Biographie

Serner, Walter

Herkunft: Sudeten (Böhmen u. Mähren, österr. Schlesien)
Beruf: Schriftsteller
* 15. Januar 1889 in Karlsbad/Böhmen
† 1. Januar 1942

Walter Serner, der am 15. Januar1889 in Karlsbad geborene Jurist, der eigentlich Seligman hieß, Jude war und nach seinem Übertritt zum katholischen Glauben den Namen Serner bewilligt bekam, war der große Mystifikateur seiner Zeit: ein Hasardeur, Philosoph, Dichter, Verwandlungskünstler in gebürstetem Frack, Weste, grauer Krawatte und mit Rohrstöckchen. Als Mitbegründer der Kunstbewegung DADA hatten seine Verrücktheiten weltmännische Eleganz. Mit seinem 1918 geschriebenen Manifest „Letzte Lockerung" hatte der während des Ersten Weltkrieges in die Schweiz ausgewichene Autor Wirkung bis nach Paris hin.

Doch sein erstes publizistisches Forum war die liberale „Karlsbader Zeitung", die sein Vater herausgab und für die der in Wien studierende Walter Serner „Kunstbriefe" verfaßte. Serner setzte sich sehr schnell wieder von der DADA-Bewegung ab, blieb ein Einzelgänger, der hin und her durch Europa zog. Er hatte noch Lenin in Zürich kennengelernt und nach der russischen Oktoberrevolution hellsichtig geschrieben: „Jede Revolution war die sehnsüchtige Empörung nach einer geliebteren Faust." Die Einwohner- und Fremdenkontrolle der Stadt Zürich registrierte von 1915 bis 1933 ganze 34 Wohnsitze Serners.

Wovon Serner seinen Lebensunterhalt bestritten hat, niemand weiß es. Immerhin hatte er in dem holländischen Millionär Anton van Hoboken einen treuen Gönner, dem er seine „Letzte Lockerung" widmete. Serner schrieb Kriminalgrotesken über die Halb- und Unterwelt mit ihren Brutalitäten, Frivolitäten und Banalitäten — Abbilder einer Zeit des Bluffs. Seine Werke erschienen im Steegemann-Verlag in Hannover. 1927/28 legte der Verlag dann lauch eine siebenbändige Kassette, eine Gesamtausgabe, vor. Der Maler Christian Schad, ein Freund Serners, illustrierte die Umschläge.

Hinter den kühlen Formulierungen, mit denen er eine hochstaplerische Epoche denunzierte, steckt Verzweiflung bis hin zum Menschenekel über die allgemeine Heuchelei. In dieser Atmosphäre sind Serners Kriminelle noch die Ehrlichsten. In ihrer Ehrlichkeit fühlt sich ihr Schöpfer aufgehoben. „Ob nicht das menschliche Gehirn bloß ein hereditär-chronisches Geschwür ist?" So fragt Walter Serner. 1931 soll Serners Buch „Die Tigerin" auf die Liste der Schmutz- und Schundschriften gesetzt werden. Alfred Döblin vereitelt es mit einem Plädoyer für den Dichter Serner. Dann kommt ein neuerlicher Indizierungsantrag aus München. Die Entscheidung gegen Serner fällt am 25. April 1933. Die Nazis sind da. Walter Serner hat sich mit seiner Lebensgefährtin Dorothea Herz, einer Berliner Jüdin, in Sicherheit gebracht. 1938 heiraten die beiden. Nach dem Anschluß Österreichs an Deutschland finden Serner und seine Frau Zuflucht in der Tschechoslowakei. Er will nach Shanghai auswandern. Doch die Deutschen, die den Rest der Tschechoslowakei okkupieren, sind schneller. Serner und seine Frau wohnen in der Kolkovna 5/920 im ehemaligen Judenviertel .

Von dort kommen sie am 10. August 1942 nach Theresienstadt. Am 20. August sind sie als Nr. 803 und 804 nach dem Osten deportiert worden. Mit unbekanntem Ziel, heißt es in der Deportiertenkartei, die in der Jüdischen Gemeinde Prag liegt. Da die Deportationen nach Auschwitz im Oktober 1942 beginnen, sind Serner und seine Frau offensichtlich in die Gegend von Minsk gekommen, wo die „Einsatzgruppe B" zwei fahrbare Gaskammern stationiert hatte. Darin wurden die Menschen durch Einleiten der Auspuffgase getötet.

Ein ganzes Jahrzehnt ging der Student Thomas Milch aus Heidelberg dem Lebensweg Walter Serners nach: Zürich, Genf, Lugano, Barcelona, Paris, Berlin, Wien, Karlsbad, Prag … Ein erster Versuch des „gerhard Verlags", Berlin, Serner mit dem Neudruck von „Letzte Lockerung“ und „Zum blauen Affen“ durchzusetzen, war 1964 gescheitert. 1981 begann der Ein-Mann-Verlag Klaus G. Renner eine von Thomas Milch herausgegebene achtbändige Serner-Werkausgabe zu drucken, die 1984 abgeschlossen wurde. Im achten Band legte der Germanist Milch das Ergebnis seiner langwierigen Recherchen vor, so daß sich erstmals ein Lebensbild des Mystifikateurs Serner jenseits der Legenden ergab. Thomas Milch, Jahrgang 1953, gelang es, Licht in das Dunkel der letzten Lebensstationen Serners zu bringen, der sich in Prag schließlich als Sprachenlehrer durchschlug. Das große Echo auf Milchs Wiederentdeckung zwang zugleich eine lahme Literaturwissenschaft, sich endlich des Falles Serner anzunehmen.

Dieser Walter Serner hatte schon früh gewußt, was Europa zerstört. 1916 schrieb er im Schweizer Exil: „Nur die Phrase, die am tiefsten schuldig macht, weil sie wider den Geist ist, kann solch ein Unheil gebären. Nur wer sein Wort ausspricht, das ihn nicht so klar erfüllt, daß es ihn erschauern macht, vermag den Mord sich befehlen zu lassen. Nur wer vor dem Wort stumpf ist, bleibt es auch vor der Tat.“

Werke: Letzte Lockerung: Manifest Dada. Hannover: Paul Steegemann Verlag. Die Silbergäule, Bd. 62/64, 1920. Zum blauen Affen. Dreiunddreißig hahnebüchene Geschichten: Hannover: Paul Steegemann Verlag. Die Silbergäule. Bd. 91/98,1920. Der elfte Finger: 25 Kriminalgeschichten. Hannover: Paul Steegemann Verlag, 1923. Die Tigerin: Eine absonderliche Liebesgeschichte. Berlin: Elena Gottschalk, 1925. Der Pfiff um die Ecke: 22 Spitzel- und Detektivgeschichten. Berlin: Elena Gottschalk. Die tollen Bücher. Bd. 4,1925. Die tückische Straße: Neunzehn Kriminalgeschichten. Wien: Dezember Verlag (Privatdruck). 1926. Posada oder Der große Coup im Hotel Ritz: Ein Gauner-Stück in drei Akten. Wien: Dezember-Verlag, 1926, Titelauflage bei Steegemann, 1927. Die Bücher von Walter Serner: Kassette in sieben Bänden. Mit Umschlägen von Christian Schad. Berlin: Paul Steegemann Verlag, 1927. Hirngeschwuer: Walter Serner und Dada. Texte und Materialien. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Thomas Milch. Erlangen: Verlag Klaus G. Renner, 7. Das gesamte Werk: Acht Bände. Herausgegeben von Thomas Milch. Erlangen, München: Verlag Klaus G. Renner. 1979-1984. Die Hoffnung des Schenkers wegen Mängel im Rechte und wegen Mängel der verschenkten Sache: Dissertation Serners. Suppl. Bd. 1. München: Verlag Klaus G. Renner, 1982. Das fette Fluchen: Ein Walther-Serner-Gaunerwörterbuch. Suppl. Bd. 2. München: Verlag Klaus G. Renner, 1983.

Quelle: Jürgen Serke „Böhmische Dörfer. Wanderungen durch eine verlassene literarische Landschaft. Wien, Hamburg 1979, S. 445—47. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Paul Zsolnay Verlages, Wien.