Biographie

Serkin, Rudolf

Herkunft: Sudeten (Böhmen u. Mähren, österr. Schlesien)
Beruf: Pianist
* 28. März 1903 in Eger/Böhmen
† 8. Mai 1991 in Guilford, Vermont/USA

Wenn Würdigungen, Plattenrezensionen und Zeitungskritiken fortwährend mit Überschriften – nein: Schlagzeilen wie z.B. „Das fiebrige Klavier“, „Feuer und Fülle“, „Weltklasse ohne Startum“, „Diskographie eines Vulkans“, „Leidenschaftlich und stilgetreu“ usw. versehen bzw. verziert werden, bekommt man schon eine Vorstellung davon, von wem denn da die Rede sein könnte: allem Anschein nach von einem Pianisten der Welt-Elite, dessen Spiel sich durch ein Höchstmaß an Feuer, Leidenschaftlichkeit und zugleich Werktreue auszeichnen muß. In der Tat, Rudolf Serkin – 1903 in Eger geboren, „ein Böhme wie Gustav Mahler, dem großen Komponisten und Dirigenten sowohl im Hinblick auf expressionistische Gewalt wie auch physiognomisch ähnlich“ (so Joachim Kaiser) – genießt einen geradezu legendären Ruf als Klavierinterpret.

Jahrzehntelang gehörte Serkin – mittlerweile 80 Jahre alt und kaum noch in Amerika, geschweige denn in Deutschland zu hören – zu den bedeutendsten Pianisten des 20. Jahrhunderts. Und noch in den siebziger Jahren konnte ein metierkundiger Kritiker der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ mit voller Berechtigung schreiben: „Serkin gehört … zu dem knappen Dutzend Pianisten, die man nennen muß, will man das heutige Spektrum von Klavierspiel und musikalischer Interpretation verbindlich definieren.“

Seine Ausbildung erhielt der ,Böhme‘ Serkin in der Musikmetropole Wien; sein Klavierspiel vervollkommnete er bei Richard Robert – auch als Lehrer Clara Haskils bekannt –, und seine kompositorischen Fähigkeiten wurden sowohl von dem konservativen Joseph Marx als auch von dem revolutionären Arnold Schönberg weiterentwickelt. (Immerhin hat er es als Komponist geschafft, auch gedruckt zu werden.) Die pianistischen Fähigkeiten erwiesen sich jedoch als stärker, waren zumindest aus der Sicht der Musiker und Hörer attraktiver und entschieden über seinen Lebensweg: Als der berühmte, damals 30jährige Geiger Adolf Busch für seinen erkrankten Klavierbegleiter Ersatz suchte, durfte der 17jährige Serkin einspringen. Natürlich war Serkin alles andere als „Ersatz“, und so nahm ihn Busch gleich als ständigen Begleiter mit nach Berlin. Die Berliner Kritik war hellhörig genug, Serkins Rang auf Anhieb zu erkennen. Ein Vertreter der kritischen Zunft äußerte sich folgendermaßen: „Da Meister Busch keinen Lorbeer mehr braucht, so sei der bereitgehaltene Kranz seinem jungen kongenialen Klavier-Kameraden Rudolf Serkin in Bewunderung aufs Haupt gedrückt …“ Meister Busch wußte natürlich auch, daß sein Klavier-Kamerad nicht nur immer Begleiter sein, sondern auch als Solist hervortreten wollte. Und so ließ er ihn unter seiner Leitung das Claviersolo in Bachs 5. Brandenburgischen Konzert spielen. Und da der Beifall für Serkin die sprichwörtliche „nichtendenwollende“ Qualität bzw. Dauer erreichte, wurde er zu einer Zugabe aufgefordert. Und er soll – ungläubiges Kopfschütteln ist erlaubt, aber vielleicht war dergleichen damals noch möglich – Bachs Goldberg-Variationen in voller Länge gespielt haben … Wir müssen uns in der Verfolgung des weiteren Lebensweges kurz fassen: die Künstlerfreundschaft blieb bis zum Tode des Geigers im Jahre 1952 bestehen. Busch und Serkin konzertierten unentwegt zusammen; sie zogen 1927 in die Schweiz, um sich gemeinsam in der Nähe von Basel anzusiedeln;  und  beide  konzertierten nicht mehr im Deutschland der Nationalsozialisten, nachdem 1933 SA-Horden den Saal gestürmt und – auf Adolf Busch gezielt – “Juden raus“ gebrüllt hatten.

Beide gingen nach Amerika und erwarben die amerikanische Staatsbürgerschaft. Und nun wurden die freundschaftlichen Bande auch noch durch verwandtschaftliche verstärkt: Serkin heiratete 1935 Adolf Buschs Tochter Irene. Unwillkürlich denkt man an Toscanini und Horowitz, die durch des Dirigenten Tochter in ähnliche ‚familiäre Bindungen‘ gerieten. Toscanini wurde übrigens auch für Serkins Laufbahn wichtig: das von ihm 1936 in New York dirigierte Konzert mit Serkin als gefeiertem Solisten des letzten Mozartschen Klavierkonzertes öffnete dem Pianisten über Nacht die Türen aller amerikanischen Konzertsäle. Es ist hier nicht der Ort, Serkins Erfolge auf den Podien der Welt auch nur andeutungsweise zu umreißen; auch seine Tätigkeit als Professor einer Klavierklasse am Curtis Institute of Music in Philadelphia, dessen Leitung er 1968 übernahm, kann hier nur ebenso beiläufig erwähnt werden wie die Tatsache, daß sein Sohn Peter sein erfolgreichster Klavierschüler war.

Wichtig für Musikfreunde und -kenner, die ihn nicht „live“ hören bzw. erleben konnten, sind seine Schallplatten. Er hat u.a. Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Schumann, Brahms und Reger aufgenommen. Besonderen Ruf genießen seine Schubert- und Beethoven-Einspielungen, die wiederholt in geradezu emphatischen Worten gepriesen wurden.

Dies bedurfte selbstverständlich einer kritischen Überprüfung: tatsächlich bestechen die Schubert-Aufnahmen durch kompromißlose Strenge, außerordentlich große Gespanntheit und herbe Ausdrucksintensität. Aber die leisen, zarten, wehmütigen und klagenden Zwischentöne kommen nicht so recht zur Geltung, scheinen mir doch etwas zu wenig beachtet worden zu sein. Anders bei Beethoven: hier sind die Stilcharakteristika, die sein Spiel von jeher kennzeichneten, mit den Anforderungen, die die Musik stellt, vollkommen deckungsgleich, und so entstanden Aufnahmen von unvergleichlicher Ausdrucksgewalt und zugleich größtmöglicher Werktreue. Man spürt – auch bei Studio-, erst recht aber bei Live-Aufnahmen – die physische Anspannung im gepreßten Atem, engagierten Mitbrummen oder stampfenden Pedal, aber mehr noch in der unerbittlichen Wucht der Akkordschläge oder dem wilden Rasen der Läufe und Figuren. Doch bei aller ,Wildheit‘, die ihm immer wieder und zu Recht nachgesagt wurde: Der Ausdruckswille verselbständigt sich nicht auf Kosten der Form und steht vielmehr eindeutig in deren Dienst. Die Vortragsbezeichnungen werden niemals ignoriert oder umgebogen. Und technisch wird alles – wenn Serkin auch manchmal bis in Grenzbereiche des manuell Machbaren und Möglichen vordringt – ohne ,Erdenrest‘ bewältigt. Man kann es auch so sagen: eine eigentlich phänomenale Grifftechnik wird radikal und absolut in den Dienst des Werkes gestellt und so gleichsam ‚neutralisiert‘, nicht selbstzweckhaft herausgestellt. Effekt, Eleganz, Brillanz und ,Pfiff‘ sind Serkins Spiel von Grund auf fremd. Als Chopin-Interpret – hätte er Chopin je eingespielt – wäre er sicherlich entbehrlich, aber als Beethoven-Interpret ist er vorbildlich, richtungweisend und unvergleichlich: Seine Beethoven-Einspielungen gehören gewiß zu den bedeutendsten des 20. Jahrhunderts und sollten nicht nur ‚Klavieromanen‘ und ,Diskophilen‘ bekannt sein!