Biographie

Scultetus, Abraham

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Reformierter Theologe
* 24. August 1566 in Grünberg/Schlesien
† 24. Oktober 1624 in Emden

Abraham Scultetus entstammte einer lutherischen Familie, die in seiner Geburtsstadt bereits mehrere Schultheißen und Ratsverwandte gestellt hatte. Auch sein Vater gehörte dem Rat an. Nach dem Besuch der Schulen in Grünberg, Breslau, Freistadt und Görlitz wandte sich Scultetus 1588 zum Studium ins lutherische Wittenberg. Im Geiste des Philippismus erzogen, bezog er 1590 die Heidelberger Universität, wo er Theologie studierte und sich schließlich dem Calvinismus zuwandte. Schlesische Glaubensflüchtlinge, der Mehrheit nach in der offiziell katholischen, das Luthertum jedoch duldenden Heimat den krypto-calvinistischen Kreisen zugehörend, spielten seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts für die calvinistische Reformation in der Kurpfalz eine maßgebliche Rolle. Zu Lebzeiten von Scultetus bekleideten mit David Pareus (1548-1622, aus Frankenstein), Theologieprofessor und Wortführer der sog. Pfälzischen Irenik, und dem ebenfalls aus Grünberg gebürtigen Bartholomäus Pitiscus (1561-1613) als Oberhofprediger zwei andere Schlesier einflussreiche Ämter. Scultetus wurde 1594 zunächst Pfarrer in Schriesheim, ein Jahr später trat er als zweiter Hofprediger in die Dienste des Kurfürsten Friedrich IV. von der Pfalz. 1602 berief man ihn in den Kirchenrat, die oberste Kirchenbehörde des Landes. In den nächsten zwei Jahrzehnten wurde Scultetus einer der führenden Theologen in der Kurpfalz, der durch Schriften und durch persönlichen Einsatz unablässig dafür wirkte, nicht nur die Landeskirche zu stärken, sondern auch den reformierten Glauben in anderen Territorien durchzusetzen. Dafür unternahm er immer wieder längere Reisen. Er gewann großen Einfluss auf den jung auf den Thron gekommenen Friedrich V., den er auf seiner Brautreise nach London, wo er sich mit Elisabeth Stuart, der Tochter Königs Jakob I. vermählte, begleitete und dessen erster Hofprediger er 1614 als Nachfolger von Pitiscus wurde. Sein Ruf als Kirchenorganisator und ‚Reformator‘ besaß einen so guten Klang, dass ihn 1613 der soeben zum Calvinismus konvertierte Kurfürst Johann Sigismund von Brandenburg nach Berlin einlud, um dort die reformierte Kirche aufzubauen. Den Höhepunkt seiner Karriere wie seines Einflusses erreichte Scultetus 1618/19, als er zunächst zusätzlich zum Hofpredigeramt die Professur für das Alte Testament an der Heidelberger Universität erhielt, dann die Kurpfalz auf der Synode von Dordrecht in führender Funktion vertrat und schließlich an der Seite Friedrichs V. dessen triumphalen Einzug als König von Böhmen in Prag mitmachte.

Abraham Scultetus zählte – anders als seine Landsleute Pitiscus und Pareus – nicht zu den irenischen Kräften in der Kurpfalz, stattdessen war er eher der „Typ des reformierten Eiferes“ (V. Press), der sich zunehmend in die konfessionspolitischen Abenteuer des Kurfürsten und seines entscheidenden Beraters Christian I. von Anhalt-Bernburg verstrickte. Allerdings verblieb er in seinen Schriften und selbst in seinem 1617 zum Reformationsjubiläum begonnenen Werk Annalium Evangelii passim per Europam decimo quinto salutis partae seculo renovati, einer Geschichte der Reformation aus calvinistischer Sicht, auf dem Boden der kurpfälzischen Irenik. Von dieser Reformationsgeschichte, mit der Scultetus quasi das „historiographische Gegenstück“ (G.A. Benrath) zu den politischen und theologischen Bemühungen der Kurpfalz um einen Zusammenschluss der Protestanten liefern wollte, erschienen kriegsbedingt allerdings nur die ersten beiden Bände für die Jahre bis 1536.

In Prag agierte Scultetus an vorderster Front. Er führte den Bildersturm im Prager St. Veitsdom zu Weihnachten 1619 an und setzte kompromisslos in allen Prager Kirchen den reformierten Gottesdienst durch. Friedrich V., der nicht zuletzt we­gen dieser rigiden Maßnahmen die ohnehin fragile Unterstützung der protestantischen Reichsstädte verlor und dem auch der englische König seine Unterstützung versagte, zog sich nach wenigen Monaten mit seinem Gefolge aus Prag zurück. Scultetus blieb bis zur Schlacht am Weißen Berge an der Seite des Winterkönigs, folgte diesem aber nicht ins Exil nach Den Haag, sondern kehrte nach Heidelberg zurück. Die auch dort drohende Kriegsgefahr trieb ihn abermals zur Flucht, bis er schließlich am 1. Oktober 1622 in Emden sein neues Amt als Pfarrer antrat.

Scultetus hinterließ ein umfangreiches Werk in lateinischer und deutscher Sprache, zu dem homiletische, patristische und exegetische Lehrbücher und Sammlungen, Leichenpredigten und andere Predigten zu verschiedenen Ereignissen (etwa zum Reformationsjubiläum) sowie zahlreiche kontrovers-theologi­sche Flugschriften gehören. Das meiste wirkte nicht über seine Zeit hinaus, besitzt aber gerade angesichts seiner exponierten Rolle umso mehr wichtigen kulturgeschichtlichen Quellenwert. Höhepunkt und Fall dieser beachtlichen Laufbahn überlagerten allerdings lange das Bild des theologischen Gelehrten. Am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges war Abraham Scultetus unbestrittener geistlicher Führer des konfrontativen konfessionspolitischen Kurses gewesen. Er war einer derjenigen, die am vehementesten zur Annahme der böhmischen Königskrone rieten. In Prag wurde er dann zum ‚Gesicht‘ eines Calvinismus, der rücksichtslos gegen Andersgläubige verfuhr und Kulturschätze zerstörte. Für die zeitgenössische Publizistik lagen die Dinge deshalb eindeutig: In zahlreichen Flugschriften klagte man ihn als einen der Hauptverantwortlichen des böhmischen Abenteuers – und damit des inzwischen entfesselten Krieges – an. Scultetus verwandte seine letzten Lebensjahre darauf, sich gegen diese Anschuldigungen durch verschiedene Schriften zur Wehr zu setzen. In seiner Autobiographie (postum 1625), die aus dieser Verteidigungshaltung ihre wesentliche Motivation und zugleich ihre Argumentationsstrategie gewann, versuchte er mit aller rhetorischen Kraft, seinen Anteil an den Vorgängen in Heidelberg und Prag herunterzuspielen. Die Geschichtsforschung gibt ihm Recht, doch repräsentierte er weit mehr als die übrigen führenden Heidelberger Theologen der Zeit einen militanten Calvinismus, der in den ersten beiden Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts den Ausbruch eines großen Krieges zwischen den Konfessionskirchen ins politische Kalkül einbezog.

Werke: Ethicorum Libri Duo. Methodice conscripti […], Leiden 1593. – Medullae Theologiae Patrum Pars I-IV […], Amberg 1603-1613. – De Precatione Tractatio Logico-Theologica […], Neustadt a.d. Weinstraße 1603 (dt. u.d.T.: Biblische Bettkunst/ […], Heidelberg 1614). – Danckpredig/ Gehalten in der Schloss-Kirch zu Heydelberg den 8./18. Juni dieses 1613. Jhars/ als […] Fraw Elisabeth/ Princessin von groß Britannien/ […] den Tag zuvor glücklich zu Heydelberg angekommen/ […], Heidelberg 1613. – Evangelische JubelJahrs Predigt. Zu Heidelberg den 2. Novembris anno 1617. in der kirchen zum H. Geist gehalten […], Heidelberg 1617. – Annalium Evangelii Passim Per Europam Decimo quinto salutis partae seculo renovati Decas I[-II], Frankfurt a.M./Heidelberg 1618-1620. – Delitiae Evangelicae Pragenses. Hoc est, Observationes Grammaticae, Historicae, Theologicae, In Historiam Jesu Christi nati, educati, baptizati, tentati […], Hanau 1620. – Kurtzer/ Aber schrifftmässiger Bericht Von den Götzenbildern. An die Christliche Gemeine zu Prag/ als auß Königlicher Mayestät gnädigstem befelch die Schloßkirch von allem Götzenwerck gesäubert worden/ gethan/ Sontags den 12./22. Decemb. des 1619. Jahrs […], Prag 1620. – De Curriculo Vitae, Inprimis vero De actionibus Pragensibus […], Narratio Apologetica […], Emden 1625 (ins Deutsche übersetzt u.d.T. Historische Erzehlung Von dem Lauff des Lebens/ Insonderheit aber Von den Pragerischen Handlungen D. Abraham Sculteti, […], Emden 1628).

Lit.: Die Selbstbiographie des Heidelberger Theologen und Hofpredigers Abraham Scultetus (1566-1624). Hrsg. von Gustav Adolf Benrath, Karlsruhe 1966. – Gustav Adolf Benrath, Abraham Scultetus, in: Pfälzer Lebensbilder, Bd. 2, hrsg. von Kurt Baumann, Speyer 1970, S. 97-116. – Volker Press, Calvinismus und Territorialstaat. Regierung und Zentralbehörden der Kurpfalz 1559-1619, Stuttgart 1970. – Axel E. Walter, Späthumanismus und Konfessionspolitik. Die europäische Gelehrtenrepublik um 1600 im Spiegel der Korrespondenzen Georg Michael Lingelsheims, Tübingen 2004, S. 296f. – Günter Frank, Frag­mentierung und topische Neuordnung der aristotelischen Ethik in der frühen Neuzeit. Ethik bei Viktorin Strigel und Abraham Scultetus, in: Christoph Strohm [u.a.] (Hrsg.), Späthumanismus und reformierte Kon­fession. Theologie, Jurisprudenz und Philosophie in Heidelberg an der Wende zum 17. Jahrhundert, Tübingen 2006, S. 153-168. – Gabriele Jancke, Gelehrtenkultur – Orte und Praktiken am Beispiel der Gastfreundschaft. Eine Fallstudie zu Abraham Scultetus (1566-1624), in: Barbara Krug-Richter, Ruth-E. Mohrmann (Hrsg.), Frühneuzeitliche Universitätskulturen. Kulturhistorische Perspektiven auf die Hochschulen in Europa, Köln [u.a.] 2009, S. 285-312. – Wilhelm Kühlmann (Hrsg.), Die deutschen Humanisten. Dokumente zur Überlieferung der antiken und mittelalterlichen Literatur in der Frühen Neuzeit. Abt. 1: Die Kurpfalz. Bd. 3: Jacobus Micyllus, Johannes Posthius, Johannes Opsopoeus und Abraham Scultetus, Turnhout 2010. – Joachim Bahlcke, Religiöse Kommunikation, Reisediplomatie und politische Lagerbildung. Zur Bedeutung des reformierten Theologen Abraham Scultetus für die Beziehungen zwischen Schlesien und der Kurpfalz, in: J. Bahlcke, Albrecht Ernst (Hrsg.), Schlesien und der deutsche Südwesten um 1600. Späthumanismus – reformierte Konfessio­nalisierung – politische Formierung, Heidelberg [u.a.] 2012, S. 187–220.

Bild: Wikipedia.

Axel Walter, 2017