Biographie

Sievers, Jacob Johann Graf von

Herkunft: Baltikum (Estland, Lettland, Litauen)
Beruf: Politiker, Botschafter
* 19. August 1731 in Wesenberg/Estland
† 11. Juli 1808 in Bauenhof/Livland

Die Familie Sievers aus Holstein gelangte in Russland im 18. Jahrhundert zu großem Einfluss. Es mochte nicht zuletzt daran gelegen haben, dass dem Herzog Carl Friedrich von Holstein-Gottorp, Vater des Zaren Peter III., Schwiegervater Katharinas II., Schwiegersohn Peters des Großen, nach dem Tode seiner Ehefrau Anna Petrovna von seiner nicht angetrauten Frau Wriedt eine Tochter geboren wurde, Caroline. Diese heiratete den holsteinisch herzoglichen Amtmann von Cismar, einen Repräsentanten der holsteinischen Familie Sievers.

Peter III. hatte seine Halbschwester anerkannt und holte zahlreiche Mitglieder der Familie Sievers in das Russische Reich, wo diese aber schon zuvor – in Livland – Fuß gefasst hatten. Einfluss hatte beispielsweise Carl von Sievers als Oberhofmeister der Zarin Elisabeth. David Reinhold von Sievers wurde unmittelbar nach der Thronbesteigung Peters III. von diesem zum Leutnant bei dem holsteinischen Regiment in Russland befördert. Er wurde nach dem Sturz des Zaren von Katharina II. als russischer Offizier übernommen, fiel aber bald im Kampf gegen die Türken. Weitere Repräsentanten der Familie Sievers finden sich zu jener Zeit im russischen Heer, so Karl Eberhard von Sievers und Johann Gottlob von Sievers, die es beide bis zum General brachten. Auch ein Johann Christian von Sievers diente als Offizier damals im russischen Heer.

Wohl der bedeutendste Mitarbeiter Katharinas II., die nach dem Tode ihres Mannes von 1762 bis 1796 Russland regierte, wurde aber Jacob Johann Graf von Sievers. Der bekannte russische Historiker des 19. Jahrhunderts, Bilbassoff, betont, dass Jacob Johann von Sievers während der Regierungsperiode Katharinas zweimal eine wesentliche Rolle gespielt habe: 1764 bis 1781 als Generalgouverneur von Novgorod und 1791 bis 1792 als Diplomat in Polen.

Jacob Johann von Sievers – sein Vater war vom Großfürsten Peter zum „fürstlich-holsteinischen Canzleirath“ ernannt worden –, war ein Neffe des auch noch unter der Regierung Katharinas II. in Gunst stehenden alten Oberhofmarschalls Carl von Sievers. Dieser hatte 1743 den Neffen, der schließlich auch sein Schwiegersohn wurde, nach St. Petersburg geholt, wo er 1744 im Kollegium für Auswärtige Angelegenheiten seinen Dienst antrat. 1748 war er schon bei der russischen Gesandtschaft in Kopenhagen und von 1749 bis 1755 als russischer Diplomat in London. England prägte ihn. Zeit seines Lebens hegte Sievers eine Vorliebe für dieses Land, und manche Anregungen, insbesondere zu späteren Agrarreformen in Russland, hatten dort ihren Ursprung.

Im Siebenjährigen Krieg war Jacob Johann von Sievers gleichfalls russischer Offizier und brachte es bis zum Generalmajor. Krankheitshalber wurde er Anfang des Jahres 1761 vom Dienst suspendiert, worauf er nach Italien und Österreich reiste. Erst im Herbst 1762 kehrte er nach Russland zurück. Sievers erlebte also die Zeit Peters III. nur aus der Ferne mit.

Katharina II. lernte ihn auf ihrer ersten Inspektionsreise in den russischen Ostseeprovinzen Liv- und Estland 1764 kennen. Bald darauf begann Sievers seine Laufbahn als führender Verwaltungsbeamter. Seine Tätigkeit als Generalgouverneur von Novgorod von 1764 bis 1776, dann seit 1776 als Statthalter oder Generalgouverneur von Tver und Novgorod bis 1781, ist von seinem Biographen Karl Ludwig Blum bereits im vorletzten Jahrhundert ausführlich in vier Bänden behandelt worden. Gleich zu Beginn seiner Verwaltungstätigkeit schickte Sievers der Kaiserin demnach einen Bericht über die Erfordernisse des Gouvernements. Im Laufe seines Briefwechsels mit Katharina II. wurden Fragen der Wasserverbindungen, des Schiffsbaus, des Erhalts der Wälder, der wirtschaftlichen Lage der Bauern, der Rekrutenaushebung besprochen, die in der Praxis ihre Wirkungen zeigten. Sievers richtete in seinem Generalgouvernement eine Post ein.

Jacob Johann von Sievers bereitete mit seiner den Vorbildern der deutsch geprägten baltischen Provinzen verpflichteten Tätigkeit als Generalgouverneur von Novgorod die groß angelegte Gouvernementsreform vor, die Katharina II. 1775 im gesamten Reich durchführen ließ und die einen wesentlichen Einschnitt in der russischen Verwaltungsgeschichte bedeutete. Sievers war an diesem Reformwerk zweifach beteiligt: zum einen durch seine Tätigkeit als Leiter Novgorods als des Modellfalls für die Reform, zum zweiten aber auch durch weitere theoretische Vorschläge, die er der Kaiserin in zahllosen Briefen unterbreitete. Auf seine Initiative gehen zudem die Einführung des Kartoffelanbaus und die Abschaffung der Folter (1767) zurück. 1779 verfasste er eine Denkschrift über die Gefängnisse in Russland und schlug vor, auch hier Verbesserungen durchzuführen. Gemäß seiner Anregung gründete Katharina II. eine erste russische Assignatenbank. Die Kaiserin wandte sich ihrerseits in vielen Briefen mit Vorschlägen und Ratschlägen an Sievers – etwa 500 davon sind bekannt.

Im Jahre 1781 wurde Sievers als Generalgouverneur von Tver und Novgorod auf seinen eigenen Wunsch hin abgelöst. Nicht zuletzt ging sein Entschluss zurück auf Auseinandersetzungen mit Fürst Potemkin. Nachfolger wurde der Brite Jacob Bruce. Sievers widmete sich in der Folge der Landespolitik in Livland. Von 1783 bis 1786 war er livländischer Landrat, damit der ständischen Korporation der livländischen Ritterschaft verpflichtet und zugleich der dezentralen autonomen livländischen Landespolitik. Diesen Posten hatte Sievers also gerade in jener Zeit inne, in der Katharina II. eine Zentralisierungspolitik einleitete, die mit der Einführung der Statthalterschaftsverfassung 1783 auch in Liv- und Estland ihre Spuren hinterließ – zu Ungunsten der baltischen Sonderrolle, die Sievers selbst als Generalgouverneur mit eingeleitet hatte. Alle Provinzen am Rande des Russischen Reiches sollten dem großrussischen Kernland angeglichen werden. Im 19. Jahrhundert wurde diese Politik durch die sprachliche Russifizierung noch erweitert, die auch über die revolutionären Ereignisse von 1917 hinaus andauerte.

Der Historiker Brückner hat bereits 1913 Sievers mit dem legendenumwobenen Liebhaber Katharinas II., dem Fürsten von Taurien, Potemkin, verglichen. Brückner schreibt: „Sievers war bestrebt, in schlichter Weise den praktischen Nutzen im Auge haltend, alle Lebensverhältnisse des Volkes zu verbessern, Potemkin bemühte sich, seinen Schöpfungen in gewaltigem Pathos grandiose Formen zu geben.“ Brückners Urteil trifft wohl im Ganzen zu. Wenn Potemkin im Großen plante, so bestand Sievers Tätigkeit in einer Fülle von Einzelmaßnahmen, die aber in ihrer nachhaltigen Wirkung für das Russische Reich denen Potemkins an Bedeutung durchaus gleichzusetzen, wenn nicht gar höher einzuschätzen sind. Im übrigen standen Sievers und Potemkin in sehr schlechtem Verhältnis zueinander. Sievers zeitweilige Entlassung aus dem Staatsdienst und dann seine Wiedereinsetzung standen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem starken Machteinfluss Potemkins, den dieser auf Katharina II. besonders seit 1781 ausübte.

Erst nach dem Tod Potemkins kehrte Sievers 1791 in den Dienst Katharinas zurück. Als russischer Diplomat leitete er die zweite und dritte Teilung Polens und leistete dabei einer allgemeinen Russifizierung der Verwaltung der neu gewonnenen Gebiete Vorschub.

Jacob Johann Graf von Sievers, der Repräsentant einer holsteinischen Familie – im übrigen war er deutscher Reichsgraf, nicht etwa russischer –, war ohne Zweifel einer der bedeutsamsten Mitarbeiter der russischen Zarin. Seine Erfahrungen aus seiner Verwaltungstätigkeit ermöglichten es ihm, die Reformbestrebungen Katharinas II. zu unterstützen. Er gehörte damit allerdings auch zu jenen, die in der Exekutive im Sinne einer russischen Reichszentralisierung wirkten. Die unbedingte Loyalität gegenüber der Herrscherin, natürlicherweise zeitüblich, ist nicht zu übersehen. Auch ihrem Sohn gegenüber bezeugte Sievers seine Treue. Als Katharina II. 1796 gestorben war, schrieb der alte Sievers an seine Tochter:

„Du kennst schon den Beschluss der Vorsehung, die uns eben der unsterblichen Katharina beraubte, der von ihrem unermesslichen Reich geliebten, und die ich als meine großartige Wohltäterin insbesondere lieben musste. Die Tugenden ihres Nachfolgers werden nun in diese tiefe Wunde gießen. Möge die Vorsehung seine Gesundheit stärken! Dies ist mein erster Wunsch. Ich weiß, er will das Wohl der Menschheit, die er liebt. Gebe ihm dieselbe göttliche Vorsehung gute Räthe, treue Diener! Was kann ich nicht wieder jung werden? Ich würde ihm meine Tage weihen, wie ichs seiner unsterblichen Mutter tat.“

Von Zar Paul 1796 zum Senator und 1797 zum Chef des neuen Departements der Wasserkommunikation ernannt schied Jacob Johann Graf von Sievers 1800 aus dem Staatsdienst aus. Er musste noch als alter Mann miterleben, wie sich viele seiner Hoffnungen und Wünsche zerschlugen. Im Jahre 1801 wurde auch der Zar Paul wie sein Vater Peter III. umgebracht, was den französischen Staatsmann Talleyrand zu dem Ausspruch verleitete, die russische Staatsreform des 18. Jahrhunderts sei eine Autokratie gemildert durch Zarenmord.

Jacob Johann Graf von Sievers starb im Jahre 1808 auf seinem livländischen Gut Bauenhof im Alter von 77 Jahren.

Lit.: Karl Ludwig Blum, Ein russischer Staatsmann. Des Grafen Jacob Johann Sievers Denkwürdigkeiten, Leipzig/Heidelberg 1857-1858, 4 Bde. – Ders., Graf Jacob Johann v. Sievers und Russland und seine Zeit, Heidelberg 1864. – Arthur Kleinschmidt, Geschichte des russischen hohen Adels, Cassel 1877. – J. Engelmann, Sievers, Jakob Johann Graf, in: ADB, Bd. 34, Leipzig 1892, S. 232-240. – B. v. Bilbassoff, Katharina II., Kaiserin von Rußland im Urteil der Weltliteratur, Berlin 1897, 2 Bde. – Alexander Brückner, Geschichte Russlands bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, Gotha 1913, 2 Bde. – G. v. Helbig, Russische Günstlinge, hrsg. v. Max Bauer, München u. Berlin 1917. – Wilhelm Lenz (Hrsg), Deutsch-Baltisches Biographisches Lexikon, Köln 1970. – Hubertus Neuschäffer, Katharina II. und die baltischen Provinzen, Hannover 1975.

Bild:Jakob Johann Sievers nach Joseph Grassi.