Biographie

Seidlin, Oskar

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Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Literaturwissenschaftler
* 17. Februar 1911 in Königshütte
† 11. Dezember 1984 in Bloomington/Indiana (USA)

Salo Oskar Koplowitz wurde am 17. Februar 1911 als Sohn des Holzgroßhändlers Heinrich Koplowitz und seiner Ehefrau Joha­nna, geb. Seidler, in Königshütte (Oberschlesien) geboren – einer Stadt, die ihre Existenz und ihren Aufstieg dem Bergbau und dem Hüttenwesen verdankte. Salo sagte im Jahre 1975: „Es war ein behagliches Zuhause, wer könnte es leugnen?: ein stattli­ches Haus, ein schöner Garten, sehr fest eingefügt ins Herz der Stadt, so wie unsere Familie es war, mein Vater ein hoch­geachteter Kaufmann, Vertreter der Bürgerschaft, die ihn wie­der und wieder zum Stadtverordnetem gewählt hatte. Das Haus lag gegenüber dem Bahnhof und neben dem Postamt (…). Mein ju­gendliches Gemüt, damals schon zu etwas exzentrischer Speku­lation auf das Symbolische hin geneigt, empfand diese Lage als eindrucks- und bedeutungsvoll. Bahnhof und Post – das heißt doch Verbindung zu und mit der Welt.“ Obwohl bei der am 20. März 1921 durchgeführten Abstimmung über die Zukunft Oberschlesiens in Königshütte 74% der Stim­men für ein Verbleiben bei Deutschland abgegeben wurden, fiel die Stadt bei der Teilung des Gebietes an Polen. Salo Koplowitz, der Sohn jüdischer Eltern – der Vater war ein engagier­ter Zionist – fuhr nun sieben Jahre lang über die neue Grenze in das benachbarte deutsche Beuthen, um dort das Gymnasium zu besuchen. Nach dem 1929 abgelegten Abitur studierte er Germanistik, Französisch, Geschichte und Philosophie: in Freiburg/Breisgau, Berlin und vor allem in Frankfurt a.M., wo er so bedeutende Lehrer wie Theodor W. Adorno (Wiesen­grund), Max Horkheimer, Karl Mannheim, Wolfgang Pfeiffer-Belli, Julius Schwietering und Paul Tillich hatte. Bereits im April 1933, schon kurz nach der Machtübernahme durch die judenfeindlichen Nationalsozialisten, emigrierte Kop­­lowitz, der in Frankfurt – obwohl aus gutbürgerlichem Hause stam­mend – einer linken Studentengruppe angehörte, in die Schweiz, wo er in Basel das Studium fortsetzte und 1935 mit einer Arbeit über den deutschen Bühnenleiter und Literar­historiker Otto Brahm, welche die Note „summa cum laude“ erhielt, zum Dr. phil. promoviert wurde. Anschließend studierte er in Lausanne und arbeitete als freier Schriftsteller. Im Jahre 1938 verließ Koplowitz zusammen mit seinem Lebensgefährten Dieter Cunz, mit dem er seit den frühen 30er Jahren liiert war, Europa und wanderte in die USA aus, wo er sich u.a. als Tellerwäscher und als Sekretär von Erika Mann über Wasser hielt, aber auch den beruflichen Aufstieg in den akademischen Lehrbetrieb schaffte. Von 1942 oder 1943 diente er – bis 1946 – in der U.S. Army. An verschiedenen Univer­sitäten, vor allem an der Ohio State University in Columbus und an der Indiana University in Bloomington, lehrte Koplowitz, der manchmal gemeinsam mit Dieter Cunz und Richard Plant das Pseudonym Stefan Brockhoff benutzte und 1943 die amerikani­sche Staatsbürgerschaft und den Namen Oskar Seidlin annahm, deutsche Literatur. Vielleicht wählte er den neuen Familien­namen wegen des Anklingens an den Namen seiner Mutter, der geborenen Seidler, die – vermutlich in demselben Jahre – in Auschwitz ermordet wurde.

Schwerpunkte seines Lehrens und Forschens waren die Klassik und die Romantik, einzelne Repräsentanten des Naturalismus und des bürgerlichen Romans sowie die Lyrik. Aus der Reihe der Dichter, auf die sich sein Blick besonders richtete, seien Johann Wolfgang v. Goethe, Clemens v. Brentano, Theo­dor Fontane, Thomas Mann und die Schlesier Joseph v. Eichendorff und Gerhart Hauptmann genannt. Er veröffentlichte viel, in Deutsch und in Englisch, in vielen Organen, ließ manches erneut drucken, so auch in Sammelbänden, und beteiligte sich an der Herausgabe von Zeitschriften, wie z.B. The German Quarterly. Bei einer Reihe von Festschriften arbeitete er mit, u.a. zu Ehren der deutschen Germanisten Richard Alewyn, Benno v. Wiese, Albrecht Schöne und Wolfgang Fleischhauer. Oskar Seidlin war eine der großen Gestalten der deutsch-ame­rika­nischen Germanistik, so schrieb Peter Horst Neumann, der Fachkollege und Präsident der Eichendorff-Gesellschaft. Er nahm 1968 einen Ruf an die Universität München nicht an, hielt jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg gute Kontakte zu deutschen Germanisten und gehörte der Eichendorff-Ge­sell­schaft, der Kleist-Gesellschaft und dem Internationalen Germanistenverband an, zeitweilig auch der Akademie der Wissenschaften in Göttingen als korrespondierendes Mitglied.

Aus­ländische und deutsche Ehrungen wurden ihm zuteil, z.B.: 1961 Eichendorff-Medaille des Eichendorff-Museums in Wangen/Allgäu, 1965 Goethe-Medaille in Gold des Goethe-Insti­tuts München, 1968 Ehrendoktor der Universität Michigan in Ann Arbor, 1974 Eichendorff-Medaille der Eichendorff-Ge­sell­schaft, 1983 Georg-Dehio-Preis für Kultur- und Geistesgeschichte. Große Freude empfand Oskar Seidlin über die Verleihung des Oberschlesischen Kulturpreises des Landes Nord­rhein-Westfalen, für die sich der Würzburger Kulturwissenschaftler und Eichendorff-Forscher Franz Heiduk sehr verwendet hatte. In seiner Laudatio betonte Professor P. H. Neumann das emphatische Verhältnis Seidlins zur deutschem Sprache, dank­te ihm für „ein berühmtes Buch über Eichendorff“ und führte aus, „daß das schönste Buch über diesen oberschlesischen Dichter im fernen Ohio geschrieben wurde, von einem emi­grierten Juden aus Oberschlesien“. Er meinte damit Seid­lins 303 Seiten umfassendes Werk Versuche über Eichendorff, das 1965 erstmals erschien und 1985 die dritte Auflage er­lebte. Seidlin sagte in seinem gehaltvollen, erinnerungsgetränkten Dankeswort, dass seine „liebevollstem Bemühungen einem oberschlesischen Dichter, dem großen oberschlesischen Dichter Eichendorff, gegolten haben. Ich habe ihn in meinem Buch gewiß nicht als einen Heimatdichter vorgestellt, sondern als den, der er ist: einen der treuesten Diener und höch­sten Meister deutscher Sprache.“ Eichendorff sei aber doch ein oberschlesischer Dichter gewesen.

Seidlin bekannte in der Laudatio: „Ja, ich bin Oberschlesier, aus der äußersten Ecke des Landes, aus dem Sie, die mich eh­ren, kommen.“ Und er schloss seine Ansprache mit den schönen Versen Eichendorffs:

„Aus der Heimat, hinter den Blitzen rot,
Da kommen die Wolken her,
Aber Vater und Mutter sind lange schon tot.
Es kennt mich dort keiner mehr.“

Artikulierung des Heimatverlustes! – Am 11. Dezember 1984 starb Oskar Seidlin, der heimattreue Oberschlesier, in sei­ner zweiten Heimat, den Vereinigten Staaten von Amerika, zu Bloomington/Indiana im Alter von 73 Jahren.

Werke: Otto Brahm als Theaterkritiker (Verfassername: Os­kar Koplo­witz), Zürich 1936 (Basler Beiträge zur Literatur- und Geistesgeschichte, 3: 2. Aufl., Bern 1976). – Pedronis muß geholfen werden! Eine Erzählung für die Ju­gend, Aarau 1937; amerikan. Übersetzung: Boston 1943. – Thomas Mann und die Demokratie, in: German Quar­terly 16, 1943, S. 117-123. – Der Taugenichts ante portas. Interpre­tation einer Eichendorff-Stelle, in: Journal of English and Germanic Philology 52, 1953, S. 509-524. – Essays in German and Comparative Literature, Chapel Hill/N.C. 1961 (Univ. of North Carolina Studies in Comparative Literatu­re 30); 2. Aufl., Reprint, New York 1966. – Von Goethe zu Thomas Mann. Zwölf Versuche, Göttingen 1963; 2. Aufl., ebd. 1969. – Versuche über Eichendorff, Göttingen 1965; 2. Aufl. 1985. – Klassische und moderne Klassiker: Goethe – Brentano – Eichendorff – Gerhart Hauptmann – Thomas Mann, Göttingen 1972. – Von erwachendem Bewußtsein und vom Sündenfall. Brentano, Schiller, Kleist, Goethe, Stuttgart 1979. – Dankeswort (bei der Verleihung des Oberschlesischen Kulturpreises des Landes Nordrhein-Westfalen am 29. November 1975), in: Erbe und Auftrag, Oberschlesischer Kulturpreis 1965-1985, hrsg. v. Waldemar Zylla. Dülmen 1988, 89-94.

Lit.: Peter Horst Neumann, Heimat und Sprache. Laudatio auf Oskar Seidlin, in: Oberschlesischer Kulturpreis des Landes Nordrhein-Westfalen 1975. Feierstunde, Würzburg 1975, S. 9-16; auch in: Erbe und Auftrag. Oberschlesischer Kulturpreis 1965-1985, hrsg. v. W. Zylla, Dülmen 1988, S. 83-89. – Herkommen und Erneuerung. Essays für Oskar Seidlin. hrsg. v. G. Gillespie u. E. Lohner (Festschrift). Tübingen 1976. – Peter Horst Neumann, In memoriam Oskar Seidlin, in: Aurora. Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft, 45, 1985, S. 1-3; ohne Verfasserang., Dr. phil. Dr. Humanae letters (Dr. h. c.) Oskar Seidlin, ebd., S. 3-4. – Henry H. H, Remak: In Memoriam Oskar Seidlin 17.2.1911-11.12.1984, in: Arcadia 20, 1985, 2, S. 222-224. – Kürsch­ners Deutscher Gelehrten-Kalender 1983, S. 3952. – Franz Heiduk, Oberschlesisches Literatur-Lexikon, Teil 3, Heidelberg 2000, S. 95-96. – Internationales Germanisten­lexikon 1800-1950, Berlin/New York 2003, S. 1706-1708 (Tamara Evans).

Hans-Ludwig Abmeier