Als Emil Sigerus einem Gastwirt aus Broos für einen alten Fußteppich seines Einspänners soviel Geld gab, daß der sich dafür einen neuen kaufen konnte, oder der Kirchendienerin von Meschen für einen Scheuerlappen zwei Kronen zahlte, lachten sich diese sicherlich ins Fäustchen ob des schrulligen Käufers. In Wirklichkeit handelte es sich im ersten Fall um ein Prachtstück eines geknüpften alten Seidenteppichs, der 1914 auf der Ausstellung altorientalischer Teppiche des Budapester Kunstgewerbemuseums eine Sensation erregte. Im zweiten Fall erwies sich der ”alte Fetzen” als eine schöne blau-weiße Weberei aus dem 15. Jahrhundert, die in der Sakristei herumgelegen hatte. Als Sigerus 1880 dem Brukenthal-Museum von Hermannstadt einen erworbenen Keramikhenkelkrug aus dem Jahre 1741 anbot, wurde er vom Kustos und dem anwesenden Stadtpfarrer mit dem Argument abgewiesen, daß man solchen Unsinn nicht sammle. Das war die Einstellung zur Volkskultur und zum Kunstgewerbe, als Emil Sigerus am Ende des vorigen Jahrhunderts seine Sammler- und Forschertätigkeit begann.
Emil Viktor Martin Peter Sigerus wurde als Sohn und fünftes von sechs Kindern des Senators und Sekretärs des Landwirtschaftsvereins, Karl Sigerus, geboren. Er verbrachte in seinem Elternhaus eine glückliche Kindheit. Die Schule bereitete ihm, wie er selbst gesteht, keine große Freude. Ohne das Gymnasium abzuschließen, wurde er Buchhändler, zunächst in Hermannstadt, dann in Laibach. Zurückgekehrt in seine Heimatstadt, gab er 1880 den Buchhändlerberuf auf und nahm die Stelle eines Beamten der Versicherungsgesellschaft ”Transsylvania” an, um später deren Direktor zu werden. Gleichzeitig war er Lokalreporter des Siebenbürgisch-Deutschen Tageblattes, der bedeutendsten Zeitung der Sachsen.
Vom unerwarteten Tode seiner Braut erschüttert, hat sich Sigerus nicht wieder zu einem Ehebund entschlossen. Er hat die Erfüllung seines Lebens im Sammeln und Erforschen von Zeugnissen der Volkskultur gefunden. Darauf hatte ihn sein Vater in Gesprächen und bei Fahrten aufs Land aufmerksam gemacht. Der Aufenthalt in Laibach und eine anschließende Studienreise nach Wien gaben ihm schließlich den entscheidenden Impuls. Zunächst sammelte er vor allem Keramik, Zinngefäße, bäuerliche Textilien (insonderheit Stickereien), Möbel, Gerätschaften. Es war höchste Zeit, daß sich jemand dieser Tätigkeit annahm, denn in immer mehr Bauern- und Bürgerhäusern wurde der angebliche ”alte Plunder” beseitigt, wodurch wertvolle Produkte der Volkskultur und des Kunstgewerbes dem Untergang geweiht waren. Bereits 1885 hatte Sigerus etwa 500 Objekte gesammelt, die den Grundstock des von ihm gegründeten ”Karpathen-Museums” bildeten. Das Interesse für diese Sammlung wuchs erst allmählich. Es vergingen mehr als 30 Jahre, bis 1918 das Brukenthal-Museum die von Sigerus zusammengetragenen Schätze übernahm. Seither bilden sie den Grundbestand der Volkskundeabteilung, die als solche 1957 eröffnet wurde.
Neben seiner Sammlertätigkeit, die Sigerus zeit seines Lebens fortführte und auch auf andere als die genannten Objekte richtete (z.B. Exlibris, Graphiken, alte Gemälde, Handschriften und anderes), entwickelte sich der Autodidakt zum Begründer der siebenbürgisch-sächsischen Volkskunde und zu einem anerkannten Fachmann auf diesem Gebiet. Sein besonderes Interesse galt den bäuerlichen Stickereien und Webereien. Um sie lebendig zu erhalten, gab er 1906 eine Bildmappe mit Siebenbürgisch-sächsischen Leinenstickereien heraus. Erst nachdem sich ausländische Fachleute lobend darüber geäußert hatten, gingen auch seinen Landsleuten die Augen auf. Man erkannte nämlich, daß hier ”ein großer ornamentalischer Reichtum aus halb Europa eine letzte Zuflucht gefunden hatte”, wobei die siebenbürgischen Stickmuster durch rumänische und ungarische Einwirkung und dem Abglanz orientalischer Teppiche sich bereichert hatten. Heute ist Sigerus außerhalb von Fachkreisen hauptsächlich durch diese Mappe ein Begriff. Sie erlebte zunächst in Siebenbürgen in mehreren Lieferungen bis 1939 drei Auflagen und erschien nach dem Krieg ab 1961 in München, Oxford und Innsbruck in vier Auflagen.
Dem Beispiel Sigerus folgend, gab die Lehrerin Herta Wilk in Rumänien in den 70er und Anfang der 80er Jahre zwei Mappen mit von ihr gesammelten siebenbürgisch-sächsischen Leinenstickereien und Webmustern aus der Gemeinde Tartlau heraus. Sie fanden eine dankbare Aufnahme. Dank der Sigerus- und der Wilk-Mappen wurde eine alte bäuerliche Handarbeit gerettet. Sie dienen heute sowohl in der Bundesrepublik Deutschland als auch in Siebenbürgen zahllosen Frauen als Vorlage für Stickereien.
Auf dem Gebiete der Töpferkunst ist es Sigerus gelungen, einige Zentren dieses bäuerlichen Handwerks in Siebenbürgen zu identifizieren und die sächsische Keramik zu klassifizieren. Ja er bewog sogar einen Agnetler Töpfer dazu, die Kunstgewerbeschule in Wien zu besuchen, um dem Hafnerhandwerk einen neuen Antrieb zu geben. Mittlerweile gibt es viele Sammler von Töpferwaren; Keramikkrüge, Teller, Schüsseln und anderes nehmen in vielen Museen einen Ehrenplatz ein. Und eine Fachwissenschaft beschäftigt sich mit diesem Kunsthandwerk.
Auch auf einem anderen Gebiet war Sigerus‘ Vorstoß bahnbrechend. Auf seinen vielen dienstlichen Überlandfahrten stellte er zu seinem Bedauern fest, daß man in einigen Ortschaften daran ging, die Wehranlagen der Kirchenburgen abzutragen, um Platz für einen neuen Schulbau oder ein Gemeindehaus zu schaffen und um Bausteine dafür zur Verfügung zu haben. Sigerus entschloß sich, durch einen Bildband auf diese Baudenkmäler aufmerksam zu machen. Der erschien im Jahre 1900 unter dem Titel Siebenbürgisch-sächsische Burgen und Kirchenkastelle, nachdem die darin enthaltenen Bilder vorher in einer Ausstellung in Hermannstadt gezeigt worden waren. Es handelt sich bei den Illustrationen um großformatige Fotoaufnahmen oder Zeichnungen der wichtigsten Kirchenburgen mit erklärenden Beschriftungen. Der Band wurde in mehrfacher Hinsicht ein großer Erfolg und erlebte fünf Auflagen. Zu seiner Genugtuung erreichte es der Verfasser, daß die Kirchenburgen unter Denkmalschutz gestellt wurden und daß der Gedanke des Denkmalschutzes immer mehr Befürworter fand. Durch Sigerus Bildbände wurde die Fachwelt auf diese, die siebenbürgisch-sächsische Landschaft prägenden Wehrkirchen aufmerksam, ja es bildete sich sogar die Meinung, daß es Kirchenburgen bloß in Siebenbürgen gäbe. Heute gilt Siebenbürgen jedenfalls als das klassische Land der Kirchenburgen. Auf engem Raum zeugen über 100 relativ guterhaltene Kirchenburgen von dem harten Existenzkampf der Siebenbürger Deutschen.
Sigerus schlug ferner die Gründung eines Vereins zur Förderung des Kunstsinnes und der Kunstbewegung vor. Der 1904 von ihm initiierte ”Sebastian-Hann-Verein” hat bis zu seiner Zwangsauflösung im Jahre 1946 eine segensreiche kunsterzieherische Arbeit geleistet.
Verdienste hat sich Sigerus, zusammen mit Dr. Karl Wolff und anderen Männern, auch um die Erschließung der heimischen Bergwelt und die Verschönerung von Hermannstadt erworben. Von 1881 bis 1901 war er Sekretär des ”Siebenbürgischen Karpathenvereins” und von 1914 bis 1921 Vorstand des Hermannstädter Verschönerungsvereins. Durch Veröffentlichung von Reiseführern über Siebenbürgen und Rumänien machte er auf touristische Sehenswürdigkeiten seines Landes aufmerksam.
Nicht unerwähnt sollen Sigerus‘ historischen, kulturgeschichtlichen und chronistischen Bücher über Hermannstadt bleiben. Hinzu kommen zahlreiche Aufsätze in Fachzeitschriften und populärwissenschaftliche Artikel in der Presse des In- und Auslandes aus seinem reichen Betätigungsfeld, wobei er auch auf die Volkskunst der Rumänen aufmerksam machte.
Am Ende seines schaffensreichen Lebens versuchte sich Sigerus auch auf dem Gebiet der Belletristik, nachdem er bereits 1890/93 den Text zu der Ballett-PantomineDas erste Veilchen, vertont von Josef Macsalik bzw. Berta Block, geschrieben hatte, die in vielen Aufführungen einen großen Erfolg erlebte. Es sind zwar keine literarischen Meisterwerke, die Sigerus hinterlassen hat, ihre Qualität liegt vielmehr darin, daß sie die schwer zu definierende, unverwechselbare siebenbürgische Heimatatmosphäre und ein Stück Vergangenheit lebendig werden lassen.
Emil Sigerus, der als bescheidener Autodidakt angefangen hatte, war, als er 93jährig starb, ein anerkannter Fachmann und geehrter Bürger seiner Heimatstadt, dem auch verschiedene Ehrungen zuteil geworden waren.
Werke:Siebenbürgisch-sächsische Burgen und Kirchenkastelle. 5 Aufl. Hermannstadt 1900 – 1923. – Siebenbürgen. Ein Handbuch für Reisende. Hermannstadt 1903. – Aus alter Zeit. 50 Bilder in Doppelton-Lichtdruck aus siebenbürgisch-sächsischen Städten. Hermannstadt 1904. – Siebenbürgisch-sächsische Leinenstickereien. 3 Aufl. Hermannstadt 1906 – 1939. 4 Aufl. München, Oxford, Innsbruck 1961. – Aus der Rumänenzeit. Ein Gedenkbuch an sturmbewegte Tage. Hermannstadt 1917. – Vom alten Hermannstadt. 3 Bde. Hermannstadt 1922-1928. – Durch Siebenbürgen. Eine Wanderung. Hermannstadt 1925, 1929. – Reisehandbuch für Großrumänien. Berlin 1925. – Chronik der Stadt Hermannstadt 1100 – 1929. Hermannstadt 1930. – Von alten Leuten und alten Zeiten. 2 Bde. Hermannstadt 1937; Neuauflage Bukarest 1969 (Hrsg. Viktor Teiß). – Volkskundliche und kunstgeschichtliche Schriften. Bukarest 1977 (Hrsg. Brigitte Stephani, mit einer biographischen Einleitung und einem Verzeichnis der Schriften).
Lit.: B. Stephani (s.o.) – Erna Bedeus: Emil Sigerus. Sein Leben und Werk. Bukarest 1958. – Michael Kroner: ”Gute alte Zeit”. Emil Sigerus – ein siebenbürgischer Volkskundler. In: Karpatenrundschau, Kronstadt, Nr. 12, 1972.
Bild: Emil Sigerus nach einem Gemälde von Trude Schullerus aus dem Jahre 1943.
Michael Kroner