Biographie

Selle, Christian Gottlieb

Herkunft: Pommern
Beruf: Arzt, Philosoph
* 7. Oktober 1748 in Stettin/Pommern
† 9. November 1800 in Berlin

Christian Gottlieb Selle wurde als Sohn des Grobschmieds Jakob Selle und seiner Ehefrau Lucretia Elisabeth Maschner geboren. Mit sechs Jahren verlor er seinen Vater, und nachdem die Mutter in zweiter Ehe den Berliner Apotheker Johann Caspar Köhler geheiratet hatte, verbrachte er seine weiteren Kinder- und Jugendtage in Berlin. Sein Lebensweg war nicht einfach; hart mußte er sich alles erarbeiten, denn der Stiefvater ließ dem Jungen keine besondere Schulbildung angedeihen und zeigte auch für seine literarischen Neigungen kein Verständnis. Selles Mutter half dem Sohn bei der Beschaffung der Bücher, die er mit großer Leidenschaft des Nachts bei spärlicher Beleuchtung las. „Sein Bett war zugleich seine Bibliothek“, schrieb sein Biograph Formey. Diese asketische Lebensweise mit wenig Schlaf und mangelhafter Ernährung in seinen Jugendjahren soll der Grund für spätere Kränklichkeit und Anfälligkeit gewesen sein.

Der Stiefvater ließ Selle eine Apothekerlehre absolvieren, nach deren Abschluß er endlich die Erlaubnis erhielt, einige Vorlesungen am Berliner „Collegium medico-chirurgicum“ zu hören, das damals auch von angehenden Apothekern besucht wurde. Selle war der aufgezwungene Beruf des Apothekers verhaßt, deshalb ließ er sich am 7. November 1766 als Student der Medizin einschreiben. Er gehörte zu den begeisterten Anhängern und Schülern des Biologen Caspar Friedrich Wolff. Über Selle sind Berichte von seinem späteren Kollegen Christian Ludwig Mursinna in Briefen an Goethe überliefert. Mit Hilfe seiner Mutter erreichte er einen Wechsel der Universität, ab 1768 konnte er in Göttingen studieren. Er hörte bei Albrecht von Haller, dem bedeutendsten Physiologen jener Zeit, und wurde Schüler des damals bekannten Chirurgen Richter und des Anatomen Wrisberg. Selle wandte sich besonders der praktischen Medizin zu und wurde von der Lehre der „pathologischen Veränderungen in den Körpersäften“ als Grund für Krankheiten im allgemeinen stark beeinflußt. Die daraus resultierende Behandlungsart, kranke Säfte, die „gallichten Schärfen“, durch ausleerende Mittel zu beseitigen, spielte später in der Selleschen Krankenbehandlung eine große Rolle. Mit einer Arbeit über die Lehre von den Fiebern wurde er im Jahre 1770 in Halle zum Doktor der Medizin promoviert.

Danach kehrte Selle nach Berlin zurück. Die ersten Jahre seiner ärztlichen Tätigkeit ließen ihm noch Zeit zu literarischen Arbeiten. Er übersetzte zahlreiche fremdsprachige Werke, unter anderem Beobachtungen zur Verbesserung der Kriegslazarette (1772) aus dem Englischen und Anatomische, physiologische und physikalische Beobachtungen der Augen (1776) aus dem Französischen. Eine umfassende Fieberlehre gab er 1773 heraus unter dem Titel Rudimenta pyretologiae methodicae, und 1777 erschien eine Einleitung in das Studium der Natur- und Arzneywissenschaft, ein Werk, das dem damaligen Medizinstudenten leicht verständlich den Aufbau der Medizin, ihre Spezialfächer und die Anforderungen an den Arzt umreißt.

1773 erhielt Selle den Auftrag, die Landgräfin Caroline von Hessen-Darmstadt mit ihren drei Töchtern auf einer Schiffsreise nach Petersburg zu begleiten. Nach seiner Rückkehr wurde er in Heilsberg Leibarzt des Bischofs Krasicky von Ermland, den er auch auf mehreren Reisen begleiten mußte. 1778 erhielt er die Stelle eines Arztes an der Charité. Mit seinem Vorgesetzten und Kollegen Christian Andreas Cothenius gab es zwar keine wissenschaftlichen Gemeinsamkeiten in der Krankenbehandlung, aber ansonsten waren beide freundschaftlich miteinander verbunden. Selle setzte die iatrochemische Richtung (Besieger der ärztlichen Kunst durch Arzneien) des 17. Jahrhunderts fort mit kräftig wirkenden Mitteln, während Cothenius eher milde wirkende Arzneien verschrieb. Trotz dieser „Roßkuren“ wurde Selle 1785 neben Cothenius und anderen zum Leibarzt bei König Friedrich II. von Preußen berufen. Obwohl Friedrich der Große allgemein kein großes Vertrauen in Ärzte hatte und diese daher oft wechselte, blieben drei Leibärzte bis zu seinem Tode für ihn verantwortlich: Selle, Cothenius und Zimmermann.

In der von Selle noch 1786, im Todesjahr des Königs, veröffentlichtenKrankheitsgeschichte des Höchstseeligen Königs von Preußen Friedrich’s des Zweyten Majestät treten die Gegensätze zwischen Selle und Cothenius in der Behandlung des Königs deutlich zutage. Dieser Bericht gibt auch zugleich Aufschluß über die Schwierigkeiten, die ein eigenwilliger Patient wie Friedrich der Große seinen Ärzten machte. Nachdem Cothenius’ und Zimmermanns Verordnungen keine Hilfe gebracht hatten, blieb nur Selle mit seiner Behandlungsweise übrig und pflegte den König bis zu seinem Tode, jedoch retten konnte auch er ihn nicht mehr. Bekannt sind auch die philosophischen Gespräche zwischen dem König und seinem Leibarzt. Böse Zungen behaupteten, nur wegen des Gleichklangs philosophischer Seelen hätte Selle den Zugang zum königlichen Krankenzimmer bekommen. Auch den Nachfolger, König Friedrich Wilhelm II., behandelte Selle bis zu dessen Tod, und Friedrich Wilhelm III. wählte ihn ebenfalls zu seinem Leibarzt.

Als Lehrer an der Charité gab Selle 1781 die Medicina clinica heraus, ein Handbuch der medizinischen Praxis als Leitfaden für seine Vorlesungen. Das sehr klar aufgebaute Werk wurde zum Nachschlagewerk für Studierende und Ärzte und erlebte bis 1801 acht Auflagen und Übersetzungen ins Lateinische und Französische. Mit seinem ehemaligen Konsemester Ch. Fr. Voitus, der 1779 als Chirurg an die Charité kam, verband Selle eine enge Freundschaft. Beide arbeiteten zusammen Umbau- und Verbesserungsvorschläge für die Charité aus. Seit 1798 hielt Selle klinische „Kursusprüfungen“ an der Charité ab, die jeder Arzt zur Erlangung der Approbation im preußischen Staat ablegen mußte. Gleichzeitig wurde er zum zweiten Direktor des „Collegium medico-chirurgicum“ ernannt. 1789 sah er in Paris das „Hotel Dieu“ und nahm einige Anregungen nach Berlin mit. Auch hörte er die Reden auf der Versammlung der Reichsstände in Versailles, erlebte dort die französische Revolution mit, die einen großen Eindruck bei ihm hinterließ und ihn zu literarischen Publikationen anregte. 1795 wurde er mit der Erforschung einer im südlichen Preußen ausgebrochenen Typhusepidemie betraut. Nach seiner Rückkehr wurde ihm der Titel eines Geheimen Rates verliehen.

Selles Wirken als Arzt fand keinesfalls den ungeteilten Beifall seiner Zeitgenossen. Die einen erhoben Einspruch gegen seine Behandlungsmethoden, die anderen neideten ihm seine Erfolge und seine Vielseitigkeit, wiederum andere hielten ihn mehr für einen Philosophen denn für einen Arzt. Ernst Ludwig Heim, der wohl damals bekannteste Arzt in Berlin und Leibarzt der Königin Luise, schrieb von Selle: „Seiner eigenen Meinung nach war er ein großer Philosoph, was jedoch die Philosophen nicht einräumten, sondern ihn für einen großen Arzt hielten. Die Ärzte dagegen erkannten ihn nur als Philosophen an“. Und in der Tat gehörte Selle der Preußischen Akademie der Wissenschaften als Philosoph an, 1797 wurde er Direktor der Philosophischen Klasse, seine Akademiearbeiten behandelten nur philosophische Themen, unter anderem „Von den Gesetzen der menschlichen Handlungen“, „Über Natur und Offenbarung“. Für ihn wurde alle Erkenntnis durch Erfahrung gewonnen, „Erkenntnisse a priori“ gab es für ihn nicht, damit stand er in gegensätzlicher Auffassung zu Kant und versuchte, diesen zu widerlegen. Noch in seinen letzten Lebensjahren beschäftigte er sich mit erkenntnistheoretischen Fragen.

Als Arzt und Philosoph und Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften konnte Selle 1798 Friedrich Wilhelm III. davon abhalten, diese Institution aufzulösen. Neben großem Können hatte Selle auch diplomatisches Geschick und nutzte seine Verbindungen zum Königshaus und zu weiteren einflußreichen Persönlichkeiten und Institutionen weniger für sich als für öffentliche Angelegenheiten.

Christian Gottlieb Selle hatte 1778 Sophie Luise Meckel, die Tochter des Lehrstuhlinhabers für Anatomie, geheiratet, die ihm sechs Kinder gebar, von denen drei früh starben. 1788 starb auch seine Frau. 1792 heiratete er Charlotte Constantia Meckel, verwitwete Eimboke, eine Schwester seiner ersten Frau. Diese und eine dritte im Jahre 1798 mit Charlotte Luise Wilhelmine Ulrike Dacke geschlossene Ehe blieben kinderlos.

 

Im Laufe des Jahres 1800 begann Selle, der sich keine Schonung in seiner Arbeit gönnte, zu kränkeln. Er hatte seine Krankheit, eine Lungenschwindsucht, klar erkannt und sagte die Stunde seines Todes genau voraus, als ein Mittel, das er sich wenige Stunden zuvor verordnet hatte, keine Wirkung mehr zeigte.

Ilse Gudden-Lüddeke