Ernst Siehr wurde als Sohn des Kreisrichters und späteren Justizrats Carl Siehr und dessen Ehefrau Pauline Siehr geb. Albrecht, Tochter des Kaufmanns Theodor Albrecht und dessen Ehefrau Johanna geb. Terheyden geboren und wuchs mit fünf Brüdern auf; eine Schwester starb im Kindesalter. Vater Siehr ließ sich, nach kurzer Tätigkeit in Tilsit, als Anwalt in Angerburg nieder; hier besuchte Ernst von 1876 bis 1879 die Bürgerschule. Am 1. Oktober 1879 wechselte der Vater als Anwalt nach Insterburg, wo Sohn Ernst auf das Gymnasium kam, das er 1886 mit dem Abitur verließ, um an den Universitäten Königsberg (Mitglied der Landsmannschaft Lituania), München und Berlin Rechtswissenschaften zu studieren (Referendar 1889; Assessor 1894). Siehr hatte 1891/92 als Einjährig-Freiwilliger beim 1. Feldartillerie-Regiment gedient. Am 11. Januar 1895 wurde er als Rechtsanwalt in Insterburg zugelassen und trat als Sozius in die Kanzlei seines Vaters ein (ab 1906 Notar im Nebenamt). Seit dem 23. April 1895 gehörte Ernst Siehr der Insterburger Loge zum Preußischen Adler an. Am 26. April 1895 heiratete er Paula Albrecht; der Ehe entstammten sechs Kinder (Ernst und Robert * 1896; Hermann * 1898; Elsbeth * 1902; Albrecht * 1905 und Paula * 1906). Vater Carl Siehr starb 1907; Bruder Max Siehr trat als Sozius in die Kanzlei ein.
Sehr bald übernahm Siehr in Insterburg öffentliche bzw. politische Aufgaben, von 1895 bis 1911 war er Syndikus der Handelskammer, von 1908 bis April 1920 Stadtverordneter (1919/20 Stadtverordnetenvorsteher). Getragen von sozialliberalen Ideen bewarb er sich 1911 als Mitglied der Fortschrittlichen Volkspartei um ein Reichstagsmandat; von 1912 bis 1918 war Siehr Mitglied des Reichstages. Vom 20. August 1914 bis zum 30. November 1918 gehörte er dem mobilen Landsturmbataillon Insterburg an (Bataillons-Adjudant; Leutnant der Landwehr), das ihn einige Male von der Front zu wichtigen Reichstagsitzungen zu beurlauben hatte, zuletzt Anfang November 1918, so daß er die Revolution in Berlin miterlebte. Zusammen mit Oberbürgermeister Dr. Otto Rosencrantz sorgte Siehr dafür, daß Insterburg in der Revolution eine "friedliche Oase" blieb.
Am 19. Januar 1919 wurde Siehr als Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) in die Verfassungsgebende Nationalversammlung gewählt. Am 22. Mai 1919 trat im Berliner Abgeordnetenhaus das Ostparlament zusammen; Siehr gehörte dem Aktionsausschuß "Nord" an, der am 27. Mai im Remter der Marienburg tagte und dann kurze Zeit, bis zur Auflösung, in Danzig tätig war.
Nach dem Kapp-Putsch (13. bis 17. März 1920), der zur Ablösung des Oberpräsidenten August Winnig führte, trug man Siehr die Nachfolge an, die er zunächst ablehnte. Am 11. April 1920 wurde Siehr zum kommissarischen Oberpräsidenten berufen (am 27. Juli ernannt). Am 12. April trat er sein Amt in Königsberg an. Seine erste Aufgabe war es, die Folgen des Kapp-Putsches zu beseitigen; die Staatsregierung hatte hierzu bereits am 31. März den Königsberger Stadtrat Albert Borowski als Reichs- und Staatskommissar berufen, der am 28. Mai aus dieser Tätigkeit ausschied. Am 28. April war die "Ostpreußenstelle" in Berlin eingerichtet worden, gleichsam "als eine Vertretung des Oberpräsidenten beim Reichs- und Staatsministerium"; sie wurde besetzt durch den bisherigen Bürgermeister von Osterode, Dr. Christian Herbst.
Siehr stand zwölfeinhalb Jahre lang an der Spitze der Provinz, erlebte Höhepunkte wie die Volksabstimmung vom 11. Juli 1920, aber auch schwere Wirtschaftskrisen der Heimat im "Würgeband" des polnischen Korridors. Seine Reden bei der jeweiligen Eröffnung des Provinziallandtages waren klar und offen; er warnte vor nationalistischen Bestrebungen Polens und scheute sich nicht, die moralische Schuld und die völkerrechtswidrigen Handlungen der Siegermächte anzuprangern. Siehr suchte über die Spannungen der Parteien hinweg, die nationale Einheit zu wahren, ja, bei wichtigen Problemen eine Einheitsfront zu bilden. In Fragen der Sicherheit und Wirtschaft (auch gegenüber den Elchen) übernahm Siehr hohe Verantwortung. Mit Interviews, Presseartikeln und Aufsätzen wirkte er in die Öffentlichkeit hinein, machte sich auch zum Sprachrohr der Bürger. Seiner Familie und seiner Heimat Ostpreußen war Siehr mit dem Herzen verbunden. Sein Lebensstil war anspruchslos, schlicht und zurückhaltend. Siehr erfuhr hohe Ehrungen: Er wurde Ehrendoktor der Albertina und Ehrenbürger der Stadt Insterburg. Als Kurator der Königsberger Kunstakademie sowie der Braunsberger Akademie und als Mitglied der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung sowie der Insterburger Altertumsgesellschaft hielt er Verbindung zur geistigen Welt der Heimat.
Anfang 1932 setzten Spannungen ein, nicht nur im Provinziallandtag, wo sich Siehr schützend vor einen Sachbearbeiter stellte, der ein Jude war. Durch den zuständigen Minister in Berlin wurde dem Oberpräsidenten die Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen den Leiter eines Kreditinstitutes verweigert. Daraufhin stellte Siehr am 1. August 1932 Antrag auf Entlassung zum 1. Oktober desselben Jahres. Der Reichskommissar für Preußen, von Papen, genehmigte den Antrag; Siehr wurde am 30. September 1932 aus dem Dienst entlassen. Nach dem Ausscheiden aus dem Amte sprach ihm der Landkreistag den Dank aus "für seine langjährigen erfolgreichen Bemühungen, unsere Heimatprovinz einer nationalen Festigung und wirtschaftlicher Wiederbelebung zuzuführen." Und der Provinzialausschuß brachte Siehr gegenüber den wärmsten Dank für unermüdliche Arbeit zum Ausdruck: "Wenn heute das Schicksal Ostpreußens im gesamtdeutschen Bewußtsein schon weitestens den Platz einnimmt, der ihm zukommt, so ist dieser Erfolg in besonderem Maße auch Ihnen zuzuschreiben."
Siehr nahm seine Tätigkeit als Rechtsanwalt und Notar wieder auf. Er konnte 1945 Königsberg noch vor der Einschließung durch die Rote Armee verlassen, so daß ihm deren Brutalitäten erspart blieben. Er starb als Flüchtling nur wenig später. Er hatte sich um die Stadt Insterburg und die Provinz Ostpreußen verdient gemacht.
Quellen:Ernst Wermke: Bibliographie der Geschichte von Ost- und Westpreußen. (Bd. 1) Königsberg i.Pr. Verl. Gräfe u. Unzer 1933. Reg.; (Bd. 2) Aalen: Scientia Verl. 1964. Reg.; (Bd. 3) Bonn- Bad Godesberg: Verl. Wissenschaftl. Archiv (1974) Reg. – Reichstagshandbuch. 1. Wahlperiode 1920 (Foto). – Wer ist’s? VIII. 1922; X. 1935. – Altpreußische Forschungen. Hrsg. v.d. Histor. Kommission f. ost- u. westpr. Landesforschung. 1. Jg. H. 2. Vereinsnachrichten S. 149. Königsberg i.Pr. 1924. Verl. Bruno Meyer & Co. – Siehr, Ernst: Ostpreußische Wirtschaftsprobleme. In: Ztschr. f.d. Gesamte Wissenschaft. Bd. 86. H. 3. 449-471. Tübingen: Verl. J.C.B. Mohr (1929). – Ders.: Ostpreußen nach dem Kriege. Sonderdruck aus: Deutsche Staatenbildung u. deutsche Kultur im Preußenlande. Königsberg i.Pr.: Gräfe u. Unzer (1931) S. 1-17. – Ders.: Skizzen (Maschr. 1933-1941). – Reichshandbuch d. dt. Gesellschaft. Bd. 2. 1931. – Schumacher, Bruno: Geschichte von Ost- und Westpreußen. 4. Aufl. Hrsg. vom Göttinger Arbeitskreis. Würzburg: Holzner Verl. (1959). Reg.- Siehr, Kurt: Ernst Ludwig Siehr. In: Altpr. Biographie. 5. Lfg Bd II. S. 672. Marburg/L.: Verl. N. G. Elvert 1963. – Matull, Wilhelm: Ostpreußens Arbeiterbewegung. Geschichte und Leistung im Überblick. Würzburg: Holzner Verl. 1970. Reg.- Hauf, Richard: Die politische Situation Ost- und Westpreußens nach dem Ersten Weltkrieg. In: Zwischen den Weltkriegen. Teil I. S. 7-32. Lüneburg: Verl. Nordostdeutsches Kulturwerk 1986. – Biewer, Ludwig: Ostpreußens Aspekte im Preußen der Weimarer Republik. In: ebd. S. 33-63. – Motekat, Helmut: Aspekte des geistigen und literarischen Lebens in Ost- und Westpreußen unter der Auswirkung der Inselsituation 1918-1933. In: Zwischen den Weltkriegen. Teil II. S. 9-30. Lüneburg: Verl. Nordostdeutsches Kulturwerk 1987. – Die Kartei Quassowski: Verein f. Familienforschung und Sammlungen Nr. 1. Hamburg 1991. S. 684 f. – von der Groeben, Klaus: Verwaltung und Politik 1918-1933 am Beispiel Ostpreußens. Quellen zur Verwaltungsgeschichte Nr. 4 (Hrsg. v. Vorstand des Lorenz von Stein-Instituts für Verwaltungswissenschaften an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. 1986). Reg. – Ders.: Das Land Ostpreußen. Selbsterhaltung, Selbstgestaltung, Selbstverwaltung 1750 bis 1945. (Quellen zur Verwaltungsgeschichte Nr. 7) Kiel: 1993. Reg. –
Bild: Aus dem Besitz der Enkelin Brigitte Ballauff-Siehr in Königstein/Taunus.
Gerd Brausch