ‚Kanzlerdemokratie‘ wird das gerne übersehen. Vor allem aber hat er als Parteivorsitzender durch die scharfe Abgrenzung vom Kommunismus sowohl gegen den sowjetischen Druck zur SED als auch gegen manche Wiedervereinigungsromantik in den eigenen Reihen die SPD klar auf die westliche Demokratie festgelegt. So wurde sie zur Mitwirkung in einer bürgerlichen Ordnung geführt, zu ihrem für Westdeutschland konstitutiven Part, ob in Opposition oder Regierung. Ohne Zweifel – Kurt Schumacher gehört zu den Vätern der Bundesrepublik. Daß er dies besonders für die einfachen Leute war, brachten diese nach seinem frühen Tod in einem überwältigenden Abschied zum Ausdruck: Hundertausende säumten den Trauerzug von Bonn nach Hannover. Es war die letzte Massenkundgebung für einen deutschen Arbeiterführer.

Nachlaß: Archiv der sozialen Demokratie (Friedrich-Ebert-Stiftung), Bonn.

Werke: Der Kampf um den Staatsgedanken in der deutschen Sozialdemokratie, Diss. Münster 1926. – Grundsätze sozialistischer Politik, Hamburg 1946. – Nach dem Zusammenbruch. Gedanken über Demokratie und Sozialismus, Hamburg 1948. – Durch freie Wahlen zur Einheit Deutschlands. Hg. vom Vorstand der SPD Hannover, o.J. – Student und Politik, Hamburg o.J. – Reden und Schriften, Berlin 1962. – Reden, Schriften, Korrespondenzen. Hg. von W. Albrecht, Berlin, Bonn 1985 (umfassende, kommentierte Edition mit großer Einleitung zu Person und Wirken).

Lit.: Kurt Schumacher, Leben und Leistung. Hg. vom Vorstand der SPD, Mannheim 1952. – A. Scholz u. W. G. Oschilewski (Hg.): Turmwächter der Demokratie. Ein Lebensbild von Kurt Schumacher, 2 Bde, Berlin 1953. – W. Brandt u. R. Löwenthal: Ernst Reuter, München 1957. – W. Hoegner: Der schwierige Außenseiter, München 1959. – A. Kaden: Die Wiedergründung der SPD 1945-1946, Hannover 1964. – W. Ritter: Kurt Schumacher. Eine Untersuchung seiner politischen Konzeption und seiner Staats- und Gesellschaftsauffassung, Hannover 1964. – Th. Pirker: Die SPD nach Hitler. Die Geschichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1945-1964, München 1965. – L. J. Edinger: Kurt Schumacher. Persönlichkeit und politisches Verhalten, Köln, Opladen 1967. – W. Kaisen: Meine Arbeit, mein Leben, München 1967. – F. Heine: Dr. Kurt Schumacher. Ein demokratischer Sozialist europäischer Prägung, Göttingen u.a. 1969. – H. G. Ritzel: Kurt Schumacher, Reinbek b. Hamburg 1972. – R. Hrbek: Die SPD – Deutschland und Europa. Die Haltung der Sozialdemokratie zum Verhältnis von Deutschlandpolitik und Westintegration, Bonn 1972. – E. Lüth: Max Brauer, Hamburg 1972. – W. E. Paterson: The German Social Democratic Party and European Integration 1949-1952, Westmead Farnborough 1974. – H.-P. Schwarz: Die Ära Adenauer, Stuttgart 1981. – K. Klotzbach: Der Weg zur Staatspartei, Berlin, Bonn 1982. – Th. Eschenburg: Jahre der Besatzung 1945-1949, Stuttgart 1983.- W. Benz: Der unbeirrbare Patriot, in: Süddeutsche Zeitung 5./6.9.1987. – G. Scholz: Kurt Schumacher, Düsseldorf 1988. – K.-L. Sommer: Wiederbewaffnung im Widerstreit von Landespolitik und Parteilinie, Bremen 1988. – W. Brandt: Erinnerungen, Frankfurt/M. 1989. – H.-P. Schwarz: Konrad Adenauer, 2 Bde., Stuttgart 1986 u. 1991. – W. Mühlhausen (Hg.): Treuhänder des deutschen Volkes, Melsungen 1991.

Bild: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung.

 

Werner K. Blessing