Biographie

Sembritzki, Johannes (Carl)

Herkunft: Ostpreußen
Beruf: Apotheker, lokaler Kunsthistoriker
* 10. Januar 1856 in Maggrabowa/ Ostpreußen
† 8. März 1919 in Memel

Johannes Sembritzki (lit. Johanas Zembrickis) ist bis heute als Verfasser der umfangreichsten und nach wie vor einschlägigen Geschichte der Stadt Memel bekannt. Die erste Ausgabe erschien in zwei Bänden 1900-1902, die zweite Auflage von 1926 erlebte 1977 einen Nachdruck. Im Jahre 2002 erschien das Werk in einer zweibändigen litauischen Übersetzung, der – als dritter Band – 2011 die ebenfalls erstmals ins Litauische übersetzte Geschichte des Kreises Memel ergänzt wurde, die Sembritzki 1918 im Auftrag des damaligen Kreisausschusses vorgelegt hatte (Nachdruck der deutschen Ausgabe 1979). Mit diesen beiden Werken ist die Region, der Sembritzkis Forschungen zeitlebens galten, geographisch umrissen. In der ostpreußischen Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts war Sembritzki in den drei Jahrzehnten vor seinem Tod der maßgebliche Landesforscher für Memel und das Memelland. Er betreute in seiner Freizeit außerdem das Archiv der Stadt Memel, das bis 1944 die von ihm eingeführte Ordnung beibehielt.

Sembritzki selbst stammte aus dem damaligen Landkreis Oletz­ko im östlichen Ostpreußen, der bis 1945 zum Regierungsbezirk Gumbinnen gehörte. Sein Vater, Sohn eines polnischen Instmanns (Gutstagelöhners), war seit 1854 Lehrer an der Armen­schu­le in Marggra­bowa. Seine Mutter Aurelie, geborene Dziobek, war die Tochter des dortigen Kantors. Ihr ältester Sohn Johannes widmete sich in seinen autobiographischen Aufzeichnungen ausführlich dem kulturellen Spannungsverhältnis, das in jenen Zeiten einer einerseits zunehmenden Germanisierungspolitik und eines andererseits wachsenden polnischen Identitätsbewusstseins auf die Erziehung und Bildung vieler Heranwachsender der polnischen wie litauischen Bevölkerungsgruppen Ostpreußens einwirkte. Beim Vater hätten „masurisch-polnische Geburt und deutsche Erziehung […] als unvermischte Gegen­sät­ze nebeneinander“ (S. 4) bestanden; beim Sohn löste sich dieser Gegensatz, unter dem Einfluss der Mutter, nur durch eine bewusste Entscheidung für eine ostpreußische Identität auf, in der sich „deutsche Cultur und deutsches Geistesleben“ (S. 5) und ein lutherischer Glaube vereinheitlichten. Der Ton von Sem­britz­kis Selbstdarstellung ist geprägt von einem nationalisierten Patriotismus, wie er in der Zeit des Zweiten Kaiserreiches in der Region vorherrschte. Bei Johannes Sembritzki führte die komplizierte kulturelle Sozialisation der Kindheits- und Jugendjahre zu einem lebenslangen ausgeprägten Interesse an der deutschsprachigen Kulturgeschichte der Region.

Nachdem ihn bis dahin sein Vater zuhause unterrichtet hatte, bezog Sembritzki 1869 das Königliche Gymnasium in Lyck, das er 1874 mit der Primarreife wieder verließ. Nach Absolvierung des Militärdienstes ging er seit April 1877 bei dem Apotheker in Marggrabowa in die dreijährige Lehre. Bald darauf zog er nach Memel, wo er seine Braut, eine gebürtige Litauerin, kennenlernte. Die Heirat fand 1881 statt, seine Frau Karoline, geborene Šličkus, starb 1902; über die zweite Ehefrau, die er bald darauf heiratete, ist nichts Näheres bekannt. Nach einer halbjährigen Zwischenstation in Inowrazlaw lebte die Familie 1882-87 in Tilsit, die Jahre danach wohnten sie in Königsberg, Memel und wiederum Tilsit, bevor sich Sembritzki im Jahre 1893 endgültig in Memel niederließ, um dort wieder als Apotheker zu arbeiten. Seit Anfang der 1880er Jahre war er neben dem Apothekerberuf journalistisch für verschiedene polnische Zeitschriften tätig gewesen, ab Mitte des Jahrzehnts veröffentlichte er erste Aufsätze zur regionalen Geschichte und Volkskunde. Inwieweit er in Tilist mit der dort 1879 gegründeten „Litauischen literarischen Gesellschaft“ in Kontakt stand, muss offenbleiben, aber er lernte damals nach eigener Aussage die litauische Sprache.

Zum fünfundzwanzigsten Schriftsteller-Jubiläum veröffentlichte Sembritzki im Jahr 1911 eine schmale autobiographische Schrift als einen Privatdruck in 25 Exemplaren. Seine journalistischen Anfänge tut er hier als „masurisch-polnische Periode“ (S. 13) ab. Er wollte, das belegt dieser kleine Text eindrücklich, als Historiker der deutschen Kultur- und Literaturgeschichte Ostpreußens wahrgenommen werden. Dementsprechend lässt er seine Schriftstellerexistenz mit dem Erscheinen des ersten Aufsatzes in der „Altpreußischen Monatsschrift“ 1886 „Ueber masurische Sagen“ beginnen. Das Periodikum des „Vereins für die Geschichte der Provinz Preußen“ blieb bis an sein Lebensende Sembritzkis wichtigster Publikationsort, fast 80 Aufsätze veröffentlichte er dort. Aber auch in anderen Zeitschriften und keineswegs nur in der Region gelangten Forschungsbeiträge von ihm zum Druck, so etwa im „Euphorion“ oder in der „Zeitschrift für Bücherfreunde“.

Der Schwerpunkt seiner Studien lag auf der ostpreußischen Literaturgeschichte des 18. und frühen 19. Jahrhunderts und auf biographischen bzw. genealogischen Arbeiten aus diesem Zeitraum. Insgesamt verfolgte Sembritzki einen positivistischen Ansatz und bemühte sich um Details und um Quellennähe. Mehrfach widmete er sich dem Diakon in Mohrungen und Dichter Sebastian Friedrich Trescho, in dessen Haus der junge Herder einst gelebt hatte; auch der Kaufmann, Bankier und Dichter Christlieb Ferdinand Schwedersky, der aus Ruß stammte und in St. Petersburg verstarb, verdankt ihm, nicht völlig in Vergessenheit geraten zu sein. Mit Johann Georg Scheffner, Theodor Gottlieb von Hippel oder Immanuel Kant hat er sich ebenso befasst wie mit Memeler Schriftstellern, die zwischen 1816 und 1865 in lokalen Zeitschriften publiziert haben. Mitunter erreichten die Aufsätze monographischen Umfang und wurden teilweise auch gesondert publiziert bzw. in Bibliotheken zusammengebunden. Ein Beispiel dafür ist der bis heute wichtige und längst nicht hinreichend ausgewertete Aufsatz Die ostpreußische Dichtung 1770-1800, der in Band 45 der „Altpreußischen Monatsschrift“ in zwei Folgen über mehr als 200 Seiten reichte. Sembritzki legte aber auch mehrere Bücher vor. So gab er aus dem Nachlass von Hermann Frischbier Hundert Ostpreussische Volkslieder in hochdeutscher Sprache (1893) heraus. Sein Hauptwerk war jedoch die Stadtgeschichte Memels, der er nicht nur die Geschich­te des Kreises Memel an die Seite stellen wollte. Sem­britzki starb inmitten der Arbeiten an einer parallelen Geschichte des Kreises Heydekrug, die 1920 von Artur Bittens für den Druck fertiggestellt wurde. Im selben Jahr überführte seine Witwe die private Büchersammlung, die mehr als 3.500 bibliographische Einheiten zählte, in die neugegründete Öffentliche Stadtbibliothek.

Lit. (erwähnte Werke): Ueber masurische Sagen, in: Altpreußische Monatsschrift 23 (1886), S. 601-612. – Hundert ostpreussische Volkslieder in hochdeutscher Sprache. Gesammelt und mit Anmerkungen versehen von Hermann Frischbier und aus dessen Nachlass hrsg. v. J. Sembrzycki, Leipzig 1893. – Geschichte der Königlich Preussischen See- und Handelsstadt Memel, 2 Bde., Memel 1900-1902. – Sebastian Friedrich Treschi, Diakonus zu Mohrungen in Preussen. Sein Leben und seine Schriften, in: Oberländische Geschichtsblätter 7 (1905), S. 1-176. – Christlieb Ferdinand Schwedersky, ein vergessener Kaufmann und Dichter, Memel 1906. –  Beiträge zur ostpreußischen Literaturkunde. I. Die heimischen Schriftsteller der Memeler Wochenblätter, mit Berücksichtigung des Tilsiter Wochenblatts. Eine literarisch-statistische Studie aus den Jahren 1816-1865, in: Altpreußische Monatsschrift 43 (1906), S. 389-412 u. 575-602. – Die ostpreußische Dichtung 1770-1800, in: Altpreußische Monatsschrift 45 (1908), S. 217-335 u. 361-440. – Geschichte des Kreises Memel. Festgabe zum Andenken an die 34jährige Verwaltung des Kreises durch Geheimen Reg.-Rath Cranz. Im Auftrag des Kreisausschusses verfasst v. J. Sembritzki, Memel 1918. – Geschichte des Kreises Heydekrug. Im Auftrage des Kreisausschusses verfaßt v. J. Sembritzki u. Artur Bittens, Memel 1920. – Johannes Sembritzki, Zum fünfundzwanzigjährigen Schriftsteller-Jubiläum am 10. Januar 1911. Autobiographisches (Königsberg 1911). – Kurt Forstreuter, Sembritzki (Sembrzycki) Johannes Karl, in: Altpreußische Biographie 2, S. 664-665. – (mit Hinweisen auf poln. Lexika) https://pl.wikipedia.org/wiki/Jan_Karol_Sembrzycki. – http://krastas. klavb.lt/zembrickis-sembritzki-johannas-1856-1919/ – (Nachrufe) Arthur Warda: Johannes Sembritzki, in: Mitteilungen der Litterarischen Gesellschaft Masovia 25 (1920), S. 24-25. – Ders., Lebensnachrichten über Johannes Sembritzki, in: Euphorion, Ergänzungsheft 15 (1923), S. 95-96. – Rudolf Naujok, Johannes Sembritzki. Dem Geschichtsschreiber der Stadt Memel zum 75. Geburtstag, in: Der Grenzgarten – Beilage des Memeler Dampfboots 19.12.1930. – Anders als die deutsche hat sich die polnische Forschung mit Sembritzki befasst, dabei allerdings aus den frühen journalistischen Tätigkeiten ein einseitiges Bild von ihm als einem Wortführer für die Entwicklung eines polnischen Nationalismus in Preußen gezeichnet, z.B. Danuta Kasparek, Jan Karol Sembrzycki. 1856-1919, Olsztyn 1988.

Bild: Damals Memel – Klaipeda heute. Informatives für Heimat- und Familienforscher, 2021.

Axel E. Walter